Montag, 28. Februar 2022

Zeitenwende

 

Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in den letzten Tagen zu einer tektonischen Verschiebung der deutschen Innen- und Außenpolitik geführt, die - in meinen Augen korrekt - als "Zeitenwende" charakterisiert wurde. Der Schock des größten konventionellen Krieges seit 1945 in Europa hat bisherige politische Blockaden und ideologische Hausstände in einem Ausmaß weggewischt, für das es kaum Vergleiche gibt. Der einzige sich aufdrängende Referenzpunkt wäre der Atomausstieg nach Fukushima 2011, aber der betraf "nur" die CDU. Der Wandel dieser Tage erstreckt sich über mindestens drei Parteien. Auch wenn sicherlich einiges sich in den nächsten Monaten als heißer gekocht denn gegessen herausstellen wird, so sind bereits jetzt die greifbaren Effekte allein erschütternd. Noch vor zwei Wochen hätte niemand damit gerechnet. Woher kommt das?

Die russische Invasion in der Ukraine kam nun mit wesentlich größerem Umfang, als erwartet worden war, und das russische Verhalten war wesentlich aggressiver, als man es bisher gewohnt war (bis hin zur Erklärung höchster Alarmbereitschaft für die nuklearen Streitkräfte, ein deutliches Abschreckungssignal an den Westen und gleichzeitig ein Eingeständnis der eigenen Schwäche). Gleichzeitig erwies sich die Ukraine als wesentlich resilienter als erwartet, sowohl vom Westen als auch von Putin selbst. Anstatt wie 2014 angesichts der russischen Invasion klein beizugeben und einzunicken, wehrte sich die ukrainische Armee mit großem Elan, zeigte die Bevölkerung über soziale Netzwerke einen sprühenden Widerstandsgeist und stieß die russische Armee auf unerwartete Probleme. Diese Verzögerung des russischen Vormarsches einerseits und die Weigerung der Ukraine, sich zerstören zu lassen andererseits führten zu einem bemerkenswerten Umschwung der öffentlichen Meinung. Sehen wir uns einmal an, was passiert ist.

Das 2%-Ziel

Die Hälfte des deutschen Parteienspektrums hat sich bisher offiziell, die andere Hälfte de facto geweigert, das seit 2014 bestehende 2%-Ziel der NATO zu erfüllen. Die Ampel-Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag ein 3%-Ziel festgeschrieben, das Entwicklungshilfe einschließt, mit einer ziemlich klaren Perspektive auf 50:50-Finanzierung (und damit ein Unterschreiten der 2%-Grenze um 25%). Das Kabinett Merkel IV hatte zwar versprochen, irgendwann in ferner Zukunft die Grenze einzuhalten, aber konkrete politische Schritte unternommen, die perspektivisch zu einem leichten Rückgang der Verteidigungsausgaben von einem kurzzeitigen Hoch 2019/2020 (in der Ära Krampp-Karrenbauer) führten. Die Ähnlichkeit zur Herangehensweise an die Bekämpfung der Klimakrise und, wenn man ehrlich ist, jedes andere Problem in der Merkel-Ägide kommt nicht von ungefähr.

Das 2%-Ziel war in Deutschland, um es milde auszudrücken, politisch umstritten. Die LINKE lehnte es kategorisch ab. SPD und Grüne wollten nie soweit gehen, offen zu sagen, dass sie sich gegen einen NATO-Beschluss stellten, ließen aber ebenfalls wenig Zweifel daran, es nicht erfüllen zu wollen. CDU und FDP bekannten sich zwar rhetorisch dazu, stellten aber stets andere Prioritäten - vor allem den Schuldenabbau - stets höher. Und die AfD ist ohnehin unseriös, aber dazu später mehr. Es war daher kaum zu erwarten, dass ausgerechnet eine SPD-geführte Regierung es plötzlich einhalten würde. Gleichwohl haben die letzten Jahre bereits deutliche Verschiebungstendenzen in der Sicherheitspolitik gezeigt, die im typisch deutschen Gletschertempo demokratischer Veränderungen einen langsam, aber stetig steigenden Anteil der Verteidigungsausgaben bedingt hätten. Vermutlich hätte Deutschland das 2%-Ziel dann irgendwann 2045 erreicht. Mit solch entfernten Wegmarken haben wir ja unsere Erfahrungen.

