Montag, 31. Oktober 2022

Faust gibt Sahra Wagenknecht in der Deutschklausur Abzug, weil sie von Sebastian Kurz ein Alternativszenario für den Iran abgeschrieben hat - Vermischtes 31.10.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Kein „bok“ auf Faust I

In der bürgerlichen Presse ist seit Jahren eine Auseinandersetzung mit der Kritik zu lesen, unser Kanon sei zu weiß, männlich, heteronormativ, eurozentristisch, und das alles stimmt natürlich. Aber das Problem sind gar nicht „Faust I“ oder Goethe, und auch nicht Schiller, Lessing und wie sie alle heißen. Das Problem ist der Kanongedanke an sich. Und dieses Problem wird sich nicht lösen, indem wir den Kanon um ein paar diverse Quotenautor_innen erweitern. Denn der Kanon ist in sich eine elitäre Erzählung, die identitätsstiftend für bestimmte Schichten, ja gar für eine Nation ist, seine Bedeutung thront immer auch auf dem Stolz auf eine Zugehörigkeit zu diesen, und somit gehört er gänzlich abgeschafft – wenn wir denn den literarischen Werken auf ihm jemals gerecht werden wollen. Denn nicht nur die Schüler_innen müssen vom Kanon befreit werden, sondern auch die Texte selbst. Wie schön wäre es, wenn wir uns in der Schule unsere Lektüren selbst aussuchen könnten? Selbst herausfinden, welche Text uns interessieren und dann lernen zu formulieren, warum das so ist? Zwanzig Jahre habe ich gebraucht, um zu verstehen, warum ich dachte, der „Faust“ sei „bok“ – und warum er es möglicherweise doch nicht ist. (Fatma Aydemir, taz)

Ich kann Aydemir gar nicht genug zustimmen. Dieser verfluchte Kanon macht seit Jahrzehnten den Deutschunterricht kaputt. Das ist dezidiert kein Aufruf dazu, nichts mehr zu lesen das älter als 20 Jahre ist. Ich mag Faust sehr gerne. Nur ist diese Vorstellung normierter Lektüren ein echtes Problem. Hier in Baden-Württemberg sind die Lektüren nicht im Bildungsplan vorgeschrieben (wie in manchen anderen Bundesländern), aber die "Pflichtlektüren" (über deren fragwürdige Auswahl ich einmal geschrieben habe), die im Abitur Prüfungsgegenstand sind, erzwingen zumindest für die Jahrgangsstufen den Kanon, und effektiv auch mindestens für die Klasse 10/11, wenn man die Vorbereitung ernst nimmt. Wie auch bei Fundstück 3 ist meine Antwort auf diese Thematik mehr Freiheit. Freiheit für die Schulen, mindestens, aber eigentlich sogar Freiheit für die Lehrkräfte, diese Entscheidungen selbst zu treffen. Und diese sollten dann die Schüler*innen aktiv mit einbeziehen.

2) Der Albtraum aller Arbeitgeber

Der Klempner, so sagt es ein geflügeltes Wort der Gallier, verdient sich „goldene Eier“. Dennoch will niemand mehr Klempner sein. Aber auch Maurer, Koch und Kellner, Haushaltshilfe, Weinbauer, Busfahrer nicht. Die jungen Krankenschwestern arbeiten oft nur drei oder vier Jahre im Beruf. Mehrere tausend Lehrerstellen mussten mit Quereinsteigern besetzt werden, Hunderttausende von Jobs sind offen. Doch die Arbeitslosigkeit geht nur minimal zurück. Es ist der „Albtraum der Arbeitgeber“ [...] Es geht den Abgängern keineswegs um radikale Selbstverwirklichung. Wie vergiftet, erzählt ein junger Ingenieur, habe er nach dem Abschluss des Studiums geschuftet. Das Geschäftsviertel La Défense war seine Welt. Das künstliche Licht und die gefilterte Luft setzten ihm zu. Konkurrenz am Arbeitsplatz, Dichtestress im öffentlichen Verkehr. „Darunter litt das Privatleben“, vor einem Jahr hat er geheiratet, „jetzt erwarten wir unser erstes Kind“. Die angehenden Eltern wollen es in einer „gesunden Umwelt“ aufziehen. Sie verließen die Wolkenkratzer und gingen in die Berge. In der Provinzstadt Chambéry arbeitet der Ingenieur in der Logistik und bereut nichts: „Alles ist gelassener.“ [...] Die Ökonomen zumindest versuchen, die Panik der Wirtschaft zu besänftigen: Drei Prozent Kündigungen pro Jahr zeugen von einem vitalen, attraktiven Arbeitsmarkt. [...] Der Niedergang („décadence“) ist auch für Julliard unausweichlich. Bei ihm sind nicht die Sklaven, sondern die Eliten verantwortlich. Die Politik sei zum „Klientelismus“ verkommen, „er ist der Feind“. Der Staat und der Individualismus bildeten ein „teuflisches Paar“. Weit und breit kann Jacques Julliard keinen Politiker erkennen, der wie Charles de Gaulle im Dienst des Gemeinwohls handeln würde. „Reformen tun weh“ – auch Macron sei an ihnen gescheitert. „Die Mächtigen müssten mit gutem Beispiel vorangehen.“ (Jürg Altwegg, FAZ)

