Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Lindner fordert Zeitenwende auch in der Wirtschaftspolitik
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) will Deutschland im Standortwettbewerb zurück nach vorn bringen. Der FDP-Politiker bat daher seine Fachleute, Maßnahmen für ein „Wachstumspaket 2023/2024“ zu erarbeiten. Das interne Papier ist nunmehr fertig, trägt die Datumsangabe 22. Dezember und liegt der F.A.Z. vor. Die Kernthese lautet: Auf die Zeitenwende in der Sicherheitspolitik muss eine Zeitenwende in der Wirtschaftspolitik folgen. Ob Energie, Infrastruktur, Fachkräfte oder Digitalisierung – überall sei die Bundesrepublik zurückgefallen. „Nach einem Jahrzehnt der Verteilungspolitik und der Nachfragestärkung müssen wir eine ordnungspolitische Trendwende zur Angebotspolitik wagen“, heißt es. [...] „Dieser Herausforderung können wir nicht dauerhaft mit mehr staatlichem Geld und industriepolitischen Subventionen begegnen.“ Man müsse internationales Kapital nach Deutschland lenken statt es zu vertreiben. In dem Abschnitt zur Steuerpolitik geht es um die Abwehr von weiteren Belastungen („steuerpolitische Brandmauer“), um die abermalige Einführung der degressiven Abschreibung, um eine Investitionsprämie („Super-AfA“), um eine Erweiterung der Ansparabschreibung, um eine Ausweitung der Forschungsförderung („zum Beispiel auf Sachkosten“) und um eine Verbesserung der Mitarbeiterkapitalbeteiligung („noch im Jahr 2023“). Damit nicht genug: „Neben den genannten Maßnahmen kommt auch eine generelle Reduzierung des Tarifs bei Einkommen- und Körperschaftsteuer in Betracht. Alternativ denkbar ist der Entfall der Ergänzungsabgabe (,Solidaritätszuschlag‘).“ Zur empfohlenen Trendwende in der Wirtschaftspolitik gehört der Appell, den Arbeitsmarkt beschäftigungsfreundlich zu gestalten. (Manfred Schäfers, FAZ)
Um eines gleich vorwegzunehmen: Lindners Aussagen konstituieren mit Sicherheit kein neues Lambsdorff-Papier. Anders als diverse linke Kritiker*innen, die ich in der Timeline hatte, sehe ich darin auch keinen Schritt zurück zu Westerwelle und der FDP von 2009. Lindner flüchtet sich teilweise in Wortwolken aus viel sinnlosen Floskeln, aber das ist wahrlich kein Alleinstellungsmerkmal. Ich sehe etwa nicht, wo "industriepolitische Subventionen" böse, die von ihm vorgeschlagenen Förderungen aber gut sind: das ist letztlich nur eine Verkleidung von Policy-Präferenzen in die Sprache hehrer Prinzipien. Für mich ist das, was er sagt, eine Mischung aus altem Wein in alten Schläuchen - etwa die Rede von "Beschäftigungsfreundlichkeit", was für mich verdächtig nach "Arbeitgeberfreundlichkeit" klingt, oder die Steuersenkungen, die einfach immer und zu jedem Thema gefordert werden - und guten Ideen.
So spricht in meinen Augen vieles für bessere Abschreibemöglichkeiten, für mehr Forschungsförderung, eine Mitarbeiter*innenkapitalbeteiligung und so weiter. Wo die wirklichen Konflikte liegen ist die Forderung nach einer angebotsorientierten Grundlinie. Diese wird sich nur sehr schwer mit den aktuellen Herausforderungen in Einklang bringen lassen, von seinen beiden Koalitionspartnern einmal ganz abgesehen. Letztlich sehe ich darin aber auch mehr eine Positionierung als eine ernsthafte Forderung: machbar ist das in dieser Koalition ohnehin nicht (nicht, dass die CDU das machen würde...). Ich hoffe, dass von Lindners Policy-Vorschlägen einiges umgesetzt wird, denn hier ist einmal mehr das Fortschrittspotenzial der Koalition erkennbar und die konstruktive Rolle, die die Liberalen hier spielen können. Den Rest verbuche ich mal unter "Theaterdonner".