Nun hat Bundeskanzler Scholz in einer bemerkenswerten Regierungserklärung angekündigt, einen Sofort-Haushalt mit 100 Milliarden Euro aufzulegen, um die Bundeswehr mit zusätzlicher Finanzierung auszustatten - zum Vergleich, der ganze Verteidigungshaushalt 2021 betrug gerade einmal 46 Milliarden Euro! Diese Geldmittel bedeuten effektiv eine sofortige Erfüllung des 2%-Ziels, vorausgesetzt, sie werden auch abgerufen.

Und da liegt der Hase im Pfeffer, denn die Bundeswehr hat ja keine schlüsselfertigen Ausgabenpläne für 100 Milliarden zusätzliche Euro in der Tasche liegen. Ob die Truppe überhaupt in der Lage ist, dieses Geld kurzfristig sinnvoll zu nutzen, ist unklar. Eine Ausweitung des ziemlich dünnen Personalbestands etwa, eine Priorität seit mehreren Jahren (die ja auch zu einer merklichen Ausweitung der Außenwerbung geführt hat), wird dadurch kaum berührt und bleibt eine Achillesferse. Ob die Unternehmen, die kleine Auftragsvolumen von der Bundeswehr gewohnt sind, überhaupt plötzliche größere Lieferungen leisten könnten, und was das dann für Lieferungen wären, ist ebenfalls unklar. Man möchte auch jeden Fall gerade nicht im BAAINBw (Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr) arbeiten, da dürfte jetzt ganz schön hektische Betriebsamkeit ausbrechen.

Aber ich kenne das Problem aus erster Hand: als der Bund zu Beginn von Corona Gelder für die Digitalisierung der Schulen bereitstellte, wurden diese häufig ebenfalls nicht abgerufen; nicht, weil der Bedarf nicht dagewesen wäre, sondern weil es a) keine Pläne, b) kein Personal und c) keine Kapazitäten der Dienstleister gab. Zudem waren die Gelder auf reine Beschaffung beschränkt, was die Frage im Raum stehen ließ, wer denn beispielsweise neu angeschaffte Laptops warten würde, oder mit welchem WLAN sie liefen. Je nachdem, wie die Ampel ihre 100 Milliarden strukturiert, könnten ähnliche Fallstricke auch für die Bundeswehr lauern. Ach, streichen wir den Konjunktiv: solche Fallstricke WERDEN lauern.

Man sollte über diesem Kleinklein aber nicht aus den Augen verlieren, dass gerade die gesamte deutsche Politik mit Ausnahme der LINKEn, die irgendetwas von den Gefahren eines Rüstungswettlaufs schwadroniert, einen Kurswechsel hingelegt hat, der den deutschen zum mit Abstand größten Verteidigungshaushalt der EU machen wird. Das ist eine radikale Abkehr von 30 Jahren Politik nach der Wende 1989/90. Die "Friedensdividende" ist endgültig Geschichte.

Der Nexus von Sicherheits- und Wirtschaftspolitik

Ebenfalls Geschichte ist die lange deutsche Sonderstellung bei der Rüstungsindustrie. Nachdem noch über große Teile des Jahresbeginns 2022 Deutschland international für Konsternierung sorgte, weil es sogar Lieferungen alter DDR-Restbestände in die Ukraine blockierte und seine Verbündeten schon gar nicht erst Überflugrechte beantragten, sondern lieber den Umweg über Dänemark und die Ostsee nahmen, wurden nun nicht nur Lieferungen modernster Panzer- und Flugabwehrsysteme für die Ukraine genehmigt; die EU kündigte sogar an, Kampfjets an die Ukraine zu liefern.

Damit ist das lang bestehende deutsche Dogma vom Tisch, wonach keine Waffen in Kriegsgebiete geliefert werden sollten. Dieses Dogma war ohnehin bereits zur Peinlichkeit verkommen, weil die deutsche Politik zwar Waffen an alle möglichen brutalen Diktatoren lieferte, aber sich weigerte, der Ukraine gegen Russland zu helfen. Das ist jetzt vom Tisch. Mittelfristig dürfte dies sowohl für die nationale als auch die europäische Rüstungsindustrie hilfreich sein, weil diese ohne solche Beschränkungen wesentlich größere Auftragsvolumina annehmen können; auch die Zukunft europäischer Rüstungsprojekte wie FCAS dürfte sich wesentlich unkomplizierter gestalten (gerade FCAS hat bereits jahrelange Verzögerungen hinter sich, weil Deutschland und Frankreich sich nicht über den Export einigen konnten).

