Im November wird in den USA gewählt. Wie alle zwei Jahre steht die komplette Neuwahl des Repräsentantenhauses sowie die Neuwahl eines Drittels der Senatssitze an. Da die Wahl nicht mit einer Präsidentschaftswahl zusammenfällt, sondern zur Halbzeit einer Präsidentschaft stattfindet, spricht man von den Midterm-Elections oder kurz Midterms. Die Partei, die das Weiße Haus kontrolliert, verliert hier so gut wie immer Stimmen - seit dem frühen 20. Jahrhundert konnte die Präsidentenpartei ihren Anteil nur dreimal steigern; in allen anderen Wahlen verlor sie. Oft genug erheblich. Zuletzt büßten die Republicans 2018 in der "blauen Welle" ihre trifecta, die Kontrolle aller Gewalten (Präsidentschaft, Repräsentantenhaus, Senat und Supreme Court) ein. 2014 verlor Obama den Senat, nachdem er 2010 in einem der größen blowouts aller Zeiten das Repräsentantenhaus verloren hatte. 2006 war Bush seine eigene Mehrheit verloren gegangen. Auch für Präsident Biden stehen die Chancen um einen Erhalt der eigenen, ohnehin hauchdünnen, Mehrheit schlecht.
Für dieses wiederkehrende Midterm-Muster gibt es strukturelle Gründe. Die Wahlbeteiligung bei den Midterms liegt deutlich unter der ohnehin nicht allzu hohen Wahlbeteiligung für die Präsidentschaftswahlen. Zudem sind Anhänger*innen der Regierungspartei üblicherweise erschöpft und unmotiviert. Die eigene Partei steht seit zwei Jahren in Regierungsverantwortung und kann die inflationierten Erwartungen notwendigerweise nicht erfüllen. Die ohnehin nie zufriedenzustellenden Basis-Aktivist*innen wenden sich enttäuscht ab und finden ihre Liebe zu Splitterfraktionen und Drittparteien wieder, während die Wechselwählenden (von denen es immer weniger gibt) dank ihrer geringen Aufmerksamkeitsspanne (Wechselwählende sind im Schnitt wesentlich schlechter informiert und weniger politisch interessiert als Parteianhängende) darauf hoffen, dass die andere Partei es besser machen könne, dass ein "Gegengewicht" einen Zwang zum "überparteilichen Kompromiss" erzeuge und dadurch irgendwie alles gut wäre - Erwartungen, die komplett naiv und unrealistisch sind und dennoch zuverlässig in jedem Wahlzyklus aufs Neue erwachen, oft genug auch von Journalist*innen verbreitet, die es echt besser wissen sollten. Aber politische Klischees sterben langsam.
Die Gegenseite zuletzt ist hoch motiviert. Während die letzten beiden Jahre für die Anhänger*innen der Regierungspartei wie eine Dauerenttäuschung wirken, bei der die eigenen Absichten im Kleinklein zerrieben und in die Mitte oder gar das politische Spektrum der Gegenseite gezogen wurden, ist für die Opposition eine Serie von zerstörerischen, extremen, die Nation in den Abgrund reißenden Entscheidungen getroffen worden, die die anstehende Wahl zur wichtigsten seit Menschengedenken machen. Auch im November 2022 werden diese grundlegenden Dynamiken in Kraft sein.
Und wie bei jeder Wahl werden spezifische Umstände auf das Ergebnis einwirken. Bei den anstehenden Midterms sind das vor allem zwei Themen.
Das eine ist die Abtreibungsdebatte. Die höflich gesagt umstrittene Entscheidung des Supreme Court früher in diesem Jahr, das Grundrecht auf Abtreibung abzuschaffen, hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, der weit über die Basis der Democrats hinausging und das Ansehen des Gerichts für eine Generation in den Keller gerissen hat (historisch genoss der Supreme Court, wie das BVerfG in Deutschland, wesentlich höheres Vertrauen als die demokratischen Institutionen; er ist seit Sommer auf dem gleichen, universell misstrauten und verachteten Niveau).
