Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) How Bad History Feeds Far-Right Fantasies
History is about interpretation, and those interpretations can vary greatly—but all have to be built on solid foundations. Fynn-Paul’s foundation is ideology, and the results are both offensive and laughable. If it were just the one article, placed in the Spectator and roundly mocked, we might ignore it—but it joins Cameron Hilditch’s similar caricature of a piece in the National Review, the violently anti-Indigenous and ahistorical “The 1519 Project” in the Federalist, and Bruce Gilley’s revoked article “The Case for Colonialism” and now-withdrawn book series “Problems of Anti-Colonialism” for Lexington Books. The Trump administration has chosen to interfere in the teaching of history to promote “patriotic education,” specifically to “defend the legacy of America’s founding, the virtue of America’s heroes, and the nobility of the American character”—an explicitly white-innocence approach—and in both the United Kingdom and the Netherlands pro-colonial nostalgia is on the rise. In this climate, fighting back bad history that attempts to wash the blood from settler-colonial hands is not merely an academic pursuit but a moral imperative. (Thomas Lecaque, Foreign Policy)
Ich habe diese Thematik auch mit Stefan Quandt im Podcast angeschnitten: mehr als die meisten anderen Fächer ist Geschichte direkt mit der Gesellschaft und ihrer Identifizierung verknüpft. Entsprechend ist einerseits das, was die Geschichtswissenschaft vermittelt (und wegen der größeren Breitenwirkung noch viel mehr der Geschichtsunterricht) für überproportional viele Menschen interessant. Gleichzeitig ist auch in ungleich größerem Ausmaß als anderswo relevant, was viele Menschen über Geschichte denken und wie sie sie sehen. Deswegen sind Kämpfe um Inhalte im Geschichtsunterricht und Schwerpunkte der Geschichtswissenschaft auch wesentlich virulenter als die über beispielsweise Chemie.
Das war auch noch nie anders. Geschichte wurde schon immer in politische Narrative zu pressen versucht, und es ist ein vergleichsweise neuer Anspruch der Geschichtswissenschaft, so neutral wie möglich zu sein. Das ist natürlich nie möglich, weil sie von Menschen über Menschen betrieben wird und wir immer unsere eigenen Vorurteile, Prämissen und Annahmen mitbringen. Aber es ist eben auch bedeutend, wie wir unsere Vergangenheit interpretieren, weil wo wir herkommen immer Aussagen darüber macht (oder zu machen scheint), wer wir sind und wo wir hingehen.
Für Progressive ist es deswegen wichtig, die Verbrechen der Vergangenheit zu betonen, weil das einerseits eine Legitimität für die eigene Kritik gibt (egal wie unzulässig eine direkte Linie von Frederick Douglass zu George Floyd auch ist) und andererseits die eigene Seite mit einer moralischen Tradition ausstattet. Umgekehrt ist es für Konservative wichtig, die Vergangenheit in möglichst goldenem Licht erstrahlen zu lassen, weil man sie als Folie für die auf Abwege geratene Gegenwart braucht. Die Folge sind Deutungskämpfe, die mal in die eine, mal in die andere Richtung ausgehen.
2) Grün getarnt
Die ZEIT, der Guardian und SourceMaterial haben recherchiert, wie viele Zertifikate die untersuchten Projekte bislang Verra zufolge auf den Markt gebracht haben, und die Angaben mit Wests Zahlen verglichen. Die Unterschiede sind gewaltig: 94 Prozent der Zertifikate dürften demnach wertlos sein, knapp 89 Millionen Tonnen CO₂, die gar nicht eingespart wurden. [...] Es gibt ein Sprichwort, das auf dem Kompensationsmarkt zur Phrase geworden ist: Bitte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Also: Bitte nicht wegen einiger Schwächen Systemkritik üben. Die Zertifikate hätten wichtiges Geld in den Erhalt von Wäldern geleitet, das von den Regierungen nicht kommen würde – was stimmt. Es macht bloß die Probleme des Systems nicht kleiner. Auf die Phrase vom Kind und dem Bade folgt dann oft eine radikale Offenheit. Einige Experten auf dem Markt sprechen mit einer Selbstverständlichkeit über dessen Schwächen, als wären diese nichts Besonderes. Als wüsste man das