2) In India, warnings that independent news media are teetering on a precipice
Some Indian observers say that the impending hostile takeover by Gautam Adani, the third richest man in the world, of what in 1998 became India’s first 24-hour news channel could signal the death knell of independent voices in India’s mainstream media outlets. NDTV, they say, has been the only remaining Indian broadcast network that continues to question Modi’s Hindu nationalist agenda. The other nearly 20 English or Hindi news channels across India, they assert, have taken to brazenly touting the party line. [...] The future of NDTV, founded by Dr. Prannoy Roy and his wife, Radhika Roy, came into play in August when Adani covertly acquired a third-party company that had the largest stake in the network. The Roys tried to fight him off, but apparently in vain. As of last week, Adani owned a 29% stake and has an open offer on another 26%. As a result, the Roys have resigned as directors. [...] Adani and Modi both hail from the western state of Gujarat and have had a lengthy relationship. When Modi became prime minister in 2014, Adani’s net worth was $7 billion. Today, it is $147 billion, making him India’s richest man. In a recent interview with the Financial Times, Adani addressed concerns that his taking over NDTV could end its independence. “Independence means if the government has done something wrong, you say it’s wrong,” Adani said. “But at the same time, you should have the courage when the government is doing the right thing every day. You have to also say that.” (Parth N. M., LA Times)
In Indien gilt wie überall, dass die Medienmogule eine der größten Gefahren für die Demokratie sind. Wie in Großbritannien, Italien oder den USA kann man auch hier sehen, dass wenn die Medien von solchen Moguln kontrolliert werden, der Pluralismus massiv leidet und die Qualität des Diskurses allgemein sinkt. Es ist einer der großen Vorteile, die wir hier in Deutschland haben, dass das nicht der Fall ist - und die viel gescholtenen Öffentlich-Rechtlichen haben daran nicht unerheblich Anteil.
Davon einmal abgesehen sind die Entwicklungen in Indien seit der Wahl Modis in höchstem Ausmaß bedenklich. Die Zunahme von ethnisch motivierter Gewalt und das explizite Ziel, einen "reinen" Hindu-Staat zu gründen, sind angesichts der Diversität des Landes blanke Fantasie mit dem Potenzial von Pogromen in gewaltigem Ausmaß. Dieser nationalistische Unfug, abgesehen von den autokratischen Zügen Modis, stellt einen düsteren Ausblick in die Zukunft dar.
3) Es ist an der Zeit, die Notbremse beim Klimaschutz zu ziehen
In den allermeisten Fällen gibt es zwar Technologien, um das Klimaproblem zu lösen. Doch ihre Implementierung ist langwierig, kompliziert und meistens auch sehr teuer. Weil uns dafür jedoch nicht etwa bis 2050 bleibt, sondern bloß noch wenige Jahre, droht die Menschheit den Kampf gegen den Klimawandel zu verlieren. Wer in dieser Situation zu mehr Optimismus oder gar zum alleinigen Glauben an den technologischen Fortschritt mahnt, ist im besten Fall naiv, im schlechtesten ignorant. [...] Vor allem im Westen muss die Politik damit beginnen, die Bevölkerung darauf einzustellen, dass es ohne Verzicht nicht geht – und diesen im Zweifelsfall streng einfordern, statt auf preisgebundene Freiwilligkeit zu setzen, wie das beispielsweise im Rahmen des europäischen CO2-Zertifkatehandels geschieht. Dazu gehört auch, CO2-intensive Importe aus jenen Ländern einzustellen, die es mit dem Klimaschutz nicht so ernst nehmen. Denn auch wenn der Westen nicht mehr Hauptverantwortlicher für die globalen CO2-Emissionen ist, landet der größte Teil aller Güter, die weltweit produziert werden, immer noch hier – und nicht unbedingt dort, wo die Emissionen entstehen. [...] Es ist deshalb an der Zeit, die Notbremse zu ziehen, ohne Rücksicht auf etwaige Komfort- und Wohlstandsverluste. Bei der Coronapandemie, die nun vorbei ist und tendenziell weniger Menschenleben bedroht als der Klimawandel, hat das schließlich auch funktioniert. (Kevin Knitterscheidt, Handelsblatt)
Ich sehe dieses Fundstück als gute Ergänzung zu Sandwich-Problem-Debatte im letzten Vermischten. Ich bin genuin unsicher, inwieweit diese Argumentationslinie - dass Verzicht notwendig ist, um das Klima zu retten, und wir im Endeffekt Degrowth brauchen - trägt, aus wissenschaftlicher Sicht (politisch ist sie ein totaler Non-Starter, sofern die Lage nicht völlig dramatisch ist). Aber die Diskussion ist keine linke mehr. Wenn selbst im Handelsblatt Kolumnen in diesem Tenor erscheinen, dann ist Degrowth aus dem Bereich der parteipolitischen Idee in den Bereich einer generellen Maßnahme gekommen. Der nächste Schritt ist, dann über das "Wie" zu streiten, weil das "ob" geklärt ist. Ich bleibe da weiter sehr skeptisch, in beiden Fällen.