Das andere, wesentlich bedeutendere, ist die wirtschaftliche Lage, vor allem die Inflation. Wer auch immer im Weißen Haus sitzt, wird traditionell für die wirtschaftliche Situation verantwortlich gemacht, ob gut oder schlecht. Bill Clinton etwa konnte die Lorbeeren für die Konjunktur der 1990er einheimsen, mit der er wenig zu tun hatte, nachdem er wegen der Rezession von 1992 die Wahl gewann, mit der Bush wenig zu tun hatte. Die Vorstellung, dass Biden für eine Inflation verantwortlich wäre, deren Ursprung in einer globalen Pandemie und einem verbrecherischen russischen Angriffskrieg liegt, ist zwar absurd, aber normal. Es ist eine politische Dynamik, die so alt ist wie Politik selbst. Mal gewinnt man, meist verliert man damit.
Wenn man nur auf die Daten blickt, sieht die Lage oberflächlich eigentlich gar nicht so schlecht aus. Robert Shaprio schreibt etwa in "C’mon, Democrats. Tout Your Economic Record":
From January 2021 to mid-2022, the net wealth of the bottom 20 percent of U.S. households jumped $1.23 trillion, translating into an average of roughly $43,000 per household after inflation. The net assets of the next 40 percent of households similarly increased by more than $2.04 trillion, which translates into an average of nearly $35,900 per household after inflation. How did it happen? The paychecks from 10 million new jobs, the administration’s pandemic relief, and elevated saving rates in 2020 and 2021. Sure, more affluent Americans also have done well. The net assets of the top 40 percent of households—less the top 1 percent—increased by an average of nearly $52,500 after inflation. And per usual, the rich got richer: The average wealth of the top 1 percent has jumped $562,700 under Biden. But for the first time in memory, the wealth of households with relatively less income grew much faster than their higher-income counterparts. Here’s the Fed’s data: The value of the net assets of the lowest 20 percent of households by income jumped 36.2 percent, compared to 17.4 percent gains for the next 20 percent. The middle 20 percent enjoyed a 12.4 percent increase, while the top 60 to 80 percent saw a 4.6 percent wealth increase, and the top 80 to 99 percent witnessed a 3.5 percent increase in wealth. And the storied top 1 percent saw the value of their wealth grow 2.4 percent, a sliver of the percentage gains made by the poorest one-fifth of households. Here is the next economic talking point: Under Biden and a Democratic Congress, Americans at every income level are wealthier today, with lower-, moderate-, and middle-income households making the most significant gains.
Und das klingt natürlich alles erst einmal super, wenn man bereit ist, langweilige Zahlenkolonnen zu rezipieren und zu akzeptieren, dass die volkswirtschaftliche Lage und das eigene Empfinden zwei Paar Stiefel sind. Alleine, niemand wählt wegen der letzten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, sondern wegen dem eigenen Empfinden der Lage. Und das sieht, einmal abgesehen von den historisch hohen Inflationsraten, die die oben genannten Wachstumseffekte quasi auffressen, die Lage deutlich kritischer.
Hilfreich hierfür ist eine Reihe neuer Umfragen von YouGov. Nach diesen sind 65% der Befragten der Ansicht, dass sich die ökonomische Situation verschlechtere, nur 15% glauben, sie verbessere sich. Dass es "the economy, stupid" ist, bleibt 2022 genauso wahr wie 30 Jahre zuvor. Die Zahlen mögen zwar sagen, dass ich die Situation für die überwiegende Mehrheit verbessert. Aber diese überwiegende Mehrheit ist der Überzeugung, dass sich die Lage verschlechtert, und diese Überzeugung ist es, die zählt. Das ist völlig normal. Menschen sind notorisch schlecht darin, die ökonomische Lage abzuschätzen. Ein hohes Niveau, das stagniert oder sich verschlechtert, wird subjektiv als schlechter empfunden als ein niedriges Niveau, das sich verbessert. 2018 interessierte sich auch niemand dafür, dass die Wirtschaft unter Trump gar nicht so schlecht stand.
Noch dramatischer als diese abstrakte Größe wirkt sich für die Democrats der sehr reale Faktor der Benzinpreise aus. Ob in Frankreich (Gelbwesten), Deutschland (Tankrabatt) oder nun in den USA sind sie ein täglich sichtbarer, leicht verständlicher (wenngleich völlig in die Irre führender) Indikator für das generelle Preisniveau. Nirgendwo sonst lässt sich so leicht und transparent erkennenm ob etwas teurer wird. Steigen die Benzinpreise, sinken die Umfragewerte der Regierung. Anders als im August, als die Umfragewerte der Democrats stiegen und nur 13% der Menschen in Umfragen erklärten, die Benzinpreise in ihrer Umgebung nähmen zu, sind es nun 63%. Das ist absolut dramatisch und der wohl relevanteste Faktor für die sinkenden Wahlchancen der Democrats, die ohnehin nie besonders hoch waren.