Ich bin zutiefst skeptisch gegenüber dem 2021 populär gewordenen Narrativ, dass es eine große Kündigungs- oder Jobänderungswelle gäbe. Der Diskurs kommt als "Great Retirement" aus den USA, und er wurde dort als genau der Nachrichtenzyklus-Hype entlarvt, der er vermutlich auch in Frankreich ist. Es ist eine verkleidetete Wiederkehr der ewig gleichen Narrative: die Leute (immer andere, nie man selbst) wollen nicht mehr "richtig" arbeiten, es gibt eine Hinwendung zu Werten wie Selbsterfüllung und Freizeit, und so weiter. Dran war zumindest in den USA nichts. Es ist effektiv Kaffeesatzleserei ohnehin dubioser Statistiken.

Auffällig ist auch, dass zwar immer wieder genannt wird, dass die Arbeitsbedingungen im höher qualifizierten Umfeld mit der persönlichen Lebensplanung kollidieren, daraus aber entweder keine Konsequenzen gezogen werden ("ist halt so", "ist unvermeidlich") oder wie oben Narrative eines Niedergangs gesponnen werden. Die viel gelobte Anpassungsfähigkeit der Marktwirtschaft greift hier aus irgendeinem Grund nicht - stattdessen ertönt der Ruf nach staatlicher Intervention, die natürlich (auch hier ein Klischee aller Reformdiskurse) "wehtun" muss. Auch hier natürlich immer nicht man selbst, sondern andere, wenngleich Julliard hier immerhin einen machtlosen Aufruf an die Eliten startet.

3) Schülervertreter fordern: Gendern darf in Prüfungen nicht als Fehler bewertet werden!

Nach Ansicht des Landesschülerbeirats Baden-Württemberg darf die Verwendung geschlechtergerechter Sprache in schriftlichen Prüfungen nicht als Fehler gewertet werden. Jeder Schüler und jede Schülerin solle selbst entscheiden können, ob er oder sie gendert, teilte das Gremium mit. Die GEW unterstützt das Anliegen. Es sei nicht mehr zeitgemäß, wenn Lehrkräfte Sternchen, Unterstrich oder Doppelpunkt negativ markierten. Vielmehr müsse die Akzeptanz für das Gendern steigen; Ziel sei, dass diejenigen, die gendern wollen, dies auch tun könnten, ohne dabei belächelt oder verurteilt zu werden oder sich rechtfertigen zu müssen, betonten die Schülervertreter. [...] Die Lehrergewerkschaft GEW befürwortet einen differenzierten Ansatz: Bei einem Diktat, bei dem die Rechtschreibregeln des Duden im Vordergrund stehen, müsse das Gendern anders bewertet werden als bei einer Textaufgabe in Mathematik oder in einem mehrseitigen Essay, bei dem kreative Freiheit möglich sein müsse. Das Thema sei auch nicht für die erste Klasse Grundschule geeignet, sondern eher für weiterführende Schulen, erläuterte ein GEW-Sprecher. «Wenn sich die Sprache verändert, muss sich auch die Schule damit auseinandersetzen.» Die Lehrer seien Profis genug, die richtigen Maßstäbe zu setzen. (News4Teachers)

Es ist leicht ironisch, dass im Titel nicht gegendert wird. Aber Scherz beiseite: ich unterstütze diese Forderung vollumfänglich. Weder sollten die Schulen den Schüler*innen (oder die Unis den Studierenden) vorschreiben zu gendern, noch sollten sie es als Fehler werten. Die im Artikel genannten Maßstäbe sind absolut sinnvoll und auch recht eingängig. Hält man sich mit Regulierungswut zurück, so wird sich da dank der Professionalität der Beteiligten ziemlich schnell ein Modus Vivendi herausschälen, der völlig problemlos ist und weder den gesellschaftlichen Wandel vorwegzunehmen noch zu behindern versucht.