Über das Auseinanderklaffen der Wahrnehmungen, das auch bei anderen Kampagnen gegen Menschenrechtsverletzungen in nichtwestlichen Ländern zu konstatieren ist, macht man sich im Westen meist wenig Gedanken. Für gewöhnlich führt man es bloß auf die durchsichtigen Strategien autokratischer Regime und rücksichtsloser Geschäftemacher zurück, die für ihren Unwillen, etwas an ihren ungerechten und repressiven Praktiken zu ändern, kulturelle oder geopolitische Gründe vorschieben. Doch die Frage ist, weshalb das kulturelle Argument bei großen Bevölkerungsteilen nichtwestlicher Länder verfängt, oft selbst bei solchen Teilen, die allen Grund hätten, gegen die Willkür, der sie ausgesetzt sind, bei einem universell geltenden Recht Zuflucht zu nehmen. Und warum können sogar manche von denen, die aktiv gegen die Unterdrückung in ihren Ländern kämpfen, mit dem Begriff der Menschenrechte wenig anfangen? [...] Kein Mensch will von anderen Menschen oder seinem Staat missbraucht, missachtet, verletzt, betrogen, belogen, unterdrückt oder ermordet werden. Doch viele Menschen bestehen zugleich auf einem Recht, mit dem man im Westen oft nicht rechnet: auf dem Recht, dass die kulturellen und religiösen Traditionen, in denen sie ihre höchsten Ideale bewahrt sehen, erhalten bleiben und Respekt erfahren. Aus westlicher Perspektive steht das überhaupt nicht infrage: Jeder Mensch ist ja frei, sich alle Kulturen anzueignen, die er für sich wünscht. Aber in diesem liberalen Credo steckt schon der Keim dessen, was man andernorts als Fremdbestimmung auffasst: Stillschweigend, ohne das eigens zu einem Programm zu machen, erwartet man im Westen offenbar, dass auch der Rest der Weltbevölkerung ein genauso lockeres Verhältnis zur umgebenden Kultur entwickelt. Das aber lehnen viele in den nichtwestlichen Teilen der Welt ab und entwickeln dann auch eine Aversion gegen den Menschenrechtsbegriff, so als ob es sich dabei um ein trojanisches Pferd handelte, das das eigene Lebensumfeld zersetzen soll. Wem es mit den Menschenrechten ernst ist und wer sie nicht bloß als Vehikel zur westlichen Selbstbestätigung benutzen will, muss sich diesem Auseinanderklaffen der Wahrnehmungen stellen. [...] Das Verhältnis zwischen kulturellen Traditionen und Universalismus ist also alles andere als spannungsfrei. Doch es löst die Spannung nicht auf, macht sie vielmehr noch explosiver, wenn man so tut, als spielten die Kulturen in Wirklichkeit gar keine Rolle mehr. Wenn im gerade veröffentlichten Menschenrechtsbericht der Bundesregierung etwa von „hohen Menschenrechtsstandards für europäische Lieferketten“ die Rede ist, haben die Formeln einen Grad routinierter Selbstverständlichkeit erreicht, als ob es bloß um eine Art Gütesiegel für einheimische Verbraucher ginge. Man würde den Menschenrechten einen Bärendienst erweisen, wenn ihr Begriff vor allem der Selbstbespiegelung diente. Oder schlimmer noch: der Selbsttäuschung. (Mark Siemons, FAZ)
Der ganze Essay ist unglaublich lesenswert, ich musste mich immer wieder zurückreißen, ihn praktisch komplett zu zitieren. Ich kann das Genre der "wir sind mit unseren Werten zu moralisch und sollten die nicht vertreten denn die Welt ist ein grausamer Ort"-Kolumnen überhaupt nicht leiden, weil ich die zynische bis nihilistische Grundeinstellung furchtbar finde. Siemons hier aber geht weiter als nur in das "Haha, ihr seid alle so doof und ich so abgeklärt realistisch", das diese Texte allzuoft auszeichnet, und geht wirklich in die Analyse der Gründe, warum eigentlich die liberale Heilsbotschaft so oft auf Widerstand stößt.