Auch beim Thema Sanktionen hat Deutschland eine 180°-Wende hingelegt. Vor dem Wochenende des 26./27. Februar war die Bundesrepublik noch einer der Hauptbremsklötze für schmerzhafte Sanktionen gegen Russland; nun ging Deutschland voran und verkündete die Einstellung des Zertifizierungsverfahrens für Nordstream 2. Das Pipelineprojekt war ein überparteilicher Faktor der deutschen Politik, in dem von AfD bis LINKE (mit Ausnahme der Grünen) Konsens herrschte. Nun ist dieser Konsens dahin - viele Jahre zu spät, aber immerhin. Deutschland blockt zwar immer noch bei Sanktionen gegen das russische Energie- und Finanzsystem, aber angesichts der Abhängigkeit des deutschen Gas- und Ölmarkts von Russland ist das politisch nachvollziehbar, wenngleich trotz allem ärgerlich.

Das Hufeisen von Putins Klepper

Die Krise hat auch innerhalb der Parteien selbst zu einem massiven Wandel geführt, und es ist ein glücklicher Zufall der Geschichte, dass wir gerade die Ampel-Koalition an der Macht haben. Wäre die SPD in der Opposition, würde die Lage vermutlich wesentlich schwammiger sein. Gleichzeitig beweist die Krise, warum eine rot-rot-grüne Koalition völlig aussichtslos war. Unvorstellbar, dass mit so einer LINKEn Staat zu machen wäre. Entweder hätte es zu einer Paralyse Deutschlands geführt oder zu einem Koalitionsbruch. Und genau vor diesem Hintergrund habe ich auch im letzten Jahr auch stets betont, wie unrealistisch diese Koalition wäre, denn genau dieses Szenario musste allen Beteiligten stets vor Augen gestanden haben. Die Hysterie des bürgerlichen Lagers entlarvt sich da rückblickend selbst. -

Bleiben wir einen Moment bei der LINKEn. Die offensichtlichste Peinlichkeit war Sahra Wagenknecht, die sich in Talkshows noch einen Tag vor der Invasion als Putins Wasserträgerin gerierte und die ihre Verschwörungstheorien verkündete, wonach - irgendwie, ganz bestimmt - die USA Schuld sind, indem sie Putin quasi dazu zwängen, die Ukraine anzugreifen. Der Rest der Partei plapperte diesen Blödsinn in unterschiedlichen Schattierungen nach. Wagenknecht ist seither auf Tauchstation; man hörte, sie habe in der Fraktionssitzung hinter verschlossenen Türen erklärt, sich geirrt zu haben. Der Rest der Partei mäandert weiter umher. Stellvertretend sei nur diese Presseerklärung des Grauens zitiert, die sich wie ein Statement der CDU zu rechter Gewalt liest: ja, schon schlimm das mit Putin, aber der Westen! Mit dieser Partei ist kein Staat zu machen, und man kann nur hoffen, dass sie vollends in die Bedeutungslosigkeit abrutscht.

Es ist ja nicht so, als hätte Putin dann keine parlamentarische Vertretung mehr. Das pro-russische Hufeisen schließt sich mit der AfD, die genauso argumentative Verrenkungen hinlegt, dabei aber sogar noch ein paar Schritte weitergeht. Selbst die konservative NZZ erkennt an, dass die Rechtsradikalen noch schlimmer sind als die LINKE, und wer das Verhältnis der LINKEn zu Putin kennt, weiß, dass das etwas heißen muss. Es verwundert auch nicht. Keine Partei profitierte in den letzten Jahren so stark von russischer Einflussnahme wie die AfD. Ob Schützenhilfe im Wahlkampf 2017 oder seither, wo russische Desinformation läuft, ist die AfD nicht weit. RT ist quasi die Hauspostille. Anders als die LINKE, wo abseits Wagenknechts wenigstens bei einigen Abgeordneten Schamgefühle zu bestehen scheinen, wendet sich die AfD auch offen gegen die Ukraine selbst und nutzt den Bundestag als Arena für widerliche Zurschaustellungen. So blieben die AfD-Abgeordneten etwa als Einzige sitzen, als sich das Plenum demonstrativ zur Solidaritätsbekundung erhob, und fordern weiterhin, keinerlei Waffen zu liefern, Nordstream 2 fortzuführen und die Marionetten-"Volksrepubliken" anzuerkennen.