4) The Wreckage of Neoliberalism

For millions of Americans—especially those who don’t live in the high-income urban mega-economies—it feels like life itself is unspooling. This sense of dislocation is what Donald Trump’s politics of grievance seized upon when he launched his campaign for the presidency in 2015. He offered easy scapegoats—immigrants, Muslims, and economic elites—to blame for the loss of meaning and economic autonomy felt by many Americans. He signaled an intent to break America apart from the world economy and the international order. He railed against the technology companies that had seemed to replace families and churches as the new enforcers of moral order. Tragically, it worked. And frankly, given that Trump is running even with President Joe Biden in a hypothetical 2024 matchup, it’s still working. [...] Although Trump’s anti-neoliberal messaging has been successful, his policies have never matched his rhetoric. By the time he left office, there were fewer, not more, well-paying manufacturing jobs in America. Trump did nothing to curb corporate excess or restore power to families and workers—his primary domestic legislative accomplishment was a tax cut in which 83 percent of the benefits would go to the same 1 percent of the population he attacked in his speeches. [...] Democrats would also be wise to address Americans’ other complaints with postwar neoliberalism. For instance, Democrats, not Republicans, are the natural party to make sure that technology works for people, instead of people working for technology. Republicans’ hostility toward regulation will make them allergic to setting new rules for social media. But the fact is that no technology company should be so big that a single CEO’s decision about an algorithm moves markets or redefines political conversation. (Chris Murphy, The Atlantic)

Ich würde den Begriff des "Neoliberalismus" nicht mehr verwenden, das ist nur noch ein linker Kampfbegriff ohne jeden Inhalt, den man einfach auf alles draufklatschen kann, das man ablehnt - ungefähr so, wie viele Rechte "Sozialismus" oder "Planwirtschaft" nutzen. Inhaltlich bin ich völlig bei Murphy; die Konzentration auf wirtschaftliche Themen scheint mir angebracht, gerade angesichts der sehr guten Regierungsbilanz der Democrats und der weit weniger überzeugenden Bilanz republikanischen Wirtschaftens. Ob in den Bundesstaaten oder auf der nationalstaatlichen Ebene liefern die Democrats seit Bill Clinton hier wesentlich überzeugender.

Was die ganzen Diversitätsthemen angeht, ist mein aktueller Eindruck folgender: das ständige Gerede von "woke" (siehe dazu auch Fundstück 9) ist mittlerweile eine solche Obsession auf weiten Teilen der Rechten geworden, dass es völlig unnötig ist, von progressiver Seite darüber zu sprechen (was ja die meisten auch gar nicht machen; von Keir Starmers Labour über Scholz' SPD zu Bidens Democrats gibt es praktisch keine Äußerungen dazu; im progressiven Lager sind das vor allem die (allerdings lauten) Aktivist*innen. Da durch den unsäglichen Diskurs ohnehin eingepreist ist, dass alle vage progressiven Kandidat*innen völlig unabhängig von ihren Positionen auf jeden Fall radikale Woke sind, können die Democrats ihre "street cred" bei dem Thema einfach als gegeben annehmen und versuchen, über andere Themen zu sprechen.

Genau das scheinen sie mir auch zu tun. Nur, das "wie" ist nicht eben leicht. Es ist eine Sache zu sagen "Hey, es wäre echt gut für uns, wenn der Diskurs sich um X drehen würde!" und es ist eine völlig andere Sache, das hinzubekommen. Einerseits torpedieren die genannten Aktivist*innen das immer wieder, weil sie die Gemäßigten zu Stellungnahmen zwingen, die notwendig immer wischi-waschi sind - man unterstützt ja irgendwie das Anliegen, aber nicht in der Form, blablabla. Andererseits haben Politiker*innen nicht unter Kontrolle, über was Medien berichten und was bei den Wählenden ankommt, ganz egal, wie lange sie wo sprechen. Das sieht man immer und immer wieder.