alles doch längst. Es ist eine Branche, in der für viele der Missstand zur Normalität geworden ist. [...] Die Berechnungen, wie viel CO₂ ein Wald einspare, ließen sich so verzerren, dass Projekte "mehr Zertifikate erhalten, als sie sollten". Und weiter: Wenn Unternehmen darauf vertrauen wollen, dass ihre Klima-Aussagen gesichert seien, sollten sie mehr Zertifikate kaufen, als ihnen offiziell zugewiesen würden. Streck sieht die Verantwortung bei Verra. "Man hätte das früher erkennen können", sagt sie. "Man war im System auch selbstgefällig." [...] Auch Lambert Schneider vom Öko-Institut, der in einer Beratergruppe von Verra sitzt, sagt: "Verra weiß genau, dass manche der Zertifikate fragwürdige Qualität haben." Er glaubt, es gehe für viele auf dem Markt darum, eine Geschichte aufrechtzuerhalten. "Nach dem Motto: 'Wenn wir jetzt sagen, dass viele Zertifikate Schrott sind, kaufen Unternehmen keine mehr, und das bringt dem Klima auch nichts'." (Tin Fischer/Hannah Knuth, ZEIT)
Insgesamt ist das eine sehr gut geschriebene, toll recherchierte und lange Reportage, die zur gänzlichen Lektüre dringend empfohlen sei. Mich erinnert die ganze Geschichte an Nutriscore und Co. Es ist immer dasselbe: Wer den Sumpf trockenlegen will, darf nicht die Frösche fragen. Die Vorstellung, man könne die Privatwirtschaft sich selbst regulieren lassen, ist ungefähr so tragfähig wie von einer siebten Klasse zu erwarten, dass sie sich selbst disziplinieren möge. Es läuft sämtlichen Anreizen zuwider. Wenn die Wirtschaft selbst Label kreieren und diese dann kaufen kann, wird das Ergebnis ein Ablasshandel sein.
Das spricht nicht gegen die Idee des Zertifikatehandels an sich, denn die Grundidee ist ja stabil. Nur kann man sich eben nicht den Wünschen der Industrie beugen, weil deren Ziele und Anreize schlicht nicht zu den verfolgten Absichten passen. Genausowenig kann es natüröich aber zielführend sein, einfach per ordre de mufti irgendwelche Regularien rauszuhauen, die mit der Realität über Kreuz liegen. Das geht auc grundsätzlich schief. Was solche Dinge anbelangt, halte ich mich immer an Obamas Metapher aus den Obamacare-Verhandlungen: You can have a seat at the table, but you can't buy every seat at the table. Ich bin überzeugt, dass die besten Lösungen in konstruktiver Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft entstehen - und nicht durch eine Dominanz eines der beiden Teile.
3) Abschied von der Personenwahl
Das Nebeneinander von Personen- und Proporzwahlnarrativ war so lange unschädlich, wie das personalisierte Verhältniswahlrecht in der Praxis funktionierte. Solange die Mandatsanteile der Parteien in etwa dem Proporz entsprachen, war die systematische Verortung der Wahl in den Wahlkreisen eine theoretische Übung. Mit dem starken Anstieg der Überhangmandate in der 18. und ihrem weitgehenden Ausgleich ab der 19. Wahlperiode, wurde der Reformbedarf im Bundeswahlrecht jedoch unübersehbar. Um ein weiteres Anwachsen des Bundestages zu verhindern, musste das Verhältnis von Personen- und Proporzwahl überdacht werden. Das Personenwahlnarrativ wurde als „Lebenslüge des deutschen Wahlrechts“ enttarnt (S. und C. Schönberger, FAZ v. 9.5.2019, S. 6). Für die Verwirklichung einer echten Personenwahl in einem Grabenwahlsystem war und ist keine parlamentarische Mehrheit zu finden, da davon ausschließlich die Union profitieren würde (vgl. die Berechnungen bei Behnke). Der Reformentwurf der Ampelkoalition ist darum bemüht, das Personenwahlnarrativ zu verabschieden und dem Proporzwahlnarrativ zu seinem Recht zu verhelfen. Er geht dabei auch sprachlich ehrlich vor: Die Wahl der Abgeordneten wird nicht mehr als eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl, sondern nur noch als Verhältniswahl bezeichnet (§ 1 Abs. 2 Satz 1). Die „Wahl in den Wahlkreisen“ – bislang in der Systematik des BWahlG und auf dem Stimmzettel der „Wahl nach Landeslisten“ vorangestellt – wird in den Proporz einbezogen. Sie dient nur mehr dazu, Bewerber zu ermitteln, die vorrangig bei der Mandatsverteilung zu berücksichtigen sind – „soweit dies mit den Grundsätzen der Verhältniswahl vereinbar