Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
Dieses Klimageld, für das es nach Knopfs Ansicht die Möglichkeit zu Direktzahlungen bräuchte, steht sogar im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien. Warum gibt es das dann noch nicht? Hier wird es technisch. Denn dafür müsste man die Steuer-ID, die jeder Deutsche ab Geburt hat, mit den Kontonummern zusammenbringen. Das dauere "mal eben 18 Monate", erklärte Lindner in der Pressekonferenz. Und außerdem sei es auch dann technisch nur möglich, 100.000 Überweisungen täglich auszuführen. Das hieße: Es würde rund 800 Tage, also mehr als zwei Jahre dauern, überhaupt jedem und jeder Deutschen nur einmal Geld zu überweisen. [...] Brigitte Knopf hält die Zahl für Quatsch. "Es gibt da keine technische Begrenzung, die Familienkasse beispielsweise überweist auch jeden Tag mehrere Millionen Mal Kindergeld." Die Familienkasse wäre aus ihrer Sicht auch dafür geeignet, die neuen Direktzahlungen zu übernehmen. "Dort gibt es die Expertise und die technischen Möglichkeiten dazu." In der Praxis müsste die für die Umsetzung zuständige Stelle dann erst mal alle, deren Kontoverbindung sie noch nicht hat, anschreiben und um die Daten bitten. Wie schwierig es aber ist, jene zu erreichen, die darauf nicht antworten oder gar kein Konto haben, zeigt der Blick nach Österreich. [...] "Wollen wir das denn wirklich, dass der Bund eine zentrale, lückenlose Liste von allen Konten aller Bürger hat? Und gegebenfalls sogar hineinschauen kann?" Sie will kein solches "Superregister", wie sie es nennt. "Diese Zentralisierungsfantasien des Finanzministeriums sehe ich mit großem Vorbehalt." (Lenz Jacobsen, ZEIT)
Lenz Jacobsen hat auf Twitter noch einige sehr wertvolle Zusatzgedanken zur Thematik aufgestellt. Ich finde es vor allem deswegen spannend, weil das innere Gefüge des Funktionierens von Institutionen für mich einfach interessant ist. In diesem Fall steht Lindner tatsächlich zwischen zwei Güterabwägungen, und das Ergebnis dieser Abwägung ist alles andere als offensichtlich. Klar will man Effizienz, und Direktzahlungen auf die Konten, die dabei natürlich hinterlegt sein müssen, ist das mit Abstand effizienteste Mittel. Gleichzeitig will man aber nicht, dass der Staat zu viele zentralisierte Informationen hat. Dazwischen eine "Goldilocks-Zone" zu finden, ist gar nicht so leicht. Kritik gefallen lassen muss sich Lindner allerdings, wenn wahr ist, dass viele der Verzögerungen hauptsächlich deswegen entstehen, weil da ein komplett neues System geschaffen werden soll. Ich halte diese Berichte allein deswegen für glaubhaft, weil wir diesen Bullshit auf so vielen Ebenen sehen. Diese fixe Idee, dass Behörden ständig neue, riesige Systeme selbst bauen müssten (und könnten!) ergreift offensichtlich selbst die Liberalen.
2) You really don’t understand how bad it could get in Europe this year
But as bad as it is now, these might still be the good days for Europe. With winter and higher gas demand on the way, experts told Fortune that Europe’s energy market has never been more vulnerable. Even the slightest uptick in energy demand anywhere in the world could push entire sectors of Europe’s manufacturing industry to shut down entirely, devastating European economies with a wave of unemployment, high prices, and in all likelihood public unrest and divisions between European nations. [...] With immediate supplies maxed out, Europe’s energy system is balanced on a ledge. That means that addressing demand is the only realistic measure left at Europe’s disposal. And that could come through painful means like mandated and widespread energy rationioning, according to Mitrova. [...] Chavez added that so far, most European factories have only reduced their capacity, rather than shut down entirely. But industrial plants that rely on natural gas for electricity or are located in countries where gas plays a bigger role in the energy mix, could start shutting down soon because of unbearably high costs. [...] "We can expect some protests,” Mitrova said, adding that Europe should anticipate movements similar to the Yellow Jacket protesters who emerged in France in 2018 protesting higher costs of living and electricity bills. (Tristan Bove, Fortune)
Ich kriege solche düsteren Zukunftsprognosen immer wieder in meine Timeline gespült, aber ich habe keine Ahnung, wie zutreffend sie sind. Marco Herack hat sich mit uns im Podcast klar gegen solche apokalyptischen Szenarien ausgesprochen, aber die Gefahr einer Deindustrialisierung, Rezession und einer mittleren Katastrophe für weite Bevölkerungsschichten ist sehr real. Für mich ist das die Bewährungsstunde der Politik: sie muss irgendwie versuchen, die Folgen dieser Krisen weitgehend aufzufangen. Es gibt keine Alternative dazu. Würde man die Sache laufen lassen, stürzten Millionen ins Elend. Das hält die Demokratie nicht aus. Wie genau das ablaufen soll - keine Ahnung. Aber es MUSS.