Besonders relevant finde ich hier weniger die Feststellung, dass eine gewisse Selbsttäuschung und Heuchelei existiert und dass der Begriff der Menschenrechte allzuoft etwas inhaltsleer ist, sondern: "was man andernorts als Fremdbestimmung auffasst: Stillschweigend, ohne das eigens zu einem Programm zu machen, erwartet man im Westen offenbar, dass auch der Rest der Weltbevölkerung ein genauso lockeres Verhältnis zur umgebenden Kultur entwickelt". Ich denke, da liegt - neben der jeweils eigenen Propaganda, die liberale Werte als von außen und als das Böse verkauft, unpassend zum eigenen Nationalcharakter (da waren wir Deutsche vor 1945 ja auch spitze drin) der Hase im Pfeffer.
Denn tatsächlich hängt unsere liberale Ordnung ja gerade am "leben und leben lassen". In dem Moment aber, in dem ich eine bestimmte Sichtweise als übergeordnet betrachte - etwa die Staatsinteressen eines autokratischen Regimes, oder die Religion eines theokratischen - ist das unmöglich. Ich kann kein lockeres Verhältnis zum Patriotismus haben, wenn Dissens Landesverrat ist, und ich kann kein lockeres Verhältnis zu Religion haben, wenn die nicht Privatsache ist, sondern mein Land ein Vorkämpfer zur Verhinderung der Apokalpyse, die durch die Ungläubigen hervorgerufen wird.
Das heißt aber nicht, dass wir auf unsere Werte verzichten sollten. Ich denke vielmehr, dass wir wie im Kalten Krieg wieder mehr kommunizieren müssen, welche wir eigentlich haben und sie als aktive Weltanschauung anstatt als neutrale Prämisse betrachten. Es wird nie möglich sein, ohne Heuchelei auszukommen; auch unsere liberalen Werte sind ein Ideal, an dem wir uns ausrichten, nicht ein Regelwerk, an das wir uns immer und unter allen Umständen halten können. Das war auch noch nie anders. Aber wir müssen wieder attraktiver werden, und dazu gehört, das Konzept des Wohlstands wieder stärker mit diesen liberalen Werten zu verknüpfen. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Es hat in diesem Fall auch den Charme, dass das stimmt.
5) The 1950s Are Greatly Overrated
It’s possible to find people on both sides of the political aisle who wax nostalgic for the 1950s. Many on the right wish for a return to the country’s conservative mores and nationalist attitudes, while some on the left pine for the era’s high tax rates, strong unions and lower inequality. But despite the period's rapid economic growth, few of those who long for a return to the 1950s would actually want to live in those times. For all the rose-tinted sentimentality, standards of living were markedly lower in the '50s than they are today, and the system was riddled with vast injustice and inequality. [...] So life in the 1950s, though much better than what came before, wasn't comparable to what Americans enjoyed even two decades later. In that space of time, much changed because of regulations and policies that reduced or outlawed racial and gender discrimination, while a host of government programs lowered poverty rates and cleaned up the environment. But on top of these policy changes, the nation benefited from rapid economic growth both in the 1950s and in the decades after. Improved production techniques and the invention of new consumer products meant that there was much more wealth to go around by the 1970s than in the 1950s. Strong unions and government programs helped spread that wealth, but growth is what created it. (Noah Smith, Bloomberg)
Ich bin über diesen Thread von Noah Smith noch einmal auf diesen älteren Artikel gestoßen. Ich finde es immer wieder faszinierend, dass die Romantisierung der Wirtschaftswunderzeit sowohl von links als auch rechts (wenngleich unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen) relevant ist. Der alte Spruch "Linke wollen in den 50ern arbeiten, Rechte wollen in den 50ern nach Hause kommen" ist nicht ohne Grundlage. Ich habe aber das Gefühl, dass das langsam abnimmt. Diese Begeisterung für die scheinbare Wachstums-Gleichheit der Epoche spielt vor allem in der klassischeren Linken eine Rolle (das Wagenknecht-Milieu) und hat wegen des offensichtlich konservativen Charakters der Epoche wenig Attraktivität für die progressive Linke. Umgekehrt scheinen mir die 1950er Jahre inzwischen auch als konservativer Referenzrahmen einfach zu weit weg und fremd zu sein. Aber ich mag mich täuschen.