ist“. Diese Vereinbarkeit ist nur innerhalb des Proporzanteils der Parteien gegeben (§ 1 Abs. 3). Dementsprechend sind Parteibewerber in den Wahlkreisen nur gewählt, wenn sie eine relative Mehrheit der Wahlkreisstimmen erzielen und nach dem Proporz zum Zuge kommen. Überhangmandate gibt es nicht mehr. Vielmehr bleiben Wahlkreise, deren Gewinner nicht vom Proporzanteil gedeckt war, unbesetzt. Der Entwurf nennt das „Hauptstimmendeckung“. Um die gewählten Wahlkreisgewinner einer Partei zu ermitteln, werden sie im jeweiligen Land nach ihrem Wahlkreisstimmenanteil gereiht (§ 6 Abs. 1). Reicht die Hauptstimmendeckung nicht für alle aus, kommen nur die Wahlkreisersten mit den größten Stimmenanteilen zum Zug. (Fabian Michl/Johanna Mittrop, Verfassungsblog)
Der Artikel bietet generell eine super Erklärung, historische Einordnung und Analyse des neuen Wahlrechts und sei deswegen unbedingt empfohlen. Ich bin von diesem Entwurf sehr angetan, weit mehr jedenfalls als von den anderen, die in den vergangenen Jahren vorgestellt und diskutiert wurden. Mich nervt die Fiktion vom Mehrheitswahlrecht und der Verankerung in den Wahlkreisen schon länger. In manchen Wahlkreisen ist das sicher so, dass die jeweiligen Abgeordneten da persönlich stark verankert sind und auch eine Wahl gewinnen würden, wenn sie nicht das Parteilogo hätten. Aber in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle korrelieren Erst- und Zweitstimmenergebnis extrem stark und sind die Erststimmenkandidierenden kaum bekannt. Der bessere Grund für den Erhalt dieses Teils des Wahlsystems ist die Schwächung der zentralen Parteistruktur, die über die Liste viel stärker disziplinierend wirken kann. Völlig unabhängig davon, welche Wahlreform am Ende durchkommt: Bitte, Bitte, Bitte, macht das mit der "Hauptstimme" und "Wahlkreisstimme" statt Erst- und Zweitstimme. Dann kann ich endlich aufhören den Schüler*innen einzuprügeln, dass die Zweitstimme die wichtigere ist.
Biden’s frustration with Obama was that he didn’t sufficiently consider the marketing potential of the stimulus. Obama frankly admitted that he took “perverse pride” in how his technocratic administration constructed policy without regard for political considerations. The 2009 Recovery Act included tax cuts, but intentionally didn’t advertise them. The government quietly withheld less money from paychecks, a dividend that almost nobody noticed. This furtive tax cut was theoretically effective, because consumers were less likely to save money that they didn’t know they possessed. But it was also a political nonfact. This humility of sorts transgressed a core Biden maxim: Good policy is useless without good politics. The health of the government (not to mention the health of the Democratic Party) depends almost entirely on public appreciation of the government’s deeds. [...] But that vision requires mobilizing sclerotic bureaucracies—and aligning disparate agencies that don’t normally play nice with one another. The word implementation, perhaps the least sexy word in the English language, is his current fixation. He believes that the latent potential of these projects can be realized only if he pays close attention to them. (Franklin Foer, The Atlantic)
Für diese Frage grundlegend scheint mir die Bewertung der Obama-Ära zu sein. Früher war ich klar auf der Seite Obamas. Seine pragmatische Haltung und Betonung von guter Policy - "good governance" - empfand ich als ungeheuer attraktiv. Und theoretisch ist sie das auch immer noch. Nur bin ich glaube ich in den vergangenen Jahren zynischer geworden: die politische Dynamik dahinter geht einfach nicht auf. "Tue Gutes und rede darüber" ist ein Motto, das nicht nur Obama zu wenig beachtet hat, sondern das auch ständig die EU plagt, die ihre Wohltaten gerade in den Ländern, in denen sie am meisten verachtet wird, zu wenig bekanntmacht. Ich bin mal gespannt, wie viel erfolgreicher Biden mit seiner Werbekampagne ist als Obama es ohne seine war. Denn eine Wahlkampfmaschine wie sein ehemaliger Boss ist Biden halt auch nicht.
5) Debatte um Gedenkstätten-Besuche von Schülern – was bringen sie wirklich?