Die beste Opposition, die Deutschland je hatte und Schröders langer Schatten

Die CDU indessen findet sich in einer merkwürdigen Position. Sie hat sich jahrzehntelang als Partei der Bundeswehr im Speziellen und der wehrhaften Außenpolitik im Allgemeinen inszeniert und findet sich nun in der blöden Situation, in der Opposition gegen die schärfste Anti-Russland-Politik seit Adenauer zu stehen. Sachlich kann die Partei wenig kritisieren, denn zum 2%-Ziel hat sie sich rhetorisch immer bekannt, die Bundeswehr hat viele Verbindungen und die NATO war eigentlich stets Fixstern.

Dummerweise hat auch die CDU Nordstream 2 unterstützt. Bereits im Bundestagswahlkampf führte dies zu einigen Peinlichkeiten mit Armin Laschet, der hier wesentlich putinfreundlicher agierte als etwa sein innerparteilicher Konkurrent Friedrich Merz (der freilich auch nicht gerade als Nordstream-Falke aufgefallen wäre). Die Partei steht deswegen aktuell etwas blank da, weil sachliche Kritik praktisch nicht ansteht, aber man als Opposition ja schlecht einfach die Regierung unterstützen kann (solch verantwortungsbewusstes Handeln kommt nur bei SPD und Grünen vor).

In dieser Situation fällt die CDU auf ihre zwei Evergreens zurück: Kulturkampf und Schwarze Null. Friedrich Merz etwa versuchte im Bundestag den Sonderhaushalt für die Bundeswehr mit dem Argument des "Aber Schulden!" zu kritisieren, während einige andere in der CDU sich ein Beispiel an den Republicans und FOX News nehmen und die Schuld für das Drama bei den Progressiven suchen. Wo die LINKE und AfD also die USA Putin die Ukraine anzugreifen zwingen sehen, ist für diese Leute (natürlich) der Genderstern schuld, weil sie es schon gar nicht mehr gewohnt sind, irgendwelche anderen Themen in die Manege zu werfen:

Glücklicherweise ist das nicht repräsentativ für die ganze Partei, und es scheint, als ob der Großteil zufrieden damit ist, zu schweigen und die Koalition machen zu lassen. Viel bessere Optionen hat die CDU gerade auch nicht, wenn sie nicht auf den Scherbenhaufen der Merkel'schen Außenpolitik zurückkommen will - und man darf glaube ich mit Fug und Recht sagen, dass die CDU gerade auf nicht Vieles so wenig Lust hat wie eine weitere Runde Merkel-Vermächtnis debattieren.

Und damit wir uns recht verstehen: die Kanzlerin der letzten 16 Jahre ist für die Außen- und Verteidigungspolitik der letzten 16 Jahre verantwortlich, und ihre Partei mit ihr. Es ist nicht eben so, als hätten sich ihre jeweiligen Koalitionspartner in dieser Zeit mit Ruhm bekleckert, aber die Konzentration der außenpolitischen Kompetenzen im Kanzleramt (die Baerbock gerade mit gemischtem Erfolg rückgängig zu machen versucht) bedeutet eben auch, dass das direkt bei der Partei liegt, die die Schlüssel zu selbigem Kanzleramt in der Hand hielt. You break it, you own it.

Auch für die SPD bedeutet die Krise einen Rückgriff auf ein schmerzhaftes Trauma: die Schröder-Ära. Doch anders als in der endlosen, über ein Jahrzehnt dauernden Selbstbeschäftigung mit der Bedeutung der Agenda2010 einerseits und der (verständlichen) Zögerlichkeit der CDU, genau dasselbe mit der Merkel-Ära zu durchleben (nicht, dass es sich verhindern ließe...), scheint die aktuelle Krise für die SPD eher die Gelegenheit zum endgültigen Bruch. Die lange gemütliche Nähe der Partei zu Russland, vor allem Gazprom, hatte sich in Gerhard Schröder manifestiert. Der Altkanzler, schon immer ohne jede Scham, hatte sich in den letzten Jahren stets als oberster Lobbyist des Kreml inszeniert und machte darin auch in der Krise keine Ausnahme. Neben Wagenknecht steht wohl niemand so schlecht da wie er.

Für seine Partei ist das die Chance, die eigene Nähe zur Gaswirtschaft auf seine radikal unbeliebte Person zu projizieren und gleichsam für die ganze Partei zu exorzieren. Wer redet noch von Manuela Schwesig und der unangenehmen Nähe der mecklenburg-vorpommer'schen SPD zu all diesen Geschäften? Inzwischen kapriziert sich die Diskussion auf ein Parteiausschlussverfahren für Schröder. Scholz indessen, der sich im Wahlkampf bereits von jeder Verwicklung in CumEx, Panama Papers und Konsorten reinzuwaschen wusste, kann sich auch in dieser Angelegenheit als neuer Mann präsentieren, als wäre er nie vorher in Regierungsverantwortung gewesen. Und es scheint, als würde er damit durchkommen.