Zwar machen "nur" 47% der Menschen die Democrats für die Probleme verantwortlich. Aber die umgekehrte Frage - haben die Democrats der Wirtschaft geholfen - beantworten nur 29% positiv. Und das wird sich wegen der eingangs erklärten strukturellen Benachteiligung der Regierungspartei bei den Midterms auswirken: die 47% der Leute, die die Democrats verantwortlich machen, sind motivierter bei der Wahl als die 29%, die ihre Arbeit gut finden, einmal abgesehen davon, dass es auch schlicht 50% mehr sind.
Auch beim zentralen Thema "Inflation" sehen die Umfragewerte für Bidens Partei düster aus. 68% der Befragten sind der Meinung, dass die Regierung "mehr tun könnte", um die Inflation zu bekämpfen. 45% geben Biden "sehr viel" Verantwortung für die Inflation, 28% "einiges", nur 8% "keine". Angesichts einer Inflation von rund 10% muss man kein*e Politikexpert*in sein, um sich ausmalen zu können, was das für die Entscheidung bedeutet, zur Wahl zu gehen oder nicht (denn, wie bereits betont: ein Wechsel der Partei kommt kaum mehr vor; es geht fast ausschließlich um Mobilisierung).
Eine gute Nachricht für die Democrats ist, dass auch nur 45% der Bevölkerung der Überzeugung sind, die Republicans würden der Wirtschaft wieder auf die Beine helfen; sogar ein wenig mehr sind der Überzeugung, dass sie schädlich wären. Allein, das mitigiert zwar etwas die Schäden aus den obigen Eindrücken, ist aber kaum dazu angetan, die Regierungsmehrheit zu erhalten.
Faszinierend dagegen ist, dass praktisch der gleiche Anteil an Befragten - 38% vs. 39% - glauben, die Wirtschaftspolitik der jeweiligen Partei helfe der Mittelklasse, während bei für die Democrats der gleiche Anteil, für die Republicans aber 63% (!) der Ansicht sind, sie helfe den Reichen. Letztere Einschätzung ist mit Sicherheit korrekt (und es ist bezeichnend, dass nach der Unterschicht überhaupt nicht gefragt wurde; diese spielt politisch einfach überhaupt keine Rolle). Auch hier allerdings bedeutet das hauptsächlich schlechte Nachrichten für Biden, denn die Republicans brauchen nicht mehr Problemlösungskompetenz, sie müssen nur als Blitzableiter für die Wut auf die Regierung bereitstehen.
Das Abtreibungsthema dagegen hat seinen Höhepunkt überschritten. Gaben im Sommer noch 59% der Befragten an, das Thema sei "sehr wichtig" für sie, sind es nun noch 54%. YouGov spricht hier davon, dass es "factored in" sei - die Mobilisierung ist hier effektiv abgeschlossen. Das verwundert nicht, denn auf beiden Seiten motivierte das Abtreibungsthema vor allem die jeweilige Basis, die bereits wesentlich früher vor der Wahl als durchschnittlich interessierte Wählende ihre Entscheidung getroffen beziehungsweise bestätigt haben. Deswegen bin ich auch sehr skeptisch gegenüber den ausgelutschten und klischeebeladenen Erklärungen, Identitätspolitik sei der Haupttreiber. Diese Wahl entscheidet sich vorrangig an der wirtschaftlichen Lage, und die ist, egal was demokratische partisans behaupten, schlicht nicht gut.
Wer im Übrigen denkt, meine Analyse der Polarisierung der US-Politik und der Vernachlässigbarkeit der Wechselwählenden sei übertrieben, sehe sich die folgenden Zahlen an. Jeweils rund 80% der Befragten, die sich mit einer Partei identifizieren, beschreiben die jeweils andere Partei als "extrem", während kaum 10% sie als "vernünftig" beschreiben. Dazu passt, dass 80% (Democrats) und 84% (Republicans) die jeweils andere Partei unter keinen Umständen wählen würden. Über 80% sehen die jeweils andere Partei als "extrem"! Das ist ein Grad gegenseitiger Abneigung, der hierzulande keinerlei Entsprechung hat, wo ja offen umstritten ist, ob die AfD dieses Label verdient.