Er stellt fest: „Die Wirksamkeitserwartungen an Schulklassenbesuche in Gedenkstätten sind im Allgemeinen überzogen und stehen in krassem Gegensatz zu den für Vor- und Nachbereitung, aber auch zu den für die Durchführung aufgewendeten finanziellen und zeitlichen Ressourcen.“ Sogar nachteilige Effekte seien möglich: „Je stärker sich Lehrer oder Gedenkstättenpädagogen auf das Erreichen ihrer oft unrealistischen Lernziele fokussieren, desto mehr bewirken sie das Gegenteil: Wer möglichst viele Informationen vermitteln will, neigt zum Monologisieren und empfindet Fragen als störend – Schüler »schalten ab«. Wer unbedingt Empathie oder gar Trauer bewirken will, neigt zur Emotionalisierung und erzeugt Abwehr. Wer aus der Vergangenheit Lehren für die Gegenwart vermitteln will, wirkt schnell moralisierend.“ Sinnlos seien die Besuche aber deshalb nicht. „Um den individuellen Sinnerwerb von Schülern überhaupt beeinflussen zu können, müssten Vermittler ihre eigenen Wirkungsansprüche mäßigen und zurückhalten und mehr Augenmerk auf das den Gedenkstättenbesuch entscheidend prägende Vorverständnis der Schüler legen. Es wäre notwendig, dass sie die pädagogische Veranstaltung weniger als Instrument zur Vermittlung von Wissen oder gar Haltungen verstehen und dass sie diese nicht als Angebot, bei dem aus der Geschichte Lehren für Gegenwart und Zukunft gezogen werden müssen, konzipieren. Vielmehr sollten Gedenkstätten vorrangig als Orte angesehen und fortentwickelt werden, die Gespräche, Fragen, Assoziationen, Interesse und Auseinandersetzung bewirken. Dies beinhaltet zum Beispiel eine Reduzierung der Vermittlung von Sachinformationen zugunsten kommunikativer und reflexiver Zeitanteile.“ (News4Teachers)
Auf gut Deutsch: wenn man es ordentlich macht, ist es gut, wenn man es nicht gut macht, ist es nicht gut. Ungefähr also das, was für allen Unterricht gilt. Das kann nicht großartig überraschen. Deswegen bin ich auch kein Freund verpflichtender Gedenkstättenbesuche. Denn das "ich hab keine Lust dazu" betrifft ja nicht nur Schüler*innen, sondern auch Lehrkräfte! Nicht alle Lehrkräfte wollen Besuche in Gedenkstätten planen und durchführen. Wie viel Wert hat eine solche Veranstaltung, wenn sie von jemand gemacht wird, der den Wert davon nicht sieht? Das war eine rhetorische Frage; wir sehen das jeden Tag in zig Unterrichtsräumen.
Fun Fact: das ZDF hatte 2012 mit mir ein Vorgespräch für die Teilnahme in einer Talkshow, in der ich gegen den bayrischen Kultusminister hätte argumentieren sollen, weil Bayern das damals so gepusht hat. Sie haben mich dann doch nicht genommen sondern jemand anderen, weil meine Position nicht das war, was sie haben wollten (sie wollten - natürlich - jemand, der polarisierend total dagegen ist). Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob ich froh sein soll, das nicht gemacht zu haben; die Vorstellung bereitet mir heute noch Schweißausbrüche.
6) How Many Billionaires Are There, Anyway?