5) Warum die AfD die Linke Sahra Wagenknecht fürchtet

Alarmiert haben dürfte Weidel nicht zuletzt eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa im Auftrag der "Bild"-Zeitung: Wagenknecht ist demnach die beliebteste Politikerin Deutschlands, beliebter als alle Minister der Ampelkoalition. Nur ein Mann, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, schneidet noch besser ab als Wagenknecht. Die Umfrage liefert gerade auch für die AfD brisante Details: So ist Wagenknecht bei deren Wählern die zweitbeliebteste Politikerin, direkt hinter Alice Weidel. Erst auf Platz drei folgt Tino Chrupalla, Weidels Co-Partei- und Fraktionschef. Schlimmer noch aus Sicht der AfD: 63 Prozent ihrer Wähler fänden es demnach gut, wenn zur Bundestagswahl eine Partei mit Sahra Wagenknecht als Spitzenkandidatin anträte. [...] Für den Politikwissenschaftler und AfD-Beobachter Johannes Hillje sind Weidels Sorgen nachvollziehbar. Wagenknecht propagiere Grünen-Bashing, Antiamerikanismus, Putin-Nähe und arbeite angesichts der Russland-Sanktionen am Narrativ eines Wirtschaftskriegs der Bundesregierung gegen die eigene Bevölkerung und Industrie. Das sei nichts anderes als das, was die AfD mache. "In vielen Punkten ist Wagenknechts Populismus schon lange nicht mehr von dem der AfD zu unterscheiden", so Hillje. [...] Experte Hillje schätzt: Wäre Wagenknecht zur AfD gewechselt, hätte die Partei wohl am stärksten profitiert. Denn der AfD fehle, was Wagenknecht biete: eine starke Führungspersönlichkeit. "Kein Höcke, kein Chrupalla, keine Weidel kommen an das Charisma und die rhetorischen Fähigkeiten von Sahra Wagenknecht heran." [...] "Wagenknecht ist mittlerweile eine Ikone im rechtsradikalen Milieu, sie wird dort regelrecht vergöttert", sagt Hillje. "Sie gilt als Kronzeugin der etablierten Parteien." [...] Am Ende dürfte das größte Hindernis für eine Wagenknecht-Partei aber wohl vor allem Wagenknecht selbst bleiben. Sie gilt als eher schwache Netzwerkerin und als jemand, der auf eigene Auftritte fokussiert, aber nicht an der oft nervenaufreibenden Parteiarbeit interessiert ist. (Annika Leister, t-online)

Ich hoffe ja wirklich, dass Sahra Wagenknecht eine eigene Partei gründet. Die LINKE, die Wagenknecht-Partei (Aufstehen für Deutschland?) und die AfD können dann jeweils 4,7% der Stimmen einfahren. Das wäre echt der Best Case für die ganze Republik. Aber vermutlich wird aus den letztgenannten Gründen im Artikel da eh nichts draus. Wenn Wagenknecht ihre Grenzen nicht aus dem #Aufstehen-Desaster gelernt hat, dann weiß ich auch nicht.

Interessant ist aber ihre unglaubliche Beliebtheit bei den Rechten. Überraschend ist das nicht; Partei-Renegaten werden im gegnerischen Lager immer geliebt. Konservative mögen Boris Palmer und Thilo Sarrazin, Progressive Andreas Püttmann und Heiner Geißler, und so weiter. Dass Wagenknecht inzwischen de facto die Positionen der AfD vertritt, dürfte Anhänger*innen der Hufeisentheorie auch Freude bereiten. Überraschend ist auch das nicht. Oskar Lafontaine etwa war auch schon immer ziemlich gut darin, dieses Genre mit zu bespielen, und vielleicht war es auch die Basis früherer linker Erfolge. Ob das Konzept heute noch tragfähig ist, wage ich aber zu bezweifeln.