3) Der Lehrling und sein Meister
Der europäische Faschismus wird üblicherweise als ein Angriff auf die liberale Politik, Kultur und Wirtschaft beschrieben. Ishay Landa, Professor für Geschichte an der Open University of Israel, betont hingegen die lange vernachlässigte Wesensverwandtschaft zwischen liberaler Tradition und Faschismus. Weit davon entfernt, die Antithese des Liberalismus zu sein, war der Faschismus sowohl in seiner Ideologie als auch in seiner Praxis dialektisch dem Liberalismus, insbesondere seiner wirtschaftlichen Variante, verhaftet. [...] Der Faschismus, so Landa, war das organische Ergebnis von Entwicklungen, die zum Großteil innerhalb der liberalen Gesellschaft und Ideologie stattfanden. Er war der extreme Versuch, die Krise des Liberalismus zu lösen, indem man dessen innere Widersprüche durchbricht, um die Bourgeoisie auf diese Weise vor sich selbst zu retten. (Dietz Verlag)
Ohne das Buch gelesen zu haben: ich halte nichts von dieser These. In meinen Augen ist der Kardinalfehler dieser Argumentation, die sich auf der Linken schon seit den 1920er Jahren findet, dass "Liberalismus" und "Interessen der Wirtschaft/Reichen" gleichgesetzt werden. Da gibt es natürlich einen gewissen Überlapp, weil beide ein Interesse an Deregulierung und niedriger Staatsquote haben. Aber den Liberalismus auf Wirtschaftsliberalismus zu reduzieren (der sich dann problemlos in rechtsautokratische Regime einbinden lässt, keine Frage), halte ich für extrem verkürzt.
Für mich ist das 20. Jahrhundert im Wesentlichen vom Konflikt der drei großen Ordnungsvorstellungen geprägt: Liberalismus, Kommunismus, Faschismus. Unter diesen drei hat sich der Liberalismus eindeutig durchgesetzt. Aber der Faschismus ist, genauso wie der Kommunismus, im Kern anti-liberal. Was die Vertreter*innen der obigen Argumentation glaube ich so verwirrt ist, dass Faschismus und Kommunismus moderne ANTWORTEN auf den Liberalismus sind. Der ist ja schließlich älter; wir können ihn locker zu Adam Smith zurückverfolgen. Die Ablehnung des Liberalismus als ein scheinbar überkommenes Relikt war treibende Kraft von Faschisten und Kommunisten. Der Liberalismus hat sich als stärker und wandlungsfähiger gezeigt, als diese in ihren kühnsten Träumen angenommen haben. Das sollte man nicht vergessen.