I asked Dolan what her profile is of a billionaire whom she’d never find. She told me it’s someone who quietly sold a stake in a business for, say, $250 million in the ’90s, then invested it well. Today, a guy like that could use his wealth to do whatever he wanted: buy truckloads of Nazi memorabilia, try to persuade your mayor to privatize the city’s sewers or maybe both, and you’d be none the wiser. And in fact, he wouldn’t even have had to be all that smart with his money. If he parked $250 million in an S.&P. tracking index fund in 1992 and left it alone, he’d be worth more than $4 billion today. (Dolan cautioned that no one would be quite crazy enough to put all his money in the market; nevertheless.) He would have slipped through the billion-dollar barrier like an Olympic diver. And now he’s just a guy with an insane Schwab account, some interesting ideas about sewage treatment and the world’s largest collection of authentic Totenkopf rings. [...] The issue with billionaires is not that they’re sociopaths, though certainly some are. It’s that their power comes with no accountability. They dwell — or don’t dwell, as is often the case — above the clouds in supertall skyscrapers. They fly to private islands on private jets and do God-knows-what there. Their yachts remind us that, no matter what the paperwork says, they’re citizens of no nation; that if we try to fix them in place, they can just go elsewhere. They become enamored of certain ideas — fixing African agriculture, resurrecting von Mises and Hayek, terraforming Mars, being the president — and can spend nearly unlimited sums in the pursuit of making them a reality. (Willy Staley, New York Times)
Ähnlich wie bei Fundstück 2 haben wir es hier mit einer langen und sehr guten, lesenswerten Reportage zu tun, von der ich nur einen winzigen Ausschnitt zitiert habe - hauptsächlich, weil ich wenig zur der schwierigen Aufgabe zu kommentieren habe, wie man eigentlich das Vermögen dieser Leute herausfindet und misst. Und natürlich, weil er so schön meine eigene These, dass Milliardäre und Demokratie unvereinbar sind, unterstützt. Das Beispiel aus dem Artikel oben ist gerade wegen seiner plakativen Absurdität so zutreffend: was auch immer diese Leute als ihr Steckenpferd aussuchen wird allein wegen der inhärenten Macht, die ihre riesigen Geldmittel haben, sofort massiv beeinflusst. Das kann positiv sein - was wäre Burladingen ohne die Investments von Wolfgang Grupp - aber es kann auch sehr negativ sein, wenn etwa ein Waltonclan die örtliche Wirtschaft plattwalzt. Und das sind nur die sichtbaren solchen Elemente.
Created by political economists Jonathan Nitzan and Shimshon Bichler, the theory of capital as power is decidedly non-mainstream. (It’s about as far from neoclassical economics as you can get.) Whereas mainstream economists look at capitalist society and see ‘productivity’ everywhere, Nitzan and Bichler see business ‘sabotage’. It’s an idea that at first seems incendiary. But once you think about the behavior of real-world corporations, the notion of business sabotage seems on point. Everywhere we look, we find big corporations behaving badly. Sci-fi writer Cory Doctorow calls this behavior ‘enshittification’. Looking at social media companies, he notes that what people want from their social-media apps is simple. People want to connect with their friends. And they want a feed that shows them what their friends are up to. That’s it. The problem is that this simple desire is at odds with making a profit. You see, to make a profit, social media companies need to slam sponsored content down your throat — i.e. fill your feed with ads and clickbait. Because that’s the opposite of what people want, Doctorow notes that social-media apps follow a predictable trend. First, they lure people onto the platform by giving them what they want (a feed filled with their friends’ content). Then, once enough people are locked in, the company flips the money switch and enshittifies its platform with paid junk. What’s this enshittification got to do with inflation? Everything! [...] Looking at capitalist society, Nitzan and Bichler argue that this enforced scarcity tends to come in waves, largely because it is unstable. For instance, if I bolster prices by restricting access to my property, the risk is that my competitor will undercut me. Conversely, if I undercut my competitor, the risk is that they will respond by cutting there prices in turn, resulting in a price-race to the bottom. Neoclassical economists look at these dynamics and conclude that they will lead to market equilibrium. But that’s because economists suppose that businesses won’t coordinate. In the real world, though, businesses coordinate all the time. It’s called herd behavior. If everyone else is cutting prices and selling more stuff, I’d better do the same. And if the herd decides to restrict supply and hike prices, I’d best join in. The result will be an oscillation between periods of economic boom with low inflation, and periods of economic bust with high inflation. (Blair Fix, Economics from the Top Down)
Zu den Ursachen der Stagflation speziell und Inflation allgemein sei auch diese deutschsprachige Erklärung empfohlen. Ich habe den obigen Ausschnitt und Artikel wegen der These der "enshittification" gewählt, was eine großartige Metapher ist, die zugleich mit einem dieser typischen Wirtschaftsmythen aufräumt. Die Marktwirtschaft per se führt eben nicht zu den Produkten, die die Mehrheit der Konsumierenden haben will, sondern zu Marktmachtkonzentration und eben enshittification. Denn Profit und Qualität schließen sich oftmals (nicht immer) gegenseitig aus. Gerade deswegen legen echte Liberale ja auch Wert auf starke staatliche Verhinderung von Monopolbildung - und kritisieren viele linke Politiken völlig zurecht dafür, dass sie Monopolbildung begünstigen. Siehe auch dieser ausführliche Artikel in Wired zum Thema.