6) Exxon Scientists Predicted Global Warming, Even as Company Cast Doubts, Study Finds
A new study published Thursday in the journal Science found that over the next decades, Exxon’s scientists made remarkably accurate projections of just how much burning fossil fuels would warm the planet. Their projections were as accurate, and sometimes even more so, as those of independent academic and government models. Yet for years, the oil giant publicly cast doubt on climate science, and cautioned against any drastic move away from burning fossil fuels, the main driver of climate change. Exxon also ran a public relations program — including ads that ran in The New York Times — emphasizing uncertainties in the scientific research on global warming. [...] The company’s scientists, in fact, excluded the possibility that human-caused global warming was not occurring, the researchers found. [...] “What I am surprised about is that despite all of this knowledge within the company,” Dr. Garvey said, “they continued down the path that they did.” (Hiroko Tabuchi, New York Times)
Es ist krass albern, dass die NYT das als "breaking news" ankündigt. Diese Kriminalität ist lange bekannt; ich habe darüber auch in der Rezension zu "Losing Earth" ausführlich geschrieben. In meinen Augen sind diese Leute, auch wenn das, was sie gemacht haben, nicht strafbar ist, Verbrecher. Wahrscheinlich sind die Verantwortlichen mittlerweile tot oder nahe dran, aber eigentlich bräuchte es echt so was wie ein Nürnberger Sondertribunal. Ich weiß, dass das sehr radikal ist, aber diese mutwillige Bereitschaft, für den Profit unsere Lebensgrundlagen zu zerstören, ist einfach atemberaubend. Dieses Pack gehört mindestens sozial geächtet und ihr Ansehen entsprechend behandelt.
7) Schluss mit der Umverteilung von arm nach reich
Die Betroffenen sind überproportional Menschen mit geringen Einkommen und mit niedrigen Rentenansprüchen, sodass ein Anstieg des Renteneintrittsalters zu mehr Ungleichheit bei der gesetzlichen Rente führt und die Altersarmut befördert. Zudem würde eine Erhöhung somit nicht zwingend zu mehr Nettoeinnahmen führen. Der klügere Weg wäre daher, das Renteneintrittsalters zu flexibilisieren und Hürden für einen späteren Renteneintritt für diejenigen Menschen abzubauen, die länger arbeiten wollen und können. Dies wäre nicht nur eine gerechtere, sondern auch eine ökonomisch und finanziell bessere Option. [...] Es gibt bessere Lösungen, um die gesetzliche Rente ausgewogener und gerechter zu gestalten. Dazu gehört nicht nur, die Beitragsbemessungsgrenze zu erhöhen und Selbstständige und Beamte stärker in die gesetzliche Rente einzubeziehen. Die wichtigste Reform ist eine neue, bessere Definition des Äquivalenzprinzips. Das besagt, dass jeder Euro an Beiträgen den gleichen finanziellen Anspruch an monatlichen Rentenzahlungen erzielt. Dies klingt ausgewogen und gerecht, ist es aber nicht. Denn Menschen mit geringen Einkommen haben nach Renteneintritt eine fünf bis sieben Jahre geringere Lebenserwartung als Menschen mit hohen Einkommen. Damit die deutsche gesetzliche Rente eine Umverteilung von unten nach oben, von arm zu reich. [...] Eine kluge Rentenreform in Deutschland sollte zwei weitere Elemente enthalten. Zum einen sollten Menschen mit geringen und mittleren Einkommen stärker bei den Reformen der betrieblichen oder privaten Vorsorge berücksichtigt werden. [...] Außerdem muss die Politik Hürden aus dem Weg räumen und den Arbeitsmarkt reformieren, sodass es weniger prekäre Beschäftigung und mehr Beschäftigung und Einkommen gibt. Die wichtigste Reform, um die gesetzliche Rente zu stärken, hat also nichts direkt mit dem gesetzlichen Rentensystem zu tun, sondern mit dem Arbeitsmarkt. Der beste Weg, um Menschen im Alter besser abzusichern und die Altersarmut zu minimieren, sind gute Löhne und Einkommen und eine durchgehende oder zumindest möglichst lange Beschäftigung. (Marcel Fratzscher, ZEIT)