Dabei hat keine Partei die 2%-Maßgabe und Aufrüstung der Bundeswehr so effektiv blockiert wie die SPD. Über ein Jahrzehnt lang verhinderte die Partei stoisch die Einführung von Drohnen in die Bundewehr, dann die Einführung bewaffneter Drohnen. All diese Positionen sind mit einem Schlag vom Tisch. Die mantrahaft eingeforderte "Diskussion" über bewaffnete Drohnen wurde durch Putins Handlungen obsolet. Mit einem Schlag ist die SPD die Partei des 100-Milliarden-Haushalts für die Bundewehr, der größten einzelnen Aufrüstung seit dem NATO-Doppelbeschluss, wenn nicht der Gründung der Armee 1955 selbst. Rolf Mützenich, der neben Schröder und Wagenknecht eine der irrlichterndsten Figuren der letzten Wochen war, ist quasi völlig marginalisiert. Es bleibt abzuwarten, wie durchschlagend die Niederlage des alten Pazifistenflügels bleiben wird, aber die im Wahlkampf gezeigte Disziplin der Partei bleibt bemerkenswert intakt.

Die Fensterbauer

Die wenigsten Probleme brachte der Wandel ironischerweise für Grüne und FDP mit sich. Die Grünen finden sich bereits seit einigen Jahren in der merkwürdigen Lage, die Transatlantiker-Partei zu sein. Sie waren auch die Partei in Deutschland, die am entschiedensten gegen Russland war. Im Wahlkampf hatte Robert Habeck noch Kritik von SPD, CDU und LINKEn (sowie dem eigenen linken Flügel) erhalten, weil er Waffenlieferung für die Ukraine gefordert hatte. All das sieht nun ziemlich weitsichtig aus.

Auch die konstante Opposition gegen Nordstream 2 - als einzige der sechs Bundestagsparteien - zahlt sich für die Grünen aus. Wie viel davon strategische Überlegungen zur Abhängigkeit von Russland waren und wie viel die Weigerung, fossile Energien nach Deutschland zu holen, sei einmal dahingestellt - außenpolitische Vernunft und klimapolitische Haltung überlappen sich hier zu einer Position, die sich schlicht als die richtige herausgestellt hat.

Die Grünen finden sich damit zum zweiten Mal innerhalb von drei Monaten nach Eintritt in eine Bundesregierung in der Situation, einen radikalen Kurswechsel der deutschen Außenpolitik mitzutragen und mitzugestalten, der Deutschlands Verhältnis zum Einsatz von Militär grundlegend verändert. Dieses Mal allerdings sind wohl keine Farbbeutelwürfe auf Baerbock zu erwarten, wie sie Fischer noch erdulden musste. Zwar protestiert die Grüne Jugend wenig überraschend gegen den Politikwechsel, doch der Rest der Partei hält, ähnlich wie bei der SPD, die Füße still. Die Grünen haben sich bereits im Wahlkampf auf eine neue, wertebasierte Außenpolitik festgelegt, und die Ukraine-Krise ist die Probe aufs Exempel. Bislang haben sie hier eine sehr gute Figur gemacht.

Deutlich weniger gut sieht es für die Grünen auf dem Feld der Energiepolitik aus. Der mit ihnen verbundene Atomausstieg liegt in seiner desaströsen Form zwar durchaus vor Angela Merkels Tür, und die Partei hat das zweifelhafte Glück, seit 2005 nicht mehr in Regierungsverantwortung gewesen zu sein und deswegen nicht in der Schusslinie zu stehen. Aber die Situation dürfte für die Grünen noch problematisch sein. Die Regierung hat den Bau zweier neuer Flüssiggasterminals angekündigt, die Deutschland genauso wie Nordstream 2 noch auf Jahrzehnte an Gas als Energieträger festlegen; die CDU fordert bereits längere Laufzeiten für Kohlekraftwerke (natürlich) und wenn die Debatte über längere Laufzeiten für die Atommeiler noch seriös wird (aktuell ist sie eher auf Sommerlochniveau, weil die Energiekonzerne selbst sie ablehnen, aber das mag sich ändern) stehen der Partei noch einige unangenehme Diskussionen ins Haus. All diese Fragen liegen bei Robert Habeck, der keinen sonderlich beneidenswerten Posten innehat. Wie diese Quadratur des Kreises gelingen soll, dürfte auch ihm unklar sein, vor allem, weil kurzfristige Bedürnisse so sehr mit langfristigen Zielen kollidieren.