8) Fünf Fehler in zwei zynischen Sätzen
»CO₂-neutrale Kraftstoffe« für Pkw sind eine Luftnummer, nicht nur, weil es nirgendwo nennenswerte Kapazitäten zu ihrer Herstellung gibt. Nicht einmal der Porsche- und VW-Chef Oliver Blume glaubt an Christian Lindners Träume von einer Zukunft mit lauter CO₂-neutralen Verbrennern. Porsche ist an einem E-Fuel-Projekt in Chile beteiligt – damit alte 911er auch in 20 Jahren noch gefahren werden können. Ein Markt für »CO₂-neutrale Kraftstoffe« für neue Pkw hingegen ist eine fixe Idee der FDP, von der sich der Markt längst verabschiedet hat. Wenn es diese Kraftstoffe eines Tages in halbwegs ausreichender Menge und zu wettbewerbsfähigen Kosten gibt, werden sie dringend anderswo gebraucht: im Schiffs- und Flugverkehr, eventuell für Schwerlaster. [...] Die FDP pendelt in Umfragen schon seit vielen Monaten zwischen sechs und sieben Prozent, was viel mit ihrer ständigen Verweigerungshaltung zu tun haben dürfte. Die Partei hat also seit der Bundestagswahl, bei der sie auf 11,5 Prozent kam, fast die Hälfte ihrer Zustimmung eingebüßt. [...] Deshalb sei hier noch einmal daran erinnert: Die Strategie, einer rechtsradikalen bis rechtsextremen Partei Stimmen abzunehmen, indem man sich deren Positionen und deren Diktion annähert, funktioniert nachweislich nicht. Das ist keine Behauptung, sondern es lässt sich empirisch nachweisen. Das muss langsam in den Köpfen deutscher Parteifunktionäre ankommen. Was allerdings durchaus funktioniert, ist, den öffentlichen Diskurs in einem Land mit dieser Methode genau in die Richtung zu verschieben, die sich die Rechtsradikalen wünschen. Schöne Grüße von Marine le Pen und Giorgia Meloni. Wer der AfD Stimmen abnehmen will, muss Alternativen anbieten, nicht eine Light-Version von deren Positionen. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Ich halte Stöckers Analyse über das, was FDP (und auch CDU) tun, für einen Irrtum. Er macht den häufigen Fehler, die eigenen politischen Vorlieben zu generalisieren und mit ihnen dann das Geschehen erklären zu wollen. Den gleichen Blödsinn haben ja die Reformpolitikbefürworter*innen in den 2000er und 2010er Jahren mit der SPD auch gemacht. Was wurde da behauptet, dass sie nicht genug in die Mitte gerückt, nicht genug Sozialstaat gekürzt habe und dass sie daher in den Umfragen absacke. Das Gleiche haben wir jetzt mit der FDP. Wer eher rechts steht, wird in ihren gefallenen Umfragewerte eine zu starke Links-, wer links steht eine zu starke Rechtsbewegung sehen. Aber das ist letztlich nur ein politischer Rorschach-Test. In meinen Augen ist die Antwort ziemlich simpel: die FDP hat zwei Flügel, deren Ziele wenig kompatibel sind. In der Opposition fällt das nicht so auf, aber in der Regierung muss sie ständig Farbe bekennen. Und wenn das jeweils der Hälfte der Partei und der Wählenden nicht passt, ist das Ergebnis ziemlich erwartbar. Das ist übrigens auch das Problem der CDU 2021 gewesen. Ob sie es überwunden hat, wird sich zeigen. Und es wäre auch das Problem einer LINKEn an der Regierung; mit ein Grund, warum sie keiner ranlassen will.
Das andere hier ist die "fixe Idee" der CO2-neutralen Kraftstoffe. Ich teile Stöckers Ansicht, dass das eine komplette Sackgasse ist, einfach aus rein marktwirtschaftlichen Gründen. Ich sehe nirgendwo eine Bewegung auch nur eines größeren Konzerns in diese Richtung, während weltweit die eMobilität vorangetrieben wird. Dabei ist auch egal, welches System besser ist. Betamax war ja auch besser als VHS. Es half nichts. Die Strukturentscheidung für Elektromotoren und Elektroladesäulen ist de facto getroffen. Wasserstoff und Co können das nicht mehr aufholen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Lindner das nicht weiß. Ich gehe davon aus, dass das ein talking point ist, auf den man sich zurückzieht, um das eigene Nicht-Handeln zu rechtfertigen. Altmaier hat das gemacht, indem er sich auf die "genialen deutschen Ingenieure" berief, die irgendeine nie näher spezifizierte Supertechnologie entwerfen werden.