6) In einer toxischen Beziehung mit Sebastian

Blockieren, Mauern, Vernebeln, das ist die panische Strategie der ÖVP, die gar nicht merkt, dass sie umso tiefer im Sumpf versinkt, je mehr sie hysterisch strampelt. [...] Die ÖVP ist kopflos, reagiert nur mehr instinktiv. Der Instinkt sagt: Abstreiten, andere angreifen, Vorwärtsverteidigung. Sie ist panisch und in einem Tunnelblick. Man kann das verstehen. Solange sie nicht den Befreiungsschlag schafft und aus dem Tunnel herauskommt, ist das die aus ihrer Sicht naheliegende Reaktion. Jeder sieht, so kommt sie nicht mehr raus – nur die Partei selbst nicht, weil sie die Realität nicht richtig wahrnimmt. Weil sie nicht mehr checkt, wie es eigentlich um sie steht. Dass die gegenwärtige Lage so ist, dass du nur mehr mit ehrlichem Aufräumen aus der Kacke raus kommst, nicht mehr mit Abstreiten. [...] Doch die bittere Wahrheit ist: Es wurden Dinge gedreht, manche größer, manche kleiner, die sich aber zu einem Gesamtbild summieren. Selbst wenn keine einzelne für sich genommen eine große Sache war, summiert sich alles zu etwas bisher nie Dagewesen. Sie hat sich einem Blender an den Hals geworfen, der wie Trump, Johnson, Orban und Co. fest überzeugt war, dass für ihn keine Regeln gelten, dass der Erfolg alles rechtfertigt. Sie hat sich euphorisch auch auf einen scharfen Rechtskurs führen lassen, der die Polarisierung, Hader und Zerrissenheit in der Gesellschaft vergrößerte, kalt die eigenen Vorteile kalkulierend, was zugleich eine Atmosphäre des inneren Bürgerkriegs verbreitete, in dem auch das Unerlaubte als lässliche Sünde erscheint, da ja der Sieg das ist, dem alles unterzuordnen ist. Man hat die gesetzliche Wahlkampfkostenobergrenze beinahe um das Doppelte (!) überschritten, man hat mit gefakten Umfragen gearbeitet, den Gegner mies gemacht, Steuergelder zugleich zweckentfremdet, um sich feiern zu lassen. Man hat den Staat als Eigentum behandelt. Man hat die Wahrheit verdreht, wie man es brauchte. Man hat die absurdesten Dinge behauptet, und darauf vertraut, dass Wahrheit und Lüge ja nur zwei Meinungen seien, und da kann ja jede etwas für sich haben. Man betrieb Politik mit Gefühlen, vornehmlich mit miesen, mit Aufhussen und Gemeinheit. Als man die Macht erobert hatte, übte man sie hemmungslos aus, drohte der Zivilgesellschaft, setzte die kritischen Künstler in Angst und Schrecken, organisierte sich gewogene Berichterstattung und bedrohte kritische Journalisten, wechselte sie dort aus, wo man direkt oder indirekt Zugriff hatte, und winkte mit dem ökonomischen oder juristischen Zaunpfahl, wo man eine gewisse Anpassung an die neuen Verhältnisse bewirken wollte. Das Land war nicht nur in der Hand einer Clique, sondern auf einer schiefen Bahn ins Autoritäre, die nur durch den Glücksfall der Ibizaenthüllungen gestoppt wurde. Sebastian Kurz hat zur Absicherung seiner Herrschaft einen schleichenden Staatsstreich begonnen, und die ÖVP, glückselig über den Erfolg, hat dazu gejubelt. Der Staatsstreich hat nur nicht funktioniert. Wegen Ibiza und den Dummheiten von HC Strache und Johann Gudenus. Die Maß- und Ruchlosigkeit der Machtausübung durch die Kurz-Truppe ist vom Rechtskurs und der Politik der Niedertracht nicht zu trennen. Und insofern sind auch die Affären und Gesetzesbrüche, die jetzt untersucht werden, keine „Einzelfälle“ im Rahmen einer Politik des üblichen Unsauberen. (Robert Misik, Vernunft&Ekstase)

Die Korruption in Österreich ist ein ganz eigenes Kapitel, und sie ist wahrlich nicht auf die ÖVP begrenzt. Aber Sebastian Kurz und seine Bagage scheinen das schon auf ein ganz neues Level getrieben zu haben. Was mich irritiert und ehrlich gesagt auch erschreckt ist, wie wenig Österreich generell bereit zu sein scheint, Lehren aus dieser Geschichte zu ziehen. Was Misik hier anspricht - die Einflussnahme auf Medien, die Unterdrückung abweichender Meinungen, etc. - geht eben über persönliche Bereicherung und Proporz-Mauscheleien hinaus. Gibt es irgendeine Vorstellung, wie man das künftig vermeiden will? Eine Stärkung der Resilienz von Rechtsstaat und Demokratie? Da scheint die Versuchung, das alles auf Kurz zu schieben und für beendet zu erklären, wesentlich stärker zu sein. Mal sehen, ob der anstehende Prozess gegen Kurz da angetan ist, die Türen zu dem Stall aufzustoßen und durchzulüften. Ich bin nicht sonderlich optimistisch. Wahrscheinlich steht mir Wirecard zu sehr in Erinnerung.