Ein unerwarterer Verbündeter ist da Christian Lindner. Ebenso wie die Grünen hat die FDP das Glück, für die desaströse deutsche Außenpolitik seit 2014 nicht mitverantwortlich zu sein; den Atomausstiegsausstiegausstieg von 2011 hält man ebenfalls nur Merkel und nicht ihr vor. Es ist das Glück Deutschlands, das die Partei gerade nicht nur in Regierungsverantwortung eingebunden ist und von Christian Lindner 2022 statt Westerwelle 2009 geführt wird, sondern der kontinuierliche Paradigmenwechsel auch neue Handlungsoptionen jenseits ideologischer Dogmen eröffnet hat - ganz ähnlich wie bei den Grünen. Es ist schwer vorstellbar, dass die Grünen von 1998 so souverän agieren würden wie die Grünen 2022, und es ist schwer vorstellbar, dass die FDP von 2009 so souverän agieren würde wie die von 2022.

Es war Christian Lindner, der Friedrich Merz' lahmer Kritik an der Schuldensituation entgegenhielt, dass Krisensituation eben besonderes Handeln erfordern und damit seine eigene Glaubwürdigkeit beim Thema "solider Haushalt" in die Wagschale warf. Schwer vorstellbar, dass ein grüner Finanzminister bei einer schwarz-gelben Opposition ähnlich große Glaubwürdigkeit und Spielraum besessen hätte.

Noch relevanter aber ist Lindners Rede von erneuerbaren Energien als "Freiheitsenergien". Mit dem beinahe schon gewohnten Pathos verknüpfte er damit den stets dehnbaren Freiheitsbegriff mit einem radikalen Politikwechsel. Wie substanziell dieser tatsächlich sein wird ist aktuell noch unklar, aber dass ein FDP-Chef sich in einer solchen Situation explizit zu erneuerbaren Energien als Zukunftsmittel bekennt, während die CDU noch Kohle- und Atomkraft als Ausweg anpreist, ist mehr als bemerkenswert. Und auch hier: die Partei selbst ist ruhig. Kein Vergleich zu den internen Aufständen gegen die Eurorettungspolitik, die die Partei nach 2010 zerrissen. Verantwortung für das Staatswesen allerorten.

Ausblick

Auch wenn es natürlich bedauerlich ist, dass es wieder einmal eine Krise brauchte, um überfällige Entwicklungen anzustoßen, so ist es doch gleichzeitig sehr erfreulich zu sehen, dass die deutsche Politik trotz aller Langsamkeit, trotz aller Blockaden in höchstem Maße handlungsfähig ist, wenn es zu einer Krise kommt. Dasselbe gilt auch für die EU. So ärgerlich die Selbstblockade und das Zögern innerhalb der Union über die letzten Monate auch war - die Zurschaustellung von geeintem Handeln ist unerwartet und höchst erfreulich. Es sei denn, man ist Putin; der Mann hatte offensichtlich eine wesentlich pessimistischere Sicht auf die innere Einigkeit der liberalen Welt. Es ist großartig, dass er sich darin so getäuscht hat.

Umso bedauerlicher ist natürlich, dass sich einmal mehr gezeigt hat, dass es die akute Krise braucht, um Handeln zu erzwingen. Noch vor zwei Wochen war es unvorstellbar, 60 Milliarden Euro in die Bekämpfung der Klimakrise und den Umbau der deutschen Energiewirtschaft zu stecken (und ist es, fürchte ich, immer noch). Der Haushalt, die Schwarze Null, Sie wissen schon. Wir werden wohl erst dann energische Maßnahmen gegen die Klimakrise unternehmen, wenn eine echte Krise ins Haus steht, oder, anders gesagt: wenn es zu spät ist.

Denn dasselbe trifft ja auch auf Russland und die Ukraine zu. Nordstream 2 hätte vor Jahren beendet werden müssen. Die Ukraine hätte bereits viel früher viel massivere Unterstützung erhalten müssen. Die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern hätte bereits viel früher, viel entschiedener angegangen werden müssen. Hätte all das Putins Angriff verhindert? Wer weiß. Aber es hätte Leid ersparen können. Und dass wir erst handeln, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, ist entmutigend - ganz egal, wie geeint und entschlossen wir dann handeln, wenn es schreiend im Wasser zappelt.

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