Unabhängig davon, was man von Fratzschers Vorschlägen auf der Policy-Ebene denkt (dazu gleich mehr), finde ich das sprachliche Framing mit dem "klug", das mehrfach auftaucht, ziemlich typisch. Denn "kluge" Politik ist immer, wovon man selbst überzeugt ist, aber in der Darstellung kommt das so als objektiv daher, als ob keinerlei spezifische Interessen dahinterstünden. "Kluge" Politik nimmt für sich in Anspruch, das objektiv Beste für alle zu sein. Eine solche Politik existiert nicht, und ich kann diese intellektuelle Unehrlichkeit nicht leiden, die eigenen Interessen, Prämissen und Vorlieben offenzulegen.
Auf einer Policy-Ebene sind die Vorschläge grundsätzlich nicht falsch, wenngleich sie höchstens am Problem der Finanzierung etwas drehen, nicht aber an dem des Rentenniveaus. Denn die Renten sind ja für die Leute, denen er sie hier über die Kürzung des Äquivalenzprinzips kürzen will, eh schon viel zu niedrig. Seine Reform macht die Rente endgültig unzureichend. Das kann man schon machen - als eine Art Grundrente, die zwingend privater Vorsorge bedarf - das muss man dann aber auch offen machen und kann nur schwierig auf dem Niveau der aktuellen Beiträge legitimiert werden. Die aber kann man nicht senken, denn um die Finanzierung geht's ja gerade.
Und da beißt sich die Katze auch politisch in den Schwanz, denn die Gruppen, denen Fratzscher hier ans Leder will, sind genau die, die wählen gehen. Diese Ideen umzusetzen ist politischer Selbstmord. Ich halte deswegen wenig von Reformideen, die nur im luftleeren akademischen Raum funktionieren und die den Realitätstest mit der echten Politik keine Sekunde überleben.
8) The Less Talked About Part of Kevin McCarthy’s Deal With Republican Radicals
The closing of the frontier, the growth of industrial capitalism and the transition to wage labor for most workers forced Americans to rethink the terms of republican freedom. Populism — the insurgent movement that emerged in the late 19th century to put national economic life under democratic control by the “common people” — was one attempt to renegotiate the terms of American freedom. The more elite-driven Progressive movement, coming as it did in the wake of the collapse of the Populist Party, was another. For the Populists, freedom meant popular control over economic decision-making. For Progressive intellectuals like Walter Lippmann, it meant security from economic want. “Instead of hanging human dignity on the one assumption about self-government,” Lippmann wrote, “you insist that man’s dignity requires a standard of living.” Government, then, is judged according to whether it is producing “a certain minimum of health, of decent housing, of material necessities, of education, of freedom, of pleasures, of beauty, not whether at the sacrifice of all these things, it vibrates to the self-centered opinions that happen to be floating around in men’s minds.” You can think of the New Deal, in this context, as an attempt to synthesize the Populist and Progressive conceptions of freedom. Organized through industrial unions, workers have the power to shape their collective economic fate and, in turn, use the administrative capacity of the state to secure their economic footing and provide freedom from want and from dependency on the arbitrary power of private employers. Of course, for the employers, this kind of arbitrary power is just another name for “liberty,” and a large part of the conservative opposition to social insurance and the welfare state stems from the belief that this expansion of state power is a threat to the sanctity of the market and the liberty of individuals to act within it. (Jamelle Bouie, New York Times)
Der Begriff der "Freiheit" ist ein ideologisch höchst umstrittener, in den USA viel mehr als etwa in Deutschland (wo er von einer Seite des politischen Spektrums quasi monopolisiert wurde). Aber Bouies Zusammenstellung hier zeigt wieder einmal deutlich, dass er Begriff keine inhärente, objektive Definition hat. Freiheit ist, was auch immer man darunter versteht. Und keine dieser Definitionen ist perfekt: letztlich wird jeder Freiheitsbegriff jemand anderem nicht ausreichen, wird die Freiheit anderer auf anderen Feldern beschneiden.