7) Britain and the US are poor societies with some very rich people

Starting at the top of the ladder, Britons enjoy very high living standards by virtually any benchmark. Last year the top-earning 3 per cent of UK households each took home about £84,000 after tax, equivalent to $125,000 after adjusting for price differences between countries. This puts Britain’s highest earners narrowly behind the wealthiest Germans and Norwegians and comfortably among the global elite. So what happens when we move down the rungs? For Norway, it’s a consistently rosy picture. The top 10 per cent rank second for living standards among the top deciles in all countries; the median Norwegian household ranks second among all national averages, and all the way down at the other end, Norway’s poorest 5 per cent are the most prosperous bottom 5 per cent in the world. Norway is a good place to live, whether you are rich or poor. Britain is a different story. While the top earners rank fifth, the average household ranks 12th and the poorest 5 per cent rank 15th. Far from simply losing touch with their western European peers, last year the lowest-earning bracket of British households had a standard of living that was 20 per cent weaker than their counterparts in Slovenia. Please use the sharing tools found via the share button at the top or side of articles. It’s a similar story in the middle. In 2007, the average UK household was 8 per cent worse off than its peers in north-western Europe, but the deficit has since ballooned to a record 20 per cent. On present trends, the average Slovenian household will be better off than its British counterpart by 2024, and the average Polish family will move ahead before the end of the decade. A country in desperate need of migrant labour may soon have to ask new arrivals to take a pay cut. Across the Atlantic it’s the same story, only more so. The rich in the US are exceptionally rich — the top 10 per cent have the highest top-decile disposable incomes in the world, 50 per cent above their British counterparts. But the bottom decile struggle by with a standard of living that is worse than the poorest in 14 European countries including Slovenia. (John Burn-Murdoch, Financial Times)

Irgendjemand hat letzthin Großbritannien als "DDR mit Wasser außenrum" bezeichnet. Das ist natürlich schon wegen der Freiheitsrechte ein überzogener Vergleich, aber ein Qualitätsunterschied zwischen Großbritannien und dem Großteil des Kontinents scheint mir schon zu bestehen. Es ist dasselbe wie in den USA: die große wirtschaftliche Freiheit hat einfach die Schattenseite, dass es am unteren Ende der Gesellschaft wesentlich rauer zugeht als anderswo. Das war schon immer so. Eine historische Anekdote zu dem Thema: die britische Armee im Ersten Weltkrieg war die einzige an der Westfront, bei der es dem Großteil der Soldaten BESSER ging als im Zivilleben. Nicht, weil die britische Armee eine so tolle Versorgung hatte, sondern weil die davor so schlecht war. Das kann man an der durchschnittlichen Körpergröße der Soldaten gegenüber Franzosen oder Deutschen ebenso festmachen wie an Zahngesundheit und vielen anderen Faktoren. Natürlich kann jede Gesellschaft sich entscheiden, dass es ihr das wert ist, und das tun die angelsächsischen ja auch mit schöner Regelmäßigkeit. Aber man sollte nicht leugnen, welchen Preis diese Art der Freiheit fordert.

8) Was heißt "Singularität des Holocaust"?

Es ist deutlich, wie sehr dieser mehr politische als wissenschaftliche Historikerstreit von der damals noch herrschenden Systemkonkurrenz, vom Denken in den Kategorien des Kalten Krieges, geprägt war. Den Hintergrund für die öffentliche Debatte bildete jedoch vor allem die Befürchtung, dass der politische und kulturelle Aufbruch, der vom Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt 1969 ausgegangen war, durch eine nationalkonservative Geschichtspolitik zurückgedrängt werden könnte. Die Regierung Helmut Kohls schrieb seit ihrem Amtsantritt im Herbst 1982 die Forderung nach einer »geistig-moralischen Wende«, die Rückgewinnung konservativer Werte und nationaler Selbstvergewisserung auf ihre Fahnen. [...] Grund genug also, dass linksliberale Intellektuelle fürchteten, die »geistig-moralische Wende« ziele auf die Renaissance eines nationalistischen Selbstverständnisses der (west-)deutschen Gesellschaft, mit dem unter die NS-Vergangenheit der berühmte Schlussstrich gezogen werden sollte. Dieser Historikerstreit, der in der Tat nahezu ausschließlich von Männern geführt wurde, endete bekanntermaßen mit einem klaren Sieg der Linksliberalen. Ein Vergleich des Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden mit anderen Genoziden, hier vor allem mit den Massenverbrechen des Stalinismus, wurde fortan zurückgewiesen, weil damit der mögliche Anspruch einer Gleichsetzung verbunden sei. Der Holocaust wurde »einzigartig«, und zwar primär aus politischen Gründen. [...] Der damalige Deutungskonsens von der Singularität des Holocaust, dem sich im Kontext der deutschen Einheit auch die Konservativen anschlossen, ging einher mit einer »Verstaatlichung« der Erinnerungspolitik. (Michael Wildt)

Diese Betrachtung des Historikerstreits ist nur der Einstieg in einen kompletten Vortrag Wildts zum Thema, den ich zur kompletten Lektüre unbedingt empfehle. Ich wollte allerdings diesen Passus herausnehmen, weil ich ihn aus mehreren Gründen für interessant halte. Einerseits arbeitet Wildt sehr gut die politische Dimension der Erinnerungspolitik heraus, die auf beiden Seiten galt. Nolte versuchte eine konservative Umdeutung (in diesen Jahren begann die Auseinandersetzung mit dem Holocaust überhaupt erst ernsthaft), während Habermas dagegen hielt, um eine liberale Vision zu stützen. Beide Seiten rangen um die Deutungshoheit.