4) If You Really Love Democracy, You Can’t Love the U.S. Senate
It’s important to remember the two reasons we have a U.S. Senate. First, it represented a compromise with those in the founding generation who wanted an unelected body like Britain’s House of Lords to counteract “the people’s House,” the lower chamber. But more important, as James Madison made clear in “Federalist 62,” it was essential to the ratification of the Constitution that the country maintain its original character as a compact of states, not as a truly United States: [...] This understanding of the country as a modified confederation of states with a stronger central government than it originally had more or less perished with the outcome of the Civil War and the ratification of the Civil Rights Amendments (including the 14th Amendment, that great and still-evolving guarantee of individual rights against states rights). But the Senate remains as a relic of the era when McConnell’s hero Henry Clay and a host of other patriarchal slaveholders held the Union temporarily together by engaging in “deal-making” at the expense of human dignity. The 17th Amendment, ratified in 1913 and providing for the popular election of senators instead of letting state legislatures choose them, took the chamber as far toward democracy as a flawed Constitution would allow. “Respect for the Senate as an institution” means contempt for democracy as a fundamental value. That is why those with respect for democracy should do everything possible to minimize the Senate’s ability to function according to the Founders’ design instead of boasting about making the chamber even more susceptible to high-handed measures to frustrate the popular will. (Ed Kilgore, New York Magazine)
An der Stelle ist es einmal angebracht festzustellen, dass die Gründerväter zustimmend nicken würden. Natürlich ist der Senat undemokratisch. Dafür ist er da. Die Gründerväter hatten einen absoluten Horror vor Demokratie. Für sie war das eine dystopische Vision; sie errichteten eine REPUBLIK, und zwar genau deswegen, um der Demokratie einen Riegel vorzuschieben. Sie betrachteten sie nicht wie wir heute als etwas Positives, sondern als anarchisches Chaos. Warnungen vor den ungewaschenen Massen und ihren Emotionen einerseits und er Gefahr von "Fraktionen", also der Macht von Interessengruppen, andererseits durchziehen alle Äußerungen der Framer. Solange die USA diese Verfassung haben, wird der Senat ein undemokratisches Bollwerk bleiben, weil er genau dafür gemacht ist.
Allein, es ist nur diese Hälfte der Senatskonstruktion, die wie vorgesehen funktioniert. Es ist ja nicht so, als wären die Senator*innen irgendwie immun gegenüber Einflüssen von außen. Das war eine von Arroganz und Hybris geleitete Annahme der Gründerväter, die der Überzeugung waren, dass wohlhabende, gebildete, angelsächsische und weiße Männer wie wie die einzigen waren, die Entscheidungen für das Staatswesen objektiv und unparteiisch treffen konnten. Diese Annahme war 1789 so falsch wie sie 2022 ist. Aber sie ist fest in die Verfassung eingebacken. Und da kriegt man sie auch nicht raus.
Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Büchern, die ziemlich klar und überzeugend beschreiben, was der versteckte Fokus des gegenwärtigen Faschismus ist: die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008, auch die Große Rezession genannt. [...] Der neue Faschismus ist demnach eine Folge der politischen und ökonomischen Fehlentscheidungen nach 2008 [...] Der neue Faschismus, und das macht ihn wohl so attraktiv, ist dabei antikapitalistisch in dem Sinn, dass er sich gegen die Globalisierung wendet, gegen Big Capital, gegen die "konsumistische Versklavung", wie Giorgia Meloni es nennt – nicht gegen Profit in der kleptokratischen Variante von Berlusconi bis Trump. Er ist protektionistisch und abschottend, gegen Migration und gegen globalen Handel. Und dieser neue Faschismus ist keine Jugendbewegung wie der Faschismus im 20. Jahrhundert, sondern eher eine Art Boomer-Faschismus der 35- bis 60-Jährigen. [...] Das ist die Welt, die wir zugelassen haben. Wir leben immer noch in den Ruinen von 2008. (Georg Diez, ZEIT)
Genauso wie bei Fundstück 3 bin ich auch in diesem Fall kein Fan dieser verkürzenden Argumentation "Ungleichheit führt zu Faschismus". Dabei handelt es sich eher um einen Blick in den ideologischen Spiegel, eine Projektion. Das passiert ständig: etwas Schlechtes passiert, und man macht sofort das verantwortlich, was man ohnehin ablehnt. So finden Konservative problemlos, dass die Woken Schuld daran sind, dass der Faschismus wiederkommt, während die Linken natürlich die bösen Kapitalisten verantwortlich machen. Beides ist wesentlich verkürzt.
Es gibt nicht "die" Ursache für die Rückkehr des Faschismus weltweit. Es handelt sich vielmehr um ein Bündel von Ursachen. Die ökonomischen Verwerfungen seit 2007 sind ein Grund davon, vielleicht sogar eine notwendige, nicht hinreichende Bedingung, und sind mit Sicherheit in der Debatte zum Thema unterschätzt. Aber als Hauptgrund? Man müsste eine vergleichende Untersuchung anlegen, aber ich bezweifle, dass sich das so einfach als Roter Faden halten lässt. Klar, in Italien funktioniert das halbwegs. Aber Russland? Diez würde besser daran tun, die Latte niedriger zu hängen und das Thema als einen Grund unter vielen zu betrachten.