Meine Freiheit von Mangel ist deine Unfreiheit im unternehmerischen Handeln, deine Meinungsfreiheit ist meine Unfreiheit von rassistischer Diskriminierung, und so weiter und so fort. Welches Ausmaß an Freiheit wir in welchen Bereichen haben und wo wir bereit sind, Einschnitte vorzunehmen, ist Ergebnis langer gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Die europäischen Länder sind da im Schnitt zu anderne Ergebnissen gekommen als die angelächsischen, aber auch innerhalb Europas oder zwischen dem UK und den USA gibt es zahlreiche Unterschiede. Man kann immer für eine andere, gefälligere Form der Freiheit trommeln, aber man sollte nicht den Fehler machen, die eigenen Vorlieben absolut zu setzen.
"The current system to ferret out wrongdoers is terrible," says Alexis Leondis in Bloomberg, and House Republicans' effort to block the IRS' new funding "would only make it worse." The tax gap — "the difference between what taxpayers owe and what they actually pay" — was $496 billion a year from 2014 through 2016, and even after audits and enforcement the agency was only able to collect $68 billion, or 14 percent of taxes "owed but not paid." The agency just doesn't have the resources to conduct enough audits on "the people who owe the most," and the funding boost Republicans are trying to rescind is intended to help fix that. Depriving the IRS of resources benefits the richest taxpayers. A big share of the tax gap is attributed to "sophisticated" sole proprietors who report "well above $400,000 in business income on personal returns pass-through business owners, according to a former IRS commissioner. And the audit rate on individual taxpayers making $1 million or more has "dropped from 8.4 percent in 2019 to just 2.4 percent in 2019." And the lost opportunity to make sure wealthy taxpayers are paying their fair share is only part of the problem with the GOP attempt to block this new money. The Congressional Budget Office estimated this week that the House bill "would cut government revenue by almost $186 billion and increase the budget deficit by $114 billion over the next 10 years." (Harold Maass, The Week)
Es ist die uralte Agenda der Republicans: Steuergeschenke für die Superreichen auf Kosten der Allgemeinheit. Das passt gut zur generellen Tendenz der Sabotage des Staates. Das Praktische aus Sicht der GOP ist, dass sie auf die Art die unpopuläre offizielle Methode umgehen - ein Gesetz einbringen und durchziehen - wofür sie elektoral abgestraft werden, sondern auf technischem Weg die Effizienz des Staats zerstören, was den gleichen Effekt hat, aber abgesehen von einigen Policy Wonks von niemandem bemerkt wird - außer den reichen Spender*innen natürlich, die genau wissen worum es geht und was ihnen ihre Dollars kaufen.