Es ist ironisch, dass ausgerechnet der Verursacher des Streits - Nolte - ihn so krachend verloren hat. Wildt arbeitet schön heraus, wie die Singularität des Holocaust überhaupt erst aus seinem Generalangriff entstand und dann sogar für die Konservativen selbst common sense wurde. Die größte Ironie liegt für mich darin, dass die Singularitätsthese, 30 Jahre lang erbittert und sogar strafrechtlich abgesichert als Staatsräson verteidigt, der wohl größte Triumph der linksliberalen Intellektuellen, nun wiederum von linksliberalen Intellektuellen in Frage gestellt wird, während ausgerechnet Konservative ihn erbittert verteidigen. So haben sich die Frontstellungen gedreht. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal in der Geschichte.

9) Gärung und Grundsatz

Es gab mal eine Zeit, da war Andreas Rödder der geistreichste Konservative in Deutschland. Das ist in der jüngeren Geschichte unseres Landes mal mehr, mal weniger schwer zu erreichen gewesen, aber bei Rödder waren es immerhin ein paar Jahre, in denen man sich für spannende, interessante, herausfordernde Perspektiven an seinen Output wenden konnte. [...] In der letzten Zeit hat sich Rödder, auch wenn er das selbst weit von sich weisen würde, radikalisiert und damit banalisiert: Hinter den Satzbausteinen des geübten Autoren stehen immer häufiger doch nur dieselben Ressentiments über alles, was als links angenommen wird, insbesondere die beiden großen Schreckgespenster des rechten und „liberalen“ Establishments: Grüne und sog. „Woke“. Aus dem konstruktiven Konservativen ist ein zynischer Kulturkämpfer geworden. Man kann das an verschiedenen Entwicklungen ablesen. [...] Das hat alles nichts mehr mit einem Ausloten gesellschaftlicher Debatten zu tun, hier geht es um einen Kampf um Hegemonie, um die Vernichtung eines politischen Gegners, die Majer und Gröpl angeblich selbst befürchten. Es ist ein Tiefpunkt der Diskussion, die asymmetrisch geführt wird zwischen üppig von der öffentlichen Hand finanzierten Professor:innen mit Zugang zu gedruckten Feuilletons auf der einen und budgetlosen Aktivist:innen auf der anderen Seite, die durch Soziale Medien erstmals Zugriff auf die sonst in Privathand befindlichen Mittel der Massenkommunikation haben. Ein solch ungleicher Kampf um die öffentliche Meinung lässt sich für die Privilegierten (allein das auszusprechen scheint schon eine Unverschämtheit) nur gewinnen, wenn sie sich gleichzeitig zur wahrgenommenen Minderheit und schweigenden Mehrheit erklären, wenn sie die schlimmsten der (zweifelsohne vorkommenden) Unflätigkeiten von Twitter aufpusten, von den Beleidigungen der Mitglieder des eigenen Netzwerks aber wohlfeil schweigen. (Moritz Hoffmann, Schicht im Schacht)

Ein gutes Beispiel für die von Hoffmann genannte Obsession findet sich im Programm dieser Tagung. Was hier stattfindet ist ein Mechanismus, den ich schon oft beobachten konnte und der auch völlig farbenblind ist. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit bei den NachDenkSeiten und Co. Was mit einer begründeten Kritik am Mainstream beginnt - Albrecht Müller hatte ja 2004 nicht Unrecht damit, dass die Medien alle einseitig in eine Richtung berichteten, auch wenn das diejenigen, die das heute von rechts tun, immer noch gerne verdrängen - wird schnell immer stärker. Die Thesen werden absoluter, die Idee der "kritischen Gegenöffentlichkeit" (oder wie auch immer man das dann nennt) immer abgeschotteter und sektenartiger, der Kampf immer totaler. Und irgendwann bist du eine Karikatur deiner selbst. Man sieht das auch gut bei Leuten wie Reichelt, der den Prozess mittlerweile hinter sich hat, und ich sehe etwa Anna Schneider und Ulf Poschardt auch stark von dieser Dynamik gefährdet. Oder man nehme Richard David Precht. Die machen alle ihre Kohle damit, grundsätzlich dagegen zu sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass man da irgendwann übertreibt, ist sehr hoch. Nicht garantiert, aber sehr hoch.