Eine letzte Anmerkunge: Seine Generationen-Idee bleibt merkwürdig untererforscht. Er bezeichnet es als "Boomer-Faschismus", was sich ob der Griffigkeit auch in der Überschrift wiederfindet, aber wirklich ausgebaut wird dieser Gedanke nicht. Das ist schade. Denn da hätten wir ja gleich den nächsten Aspekt. Aber er bleibt auf das Schlagwort reduziert.
6) What was the Cold War, and is it over?
Westad’s definition of the Cold War has two aspects: that of an ideological conflict between two totalizing and incompatible systems, and that of an international system, which forced many different issues and conflicts among countries into alignment with that ideological conflict. I found this is a useful distinction, as the arguments for a contemporary Cold War generally focus on the second aspect, the pattern of international relations. There’s no question that, since the invasion of Ukraine, the US and Western Europe are in increasingly direct rivalry with Russia and China. The continuity of this division with that of the Cold War period is what Rachman and Kotkin focus on in their essays. But it’s harder to see a similar ideological conflict underway today. Westad consistently emphasizes how in the twentieth century both the US and the USSR were highly ideological states, organized around universalizing ideas not just national interests. Both countries were led by elites who believed that they were spreading the right ideas about the way to organize human societies throughout the world, and that their right ideas were mortally threatened by the other side’s wrong ideas. “It was its ideological origins that made the Cold War special and hyperdangerous,” Westad writes. The existential struggle between capitalism and socialism made every minor issue seem like a terminal conflict, encouraging both sides to raise the stakes. (Andrew Batson)
Batson spricht hier einige wichtige Punkte für das Verständnis des Kalten Krieges an. Die Rolle der Ideologie wird glaube ich inzwischen zugunsten der geopolitischen Konflikte etwas unterschätzt. Ich unterrichte den Ost-West-Konflikt als einen doppelten Konflikt: einerseits einen um Macht und Einflusssphären, andererseits einen ordnungspolitischen Konflikt. Beide zusammen ergeben den Ost-West-Konflikt der Jahre 1943-1989, und sie finden insgesamt vier große Austragungsarenen: das Wettrüsten, den technologisch-wirtschaftlichen Wettlauf, den Kampf um Einflusszonen und den ideologischen Wettlauf.
Die heutigen Auseinandersetzungen, etwa zwischen Russland und dem Westen oder China und den USA, enthalten zwar ein Ringen um Einflusssphären und zumindest im Fall Chinas auch einen technologisch-wirtschaftlichen Wettlauf und ein Wettrüsten, aber die ideologische Auseinandersetzung fehlt weitgehend. China lehnt zwar den Liberalismus ab, hat aber keinerlei Ambitionen, sein eigenes System in der Welt zu verbreiten. Umgekehrt fehlt dem Westen inzwischen weitgehend der glühende Missionseifer des Kalten Krieges. Wenn heute darüber geklagt wird, dass der Westen missioniere und seine Werte zu hoch hänge, dann ist das Kritik auf niedrigem Niveau. Während des Ost-West-Konflikts brannte diese Flamme wesentlich heißer.