Ebenfalls nicht besonders gesund für den Zustand der amerikanischen Demokratie generell ist die Mentalität der Wählenden. Als "wütend" beschreibt sich je die Hälfte der Befragten, als "enttäuscht" rund 40%. "Zufrieden" sind nur 11% (Democrats) beziehungsweise 7% (Republicans). Während es völlig normal ist, dass die Leute nicht mit der Politik zufrieden sind - wann sind sie das jemals irgendwo? - ist der hohe Anteil wütender Personen mehr als besorgniserregend. Diese Wut findet sich auf beiden Seiten, und man muss nur die obigen über 80% ansehen, um zu sehen, auf wen sich diese Wut richtet. Das ist eine Situation, die geradezu nach Eskalation schreit.
Die Democrats erwartet daher aller Wahrscheinlichkeit nach im November folgendes Szenario: der Verlust der Mehrheit im Repräsentantenhaus mit einer republikanischen Mehrheit von ungefähr 10-15 Stimmen. Die Kontrolle des Senats ist aktuell ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das praktisch 50:50 steht - ein Münzwurf und damit völlig unvorhersehbar. Gewinnen die Democrats den Senat, kann Biden wenigstens weiter Ernennungen durchführen. Aber der zu erwartende Verlust des Repräsentantenhauses bedeutet das Ende der eigentlichen Regierungsfähigkeit und den Beginn von Verfassungskrisen und offener Sabotage der Volkswirtschaft und des Staates durch die GOP, die hier, anders als ihre Gegner, keinerlei Hemmungen kennt.
YouGov rechnet zum Abschluss noch zwei abweichende Szenarien durch. Bei allen Vorhersagen muss man im Kopf behalten, dass die allermeisten Sitze bombenfest in den Händen jeweils einer Partei sind und die im Spiel befindlichen Sitze sehr, sehr knapp umkämpft sind. Geringe Ausschläge können dank des Mehrheitswahlrechts dramatische Schwünge verursachen.
Würde sich die Wahlbeteiligung junger Wählender auf dem Niveau von 2018 halten, würde das die Wahl des Repräsentantenhauses ebenfalls zum Toss-up machen. Das ist das absolute best-case- Szenario für die Democrats und erlaubt ihnen gerade eben die Chancen eines Münzwurfs. Die Basis für solche Hoffnungen ist dünn und basieren darauf, dass das Abtreibungsthema einerseits die Wählenden doch stärker mobilisiert als angenommen (und die Republicans weniger, was mehr als dubios ist) und dass eine einmal erfolgte Wahl - 2018 - eine erneute Wahl wesentlich wahrscheinlicher macht.
Wenn dagegen die Wahlbeteiligung auch nur marginal zu den Republicans schwingt, wird es wegen der vielen extrem knappen Wahlkämpfe einen blow-out auf dem Niveau von 2018 geben, mit einer Mehrheit von über 20 Sitzen für die GOP. In diesem Fall würden die Democrats auch den Senat verlieren. Dieses Szenario ist mindestens genauso wahrscheinlich wie der best case, eher mehr.
So oder so ist es wahrscheinlich, dass Biden ab Januar ohne eigene Mehrheit dasteht. Das erschwert die Unterstützung der Ukraine massiv, was den Kriegsverlauf dort erheblich für Putin beeinträchtigen dürfte. Die bereits angekündigte Sabotage der Volkswirtschaft und staatlichen Integrität durch die GOP, einerseits durch ein Verwehren eines arbeitsfähigen Haushalts und andererseits durch den Missbrauch des Justizsystems, dürfte eine Reihe innenpolitischer Krisen auslösen, die die Arbeitsfähigkeit der Regierung stark beeinträchtigen werden und auch zu diesem Zweck unternommen werden. Zudem werden die Republicans ihr bereits seit 2021 beschlossenes Programm der Wahlfälschung für die Präsidentschaftswahl 2024 vorbereiten. Die Aussichten sind nicht besonders erfreulich.
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