10) The West Should Be Ready for All Scenarios in Russia and Iran

Those examining the trajectory of events in Iran or Russia today should not fall prey to overoptimism that a sudden outbreak of popular revolt will bring down regimes that have brutally repressed domestic dissent and waged vicious military operations in other countries. But it is nonetheless essential to look out for possible signals that the systems governing societies of such enormous geopolitical importance might be approaching a point of no return. [...] Rather than dismissing out of hand the possibility that they will fall, analysts should instead engage with developments in Russia and Iran through the lens of multiple potential scenarios, each depending on various social factors, with an emphasis on how future developments will be shaped by the shifting power balances within these two weakening authoritarian systems. With developments across Europe and Eurasia in such a state of flux, it is also important to confront head on the uncertainty that a potential fragmentation of both countries’ state and social structures would create. [...] Having well-resourced contingency plans in place is particularly important if one considers one of the other crucial lessons for the West from the collapse of the Soviet Union and the shah’s regime. In both cases, activists and prominent political figures initially emerged who backed full democratization and friendly relations with the West. Yet over time, they were overwhelmed and either purged or exiled by other factions that, thanks to support from security services and corrupt economic networks, were better positioned to seize the levers of power. (Alexander Clarkson, World Politics Review)

Alex Clarkson (mit dem wir schon dreimal im Podcast gesprochen haben, zuletzt über Italien) hat hier einen wichtigen Punkt. Die Zukunft ist inhärent unsicher, und gerade weil schlicht unklar ist, wie explosive Situationen wie in Russland und Iran sich verändern, sollte man verschiedene Szenarien durchplanen. Es ist durchaus möglich, wenngleich nicht sehr wahrscheinlich, dass es zu einem Umsturz und der Etablierung pro-westlicher Regime in beiden Ländern kommt. Da sollte man dann wissen, wie man denen entgegenkommt und gleich ein Hilfspaket parat haben (gut investiertes Geld, bedenkt man, was mit Iran 1979 und Russland seit 2000 geschehen ist). Genauso sollte man auf eine neue Welle Repression und eine VERSCHÄRFUNG der antiwestlichen Haltung vorbereitet sein und nicht mit heruntergelassenen Hosen erwischt werden. Diese strategische Weitsicht fehlt der deutschen Außenpolitik ganz besonders. Baerbock wäre gut beraten, sich einen Thinktank einfach nur dafür anzuschaffen, Alternativszenarien und Pläne zu entwerfen, auf die man dann zurückgreifen kann. Selbst wenn man sie nicht braucht. Dieses blinde Fahren auf Sicht der Merkel-Zeit jedenfalls kommt uns wesentlich teurer zu stehen als das.

Resterampe

a) Die AfD offenbart bisweilen schon bizarre Kinks.

b) Ich finde diese "Suppen auf Gemälden"-Aktionen ja reichlich beknackt, aber...die Logik hält leider auch. Und die BILD ruft zu Gewalt auf, was ich persönlich jetzt ein kleines bisschen schlimmer finde.

c) Wer sich für konservative Fundamentalkritik an den Tories interessiert, wird hier fündig.

d) Sönke Neitzel zu deutschen Militärhilfen an die Ukraine und Friedensverhandlungen.

e) Zur Debatte um "wokes" Militär.

f) Dieser Artikel erinnert mich daran, was für ein Verbrechen an der körperlichen Entwicklung von Kindern die Möbel in Schulgebäuden sind.

g) Wen das interessiert, der sei hier auf die Geschichte von faschistischer und anti-faschistischer Kooptierung des Warhammer-40k-Universums verwiesen.

h) Als Hinweis für die "die Medien sind mehrheitlich alle links"-Fans.

i) Eine Analyse von Kanye Wests Antisemitismus.

j) Das neue Buch "Iron Blood" von Peter Wilson wurde von der FT rezensiert. Es ist auch auf meiner (viel zu langen) To-Read-Liste.

k) Ein Mädchen in Frankfurt wurde verurteilt, weil es mit dem Massenmörder von Uvalde Chatkontakt hatte und niemanden informiert hat. Spannender Präzedenzfall für Verantwortung und Haftbarkeit in sozialen Medien.

l) Wenn jemand ein weiteres Plädoyer für vernünftige Vermögens- und Erbschaftssteuern braucht.

m) Spannende Veranstaltung zum Erbe und der Neubewertung von Willy Brandts Ostpolitik.

n) Humor und Comedy wurden schon öfter totgesagt.

o) Einer der dämlichsten Artikel, die ich in einer ganzen Weile gelesen habe.

 

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