7) Why ‘Woke’ Armies Beat Hypermasculine Ones
Last year, Senator Ted Cruz recirculated a TikTok video that contrasted a Russian military-recruitment ad, which showed a male soldier getting ready to kill people, with an American recruitment video that told the story of a female soldier—the daughter of two mothers—who enlisted partly to challenge stereotypes. “Perhaps a woke, emasculated military is not the best idea,” Cruz tweeted sarcastically. The Texas Republican is not alone in trumpeting a Putinesque ideal. Several months earlier, the Fox News host Tucker Carlson had similarly complained about a supposedly “woke” Pentagon, which he likened to the Wesleyan University anthropology department. By promoting diversity and inclusion, he insisted, military leaders were destroying American armed forces, supposedly the last great bastion of merit in the country. More recently, Carlson has complained that America’s armed forces are becoming “more feminine, whatever feminine means anymore,” just as China’s are “more masculine.” [...] Arguments like these were much easier to make before Putin unleashed his muscle-bound and decidedly unwoke fighting machine on the ostensibly weak Ukrainians, only to see it perform catastrophically. More than seven months into the war, the Ukrainian army continues to grow in strength, confidence, and operational competence, while the Russian army is flailing. Its recent failures raise many questions about the nature of military power. (Philipp Payson O'Brien, The Atlantic)
Ich würde da jetzt keine Regel formulieren wollen. Aber eine solche gibt es umgekehrt halt auch nicht. Die Vorstellung, dass Diversität und Toleranz eine Gesellschaft schwächen würden, ist letztlich Ausdruck toxischer ideologischer Modelle und Geschlechtsvorstellungen. Wie Carlo Masala das immer so schön formuliert sollten westliche Gesellschaften "woke, bis an die Zähen bewaffnet und wehrhaft" sein. Wenn die Bundeswehr mehr auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf achtet, leidet darunter nicht die Einsatzfähigkeit. Wenn offen homosexuelle Soldat*innen dienen können, schadet das nicht dem Zusammenhalt der Truppe. Wenn Feldrationen auch Rücksicht auf religiöse Essvorschriften nehmen, zersetzt das nicht die Wehrkraft. Man sollte sich nicht in diese falsche Dichothomie ziehen lassen. Unsere Diversität und Toleranz sind unsere Stärken, und sie sind es auch im Militär. Gerade Deutschland hat mit dem Leitbild der "Staatsbürger*innen in Uniform" da ja schon lange festgestellt, dass sich das verträgt.
Understanding the sacrifice underpinning national liberation provides a glimpse into the mindset of Brexiteers currently exploiting this rhetoric. As the UK prepares for post-Brexit hardship, experts trying to warn of the economic disruption that would follow a no-deal crash must understand that their warnings are not only being dismissed as “project fear” but also being reframed by Brexiteers as a “a blessing in disguise,” with a no-deal crash being presented as an opportunity for the “suffering which would unite & bring us together.” The Brexit argument once promised that Britain would immediately be showered in wealth if it left the EU, but now the Times is publishing articles arguing that “Brexit offers a prized return to the Blitz spirit.” [...] Brexiteers are able to synthesize the ideals of national liberation with more familiar British tropes such as the “Blitz spirit” due to Britain, the former hegemonic European empire, actually having more of an anti-imperial self-image. Conveniently forgetting that Britain has invaded more countries on the globe than anyone else, Britain today can borrow the rhetoric of former anti-colonial struggles because as an “island nation” it has been haunted by an ever-present fear of invasion, which has solidified the image of Britain “standing alone” against the imperial ambitions of others. While Britain’s great colonial military victories, such as the victory over the Qing dynasty of China in the First Opium War or victory over the Russian Empire in the Crimean War, are often ignored chapters in the national story, school history curriculums make sure to focus on the halting of the Spanish Armada, the defiance of Napoleon at the Battle of Waterloo, or stalling the Nazi war machine in the Battle of Britain. Every British child is familiar with the times when plucky, underdog Britain held its ground in the face of aggressive foreign empires. As George Orwell noted, British popular military history is not one of conquest or triumph but of resistance, “fighting a desperate rear-guard action before escaping overseas (just like Dunkirk!) has more appeal than a brilliant victory.“ The proponents of Brexit understood this narrative well and subtly combined it with the language of national liberation, the legacy of the old anti-colonial movements, to entrench resistance to an “imperial” EU. (Kojo Koram, Dissent Magazine)
Die absolut beknackte Geschichtsrezeption Großbritanniens habe ich hier im Blog ja schon öfter diskutiert, aber dieser Artikel beleuchtet das unter einem neuen Aspekt, nämlich der Bewältigung der kolonialen Vergangenheit. Dass sich die konservativen Briten jetzt auch noch in die Rolle eines Unabhängigkeitskämpfers gegen den Imperialismus hineinimaginieren entbehrt schon nicht einer gewissen Komik. Auch diese unendliche Fixierung auf eine völlig imaginäre Version des "Blitz" ist eigentlich nur noch peinlich. Kojo Koram vereint in seinem Artikel beide Narrative in eine Gesamtanalyse, die er mit dem realen Imperialismus kontrastiert. In letzterem Falle geht er für meinen Geschmack zu sehr in den "linken" Bereich, aber das ändert nichts daran, dass der Text grundsätzlich empfehlenswert und anregend ist.