10) CDU-Generalsekretär will Deutschpflicht auf Schulhöfen (Lehrer sollen sie kontrollieren)
CDU-Generalsekretär Mario Czaja will fremdsprachigen Schülern verbieten lassen, sich in der Schule während der Pausen in ihrer Muttersprache zu unterhalten. «Es geht nicht, dass auf den Schulhöfen andere Sprachen als Deutsch gesprochen werden“, sagte er in einem Interview der «Welt». Überhaupt dürfe generell kein Kind ohne Deutschkenntnisse eingeschult werden, forderte Czaja. Stattdessen solle es zuvor verpflichtende Besuche von Kitas oder Vorschulen mit Sprachunterricht geben. Kritik an dem Vorstoß kam prompt. [...] Weiter betonte der CDU-Generalsekretär: «Davon abgesehen sollte konsequent darauf geachtet werden, dass in den Schulen vor allem Deutsch gesprochen wird. Es geht nicht, dass auf den Schulhöfen andere Sprachen als Deutsch gesprochen werden. Dazu müssen Schulen, gerade dort, wo viele Migranten leben, gestärkt werden. Durch Sozialarbeiter, Sprachmittler und Sozialpädagogen. Sie, aber auch die Lehrkräfte und Schulleitungen, müssen aber dann auch dafür Sorge tragen, dass die Schülerinnen und Schüler unsere Sprache sprechen. Ansonsten entstehen schon in den Schulen Parallelgesellschaften.» [...] In der Schweiz, wo immer wieder die Forderung nach einer Deutschpflicht auf Schulhöfen aufkommt, hatte der Aargauische Lehrerinnen- und Lehrerverband unlängst eingewandt, ein Verbot für Schülerinnen und Schüler, andere Sprachen zu sprechen, sei von Lehrkräften gar nicht kontrollierbar. (News4Teachers)
Die Verbotspartei ist wieder dabei. Wann immer irgendwo in Deutschland Sprechverbote diskutiert werden, kann man sicher sein, dass in Klammern ein CDU hinter dem Namen steht. Dass ausgerechnet diese Partei sich zur Wahrerin der Freiheit und als Partei gegen Sprechverbote und Political Correctness, Cancel Culture oder was auch immer stilisiert, ist echt nur ein Treppenwitz. Es bestätigt einmal mehr meine Dauerkritik: niemand ist pauschal gegen Verbote oder Einschränkungen; es kommt immer nur darauf an, ob man ihnen zustimmt. Das ist partei- und lagerübergreifend so, und die Heuchelei der Behauptung des Gegenteils ist einfach nur noch nervig.
Die Idee selbst ist einfach kompletter populistischer Unfug. Ein solches Sprachverbot ist überhaupt nicht durchsetzbar. Pausenaufsichten kriegen ja schon kaum die normale Aufsicht unter, also dass da nicht gerannt, geprügelt, geschubst und so weiter wird. Wie soll ich denn dann auch noch Sprache kontrollieren, geschweige denn sanktionieren? Einmal abgesehen davon, dass man den Kindern damit kommuniziert, dass sie "falsch" und unerwünscht sind, dass ihre Identität nicht akzeptabel ist - alles Faktoren, die psychisch unglaublich belastend sind und alle möglichen Schäden anrichten, aber eines ganz sicher nicht tun: die Integration befördern. Typisch CDU, einfach.
Resterampe
a) Gute Erklärung, warum die Tories so radikal Politik für Autofahrende machen. In guten Teilen auch auf Deutschland anwendbar.
b) Super Beispiel für absurde Bürokratie bei der Bundeswehr.
c) Und die Probleme im Beschaffungswesen.
d) "Freiheit" ist Unwort des Jahres. Ziemlich überzeugende Begründung.
e) Interessanter Beitrag zur Filmadaption von Videospielen. Johannes Frantzen hat eine sehr gute Erwiderung/Ergänzung dazu.
f) Großartiger Artikel zu Götz Aly und seiner These vom NS-Wohlfahrtsstaat.
g) Sehr guter Thread zu den deutsch-polnischen Beziehungen.
h) Ebenso guter Thread zu geschlechtergerechter Sprache.
i) Guter Punkt zur deutschen Energiepolitik.
j) Gute Zusammenstellung von aktuellen Ökonom*innenmeinungen aller möglichen Richtungen zum Thema Klimawandel und Wirtschaft.
k) What does woke mean, anyway?
l) Gute Warnung von Timothy Snyder.
m) Interessanter Beitrag zur Kolonialismus-Debatte.
n) Guter Punkt zum ÖRR.
o) Sehr gute Gedanken zu Lützerath.
p) Spannender Thread zum Sinn und Unsinn eines "Ukraine Special Tribunal".
q) Relevante Wortmeldung einer Holocaust-Überlebenden.
r) Wokism außer Kontrolle. Echt albern.
s) Gute Einschätzung der Vorgänge in Brasilien.
t) Heftige israelische Kritik an der neuen Regierung Netanyahu.
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