9) Die Muster der Ungleichheit
In vielen deutschen Großstädten beschleunigte sich die Teilung in Arm und Reich in den frühen Nullerjahren. [...] Für Ärmere hat es hingegen Nachteile, mit anderen Armen zusammenzuleben. Am stärksten trifft soziale Segregation Kinder aus Familien, die Transferleistungen beziehen, zeigt eine der Studien von Helbig und Jähnen. Ballen sie sich in einer Nachbarschaft, kann sich das negativ auf die Gesundheit, Bildung und Berufschancen von Kindern auswirken. Ihnen fehlen die Kontakte zu Menschen aus höheren Einkommensklassen, von denen reiche Haushalte profitieren. Wissenschaftler fordern deshalb, die soziale Durchmischung in den Städten zu fördern. Sie fürchten, dass die Ungleichheit zur gesellschaftlichen Entfremdung führt oder sogar zu politischer Radikalisierung. Helbig hält wenig von diesen Prognosen, dafür gebe es zu wenig Belege: "Aber man kann mit Sicherheit sagen, dass in benachteiligten Vierteln die politische Partizipation sinkt. Die Leute gehen seltener wählen und treten kaum für ihre Rechte ein. Das kann niemandem gefallen." (Ressort X, ZEIT)
Der Artikel ist ein super Exemplar des immer noch viel zu seltenen Datenjournalismus und mit zahlreichen tollen Grafiken versehen, daher unbedingt Leseempfehlung. Ich will hier nur auf die zwei zitierten Punkte raus: einmal, dass (entgegen anderer Behauptungen) die Ungleichheit in Deutschland in den letzten 20, 30 Jahren eben doch nachweisbar zugenommen hat, und zum anderen, dass die Segregation schädlich ist. Das ist nichts Neues. Wir diskutieren dasselbe schon seit ewig für die Schule (die deutsche Trennung ins dreigliedrige System ist keine gute Idee), Rassismus (mal die Aufteilung Chicagos gesehen?) oder eben nach Einkommen. Nur: klar wäre eine größere Durchmischung besser, nur, erreichbar ist die praktisch nicht. Es gab schon zig Versuche in all diesen Bereichen, und jedes Mal laufen sie ins Leere. Das bussing in den USA etwa, mit dem man eine größere Gleichberechtigung der Ethnien erreichen wollte, dürfte wie wenig anderes für die konservative Wende ab 1968 verantwortlich sein. Wo man sozialen Wohnungsbau betreibt, fliehen die Gutbetuchten gegebenenfalls (wobei sie ihn dank ihrer Macht üblicherweise ohnehin in ihrem Umfeld verhindern). Und die Schulen besser zu durchmischen scheitert seit jeher am Widerstand der Eltern (fragt mal die CDU Hamburg nach ihren Erfahrungen). Eine Lösung dafür scheint es mir nicht wirklich zu geben.
10) Frauen in Deutschland verdienen immer noch weniger als Männer
Knapp zwei Drittel der geschlechterspezifischen Gehaltsunterschiede sind den Statistikern zufolge darauf zurückzuführen, dass Frauen einerseits häufiger schlechter bezahlte Berufe ausüben und andererseits häufiger in Teilzeit arbeiten. Rechnet man diese Faktoren heraus, ergibt sich ein sogenannter bereinigter Gender-Pay-Gap von immer noch sieben Prozent. Das bedeutet, dass Frauen auch bei vergleichbaren Tätigkeiten, Qualifikationen und Lebensläufen signifikant weniger Geld erhalten. Nicht einbezogen in die Rechnung seien Faktoren wie Erwerbsunterbrechungen etwa durch Schwangerschaft oder die Pflege von Angehörigen. Daher sei der bereinigte Gender-Pay-Gap "als Obergrenze für Verdienstdiskriminierung zu verstehen", sagen Forschende. [...] "Mögliche Maßnahmen wären die Abschaffung des Ehegattensplitting und von Minijobs, der Aufbau einer leistungsfähigen Betreuungsinfrastruktur für Kinder, die Förderung einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie und eine höhere Wertschätzung systemrelevanter Berufen", sagte Fratzscher. (afp, ZEIT)
Wie schon bei Fundstück 9 wiederholen sich die Ergebnisse mit jeder Studie. Letztlich ist das Ganze mittlerweile eine rein politische Thematik. Wir kennen das ja von den Diskussionen hier im Blog: alles steht und fällt mit der Frage, ob man Aspekte wie Teilzeit, eine Überrepräsentation in weniger gut bezahlten Berufen und Babyzeiten als strukturelle Diskriminierung oder persönliche Vorliebe betrachtet. Nimmt man ersteres an, steht noch eine ganze Menge Arbeit an, braucht es ein gesamtgesellschaftliches Umdenken und viele Reformen. Geht man von Letzterem aus, so gibt es effektiv keinen Gender Pay Gap, der mehr als ein statistischer Rundungsfehler ist. Beides ist auf Basis der eigenen Annahmen völlig valide. Und das ist letztlich auch die gute Nachricht: die offene, krasse Diskriminierung von anno dazumal hat sich wirklich weitgehend erledigt - anders als in vielen anderen Teilen der Welt. Und das ist ja schon mal was.