9) How car culture colonised our thinking – and our language
We say this because we’ve become accustomed to thinking about the street in “traffic logic”. For centuries, streets used to be a place with a multiplicity of purposes: talk, trade, play, work and moving around. It’s only in the past century that it has become a space for traffic to drive through as quickly and efficiently as possible. This idea is so pervasive that it has colonised our thinking. [...] Kager says that many of the non-car phenomena he encounters and researches in his work have no names – there’s just no conceptual framework for certain things. No categories. That makes it harder to make them visible in reports and advisory papers for government – which means they get less attention and less funding. [...] “What you see is that the 25% who use cars most are responsible for two-thirds of motor traffic in the city. So now we can have a meaningful discussion: should the local authority be making things easier for them? Or doing more for the other 75% who use cars less often or very little, and taking more account of their wishes in decisions affecting the city?” Picture a situation where one-quarter of the people living in a street produce two-thirds of all the rubbish in the recycling containers, so the containers are always overflowing. Should the local authority provide more containers? Employ more bin collectors? Or do something quite different? What kind of town do you want? (Thalia Verkade and Marco te Brömmelstroet, The Guardian)
Ich verlinke den Artikel hier hauptsächlich noch einmal zur Verstärkung meiner Argumentation, dass wir in einer Autogesellschaft leben. Ich begrüße es, dass immer mehr Leute darüber öffentlich sprechen und das Overton-Fenster sich verschiebt: die Wahrnehmung selbst ist das Wichtige. Es wird plötzlich möglich, überhaupt über etwas zu sprechen, das bisher einfach so selbstverständlich war, dass ein schieres Nachdenken darüber völlig außer Frage stand: die Vorherrschaft des PkW und des privaten Autoverkehrs.
Die Frage, die Verkade und Brömmelstroet am Ende stellen, ist aber sehr relevant, auch, weil ich keine Antwort habe. Nehmen wir am meisten Rücksicht auf die Vielnutzer*innen, oder tun wir das nicht? Es gibt gute Gründe dafür und gute Gründe dagegen. Ich denke, das ist letztlich eine Güterabwägung. Wem will man warum Priorität geben? Das kann nur das Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse sein. Aber die Zeit, in diese kleine Gruppe der Vielnutzenden alles unhinterfragt bestimmt hat, ist zum Glück vorbei.
Die frühere FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin hat von zahlreichen sexuellen Übergriffen unter anderem durch Parteikollegen berichtet. „Ich wurde angefasst. Einfach so. Da waren immer wieder Hände auf meinem Knie. Man hat meine Brust berührt, mir ungefragt sanfte Rückenmassagen verabreicht“, sagte Koch-Mehrin dem „Stern“. „Und ständig gab es Zoten und Anzüglichkeiten - Sätze wie: „Ich würde so gern mit Ihrer Eiskugel tauschen.’“ Ein Parteifreund habe in abendlicher Runde einmal über sie gesagt, „ihre Zukunft liegt zwischen ihren Beinen“. Sie selbst habe dabei in Hörweite gesessen. Zu ihrer Reaktion auf derartige Vorfälle sagte die 51-jährige dem Magazin: „Ich habe geschwiegen und es ausgehalten. Höchstens mal mit den Augen gerollt. Hände wortlos weggeschoben. Mehr nicht.“ Sie habe damals dazugehören wollen und Angst gehabt, „zickig zu wirken“, sagte Koch-Mehrin weiter. „Ich wehrte mich nicht, sondern begann es mir schönzureden, mich selbst infrage zu stellen.“ „Ich habe durch Passivität mitgemacht, mich nicht gewehrt und keine Grenzen gezogen“, sagte Koch-Mehrin über ihr damaliges Verhalten. „Dadurch habe ich das System unterstützt.“ (AFP, Tagesspiegel)
Ich finde es gut, dass Koch-Mehrin so offen darüber spricht und auch selbstkritisch daran geht, welche Mechanismen dazu geführt haben, dass das ewig so vor sich hin lief. In einer gewissen Weise ist das ein Schlusswort zu der deutschen #MeToo-Debatte, weil das Thema ja hierzulande erstmals im Rahmen von Rainer Brüderles "Herrenwitz" 2013 aufkam und breit diskutiert wurde. Dass jetzt eine FDP-Politikerin auf diese Art und Weise einen Schlussstein setzt, ist ziemlich passend. Wir sind seit dem #Aufschrei glücklicherweise echt ein großes Stück weitergekommen. Jetzt müssen Taten folgen.
Resterampe
a) Gleich zwei Artikel über russische Einflussnahme: einmal die ganzen Gas-Lobby-Connections von Sigmar Gabriel bis Michael Kretschmer ausführlich recherchiert, einmal die eher unbekannte Unterstützung der Klimaaktivist*innen. Besonders Letztere fand ich spannend, weil erst mal wenig intuitiv. Aber klar, Russland hat natürlich ein Interesse, dass der Westen keine eigenen fossilen Energiestoffe fördert. Und hätten wir unter Merkel nicht eine so katastrophale Energiepolitik betrieben, wäre das auch egal gewesen.
b) Mythos Counter-Strike. Coole Doku, wen's interessiert.
c) Ganz schönes Porträt von Wolfgang Schäuble. Ich bin ja kein Fan, aber als Parlamentarier ist er echt ein Urgestein.
d) Guter Thread zu den Problemen von Klassenfahrten. Es ist einer der Vorteile einer Privatschule, dass die Organisation bei uns wesentlich leichter geht (wir haben eine Rechnungsabteilung!), aber der Aufwand bleibt gigantisch. Umso ärgerlicher, dass es allzu oft als eine Art Urlaub abqualifiziert wird. Die Studienfahrt nach Auschwitz, die ich vergangenes Schuljahr organisiert habe, hat mich über 20 Stunden Arbeitszeit allein in der Vorbereitung gekostet, von den extrem anstrengenden Tagen der Fahrt selbst nicht zu sprechen. Bezahlt wird das nicht, honoriert auch nicht. Das mach ich nebenbei, weil ich es wichtig finde.
e) Aufrufe zur Gewalt gegen Transpersonen bei Tucker Carlson zur besten FOX-Sendezeit.
f) Der Chef von Trigema geht auch unter die Verschwörungstheoretiker*innen: "Ich behaupte, dass der Amerikaner im Hintergrund alles steuert, damit er alleine eine Weltmacht bleibt. Man kann lesen, dass schon während der Regierungszeit von Bush Junior Vereinbarungen mit Putin nicht eingehalten wurden. Die einzigen Gewinner an diesem Krieg sind die Amerikaner!"
g) Großbritannien muss echt dringend seine koloniale Vergangenheit aufarbeiten.
h) Lesenswertes Interview mit Adam Tooze zum Thema Wirtschaftskrieg gegen Russland.
i) Die Grünen in BaWü basteln an einer Strategie für die Zeit nach Kretschmann. Na dann viel Glück.
j) Sehr treffende und untererforschte Beobachtung.
k) Eine interne Prüfung des NDR kommt zu dem Schluss, dass keine politische Schlagseite besteht.
l) Die EU-Staaten sollen CO2-Zertifikate im Wert von 20 Milliarden Euro verkaufen, um den Strompreis zu senken und Einnahmen für LNG zu generieren. Das ist genau das, was ich in meiner Kritik auch gesagt habe: so was wird immer passieren. Die Hoffnung auf CO2-Bepreisung ist deswegen als allein seligmachendes Mittel hochgradig naiv.
m) Für Trekkies: ein guter Artikel über die aktuelle Masse an Star-Trek-Serien.
n) Stephanie Kelton zu der Frage, ob MMT bedeutet, dass man zur Bekämpfung der Inflation die Steuern erhöhen muss.
o) Leider Gottes nur leicht übertriebene Satire auf Unterrichtsmaterialien zum Thema Medien.
p) Klar, das Problem ist, dass die BBC zu links ist...
q) Drei Faustregeln um Putin zu verstehen.
r) Der MDR verbreitet Fake-News über ukrainische Geflüchtete, die Kaviar von den Tafeln wollen. Ganz großes Kino.
s) Julian Reichelt ist jetzt 100% Klimaleugner.
t) Mal wieder Daten zum bewussten Kahlschlag bei den Erneuerbaren nach 2010.
u) Video vom russischen Fake-Referendum in Luhansk. Schön zu sehen wie "frei" die Wahl ist. "Wollen Sie für die Unabhängigkeit stimmen oder erschossen werden?"
v) Spannendes Interview mit Frank Sauer über die Gefahr eines Nuklearwaffeneinsatzes durch Russland.
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