Resterampe
a) Sehr bedauerlicher Trend, wenn's stimmt.
b) Es ist total billig darüber zu lachen, aber ich lache trotzdem.
c) Sehr gute Analyse des Putinismus in der Welt.
d) Bei der Lehrkräftebeurteilung werden Frauen systematisch benachteiligt. Wenig verwunderlich. Das Problem sind nicht Frauen per se, sondern Teilzeitlehrkräfte, aber...same thing.
e) Es gibt im UK eine klare Korrelation zwischen Tory- und Labour-Regierungen und der Zufriedenheit mit dem NHS. Die Toryregierungen seit Thatcher haben das Ding kaputtgekürzt, Labour dann wieder repariert. Wer hätte gedacht, dass ein Gesundheitssystem schlechter wird, wenn man einfach mal 5% rauskürzt? Das kann nur Konservative überraschen.
f) Manche Republicans hassen einfach arme Menschen.
g) Die kollektive Amnesie über Dubbya ist wahrlich faszinierend.
h) Laut Anna Schneider ist Anstand ein grünes Konzept.
i) Spannende Gedanken zum ÖRR.
j) Was zur Hölle ist mit Hubert Aiwanger los?
k) Superyachten bleiben von der CO2-Abgabe ausgenommen. Kannst dir nicht ausdenken, sowas.
l) Bei Maaßen kann man sich fragen, ob er schon immer extremistisch war und sich nur getarnt hat oder ob er sich radikalisiert hat. Im Ergebnis aber ist er für die CDU eigentlich nicht mehr tragbar.
m) Ausführliche Analyse des geplanten neuen Einwanderungsrechts und Punktesystems.
n) Spannender Artikel über den kulturellen Einfluss von Battle Royale.
o) Eine weitere Studie belegt, dass Leute eine umso stärkere Meinung haben, je weniger sie über das Thema wissen.
p) Sophie Passmann schreibt darüber, warum Twitter toxisch ist. Meine These dazu: ab 10.000 oder 15.000 Followern ist die Grenze erreicht, in der das Twitter-User-Erlebnis sich maßgeblich ändert, weil da dann plötzlich ständig irgendwelche Deppen in der Timeline sind, die völlig random durch geteilte Tweets von Weirdos reingespült werden. Mir passiert das so gut wie nie, weswegen diese Beschreibungen von Promis auf mein Twitter-Erlebnis überhaupt nicht zutreffen.
q) Johannes Franzen hat grundlegendere Gedanken zu dem Thema.
r) Interview mit Claudia Major zur Frage von Kampfjets für die Ukraine.
s) Ich sag's immer wieder, Politik über die Gerichte zu machen ist scheiße - auch wenn's meinen Interessen dient.
t) In Meck-Pomm scheiterte die CDU an der LINKEn (!) damit, die Pflichtstunden für Lehrkräfte zu reduzieren (die höchsten bundesweit). Ist natürlich reiner Populismus - an der Regierung würden die genau dasselbe machen - aber es zeigt schön, wie verfahren die Lage ist.
u) Mal wieder ein Topp Beispiel dafür was passieren würde, wenn die AfD an der Regierung wäre. Cancel Culture ist ein Witz dagegen. Oh, und noch eins. Es ist kein Zufall, dass die konkretesten Veränderungsideen im Bildungsbereich sind. Das ist bei allen Faschisten so.
v) Democrats are still idiots. Absolut.
w) Klasse Recherche, wie ChatGTP akademische Paper erfindet.
x) Interview zur Frage, ob der Krieg in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg sei. Ich sage ja "nein".
y) Je mehr über die Rolle des FBI bei der Wahl 2016 ans Licht kommt, desto mieser sieht es für den Laden aus.
z) Es ist kein Geheimnis, welche Ziele die Republicans beim debt ceiling hostage taking verfolgen.
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