Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Was, wenn die besten Jahre vorbei sind?
Dies ist keine Untergangsprognose, kein Doomismus, kein Adventismus. Für viele Menschen wird das Leben in zwanzig oder dreißig Jahren die meiste Zeit über sehr gut sein und für einige sogar viel besser als das Leben heute. Wir stehen nicht am Ende von allem, nur am Ende der begründeten Hoffnung auf das »immer besser«, das natürlich, dazu gleich mehr, bis zu einem gewissen Grad immer eine Illusion war, ein Selbstbetrug. Es bedeutet dennoch eine Schubumkehr der Geschichte. Die Notwendigkeit, uns völlig neu in der Zeit zu orientieren, politisch, als Gesellschaft, als Einzelne. Sind wir darauf auf nur ein kleines bisschen vorbereitet? Auf die Scham, die Angst, die Schuld, die Konflikte, die Unsicherheit, die neuen Fragen? [...] Gesellschaften, die den Mangel verwalten mussten, gab und gibt es reichlich. Kollektive, die den sicheren Untergang vor Augen haben, ebenfalls. Aber wie entwirft man in dieser Zwischenwelt ein politisches Programm, das mitreißt und anschiebt, aber dabei trotzdem ungeschönt die Wirklichkeit anerkennt? Wie orientiert sich eine Gemeinschaft, die weder der Apokalypse entgegensieht noch der goldenen Zukunft, sondern der stetigen Erosion? (Jonas Schaible, SpiegelOnline)
Genau diese von Jonas angesprochene Thematik habe ich als das "Sandwich-Problem der Politik" bezeichnet. Völlig unabhängig davon, was man von den jeweiligen Maßnahmen hält - Degrowth, massive Investments, was auch immer -, sind diese Schübe so riesig, die Herausforderungen so gewaltig und die Maßnahmen so umfassend, dass sie im Rahmen normaler demokratisch-pluralistischer Politik überhaupt nicht bewältigbar sind. Angesichts der Unmöglichkeit, in so großem Ausmaß zu handeln, verfällt man dann gerne in den Schwarz-Weiß-Trugschluss, dass dann gar nichts möglich ist, und ignoriert den "Kleinkram" in der Mitte des Sandwichs, der zwar das Problem individuell nicht löst, in der Summe aber viel beiträgt.
2) How do you solve a problem like Facebook?
[...] it's pretty common knowledge that Facebook discovered early on that outrage was the emotion that kept people engaged and kept them coming back. So their algorithms were tuned to focus on posts that created outrage. In the political world that means hard left and hard right. I assume that our editorial colleagues on the conservative side faced similar pressures from Facebook in the opposite direction. So we ended up with small but influential cadres of insane wokeness on the left and big influential cadres on the right who produced Donald Trump. Things were always worse on the right because Facebook never had as much control there. Fox News was the big kahuna, and they controlled the outrage. Unluckily for all of us, they preferred more outrage than Facebook. That was their business from the start, after all, not just the bloodless consequence of geeks tuning an algorithm to get more hits. Dialing down this outrage is the task of the rest of the decade. We just have so many bigger fish to fry than whether critical race theory is taking over our kindergartens or cutting early voting by three days is bringing back Jim Crow. But I don't know how we're going to get there. (Kevin Drum, Jabberwocky)
Ich will zu Beginn die Prämisse Drums stützen, dass es a) überhaupt ein Problem ist und b) eines, das "wir" lösen müssen. Denn letztlich ist Facebook (pars pro toto, in meinem Verständnis) ein Privatunternehmen, das ein Produkt anbietet. Aber ich habe hier schon öfter gesagt, dass das ein Kategorienfehler ist: letztlich stellt Facebook (wie auch Twitter et al) einen öffentlichen Raum dar, der eben nicht dem Verfügungsbereich eines Privatunternehmens unterliegt.
Die von ihm kritisierte Dynamik ist ja auch kein Problem, das nur Facebook betrifft, wie er das ja auch sagt. Nur dass es dort eben einprogrammiert ist und ohne weiteren menschlichen Input passiert, während Leute wie Tucker Carlson sich jeden Tag aufs Neue dazu entscheiden, das zu tun. Ich wüsste aber nicht, wie man eine vernünftige Regulierung schreiben sollte, die den Algorithmus vorschreibt, der dieses Problem umgeht. Ein wirklich hartes Problem.
3) Kyrsten Sinema Is Playing Chicken
Sinema’s declaration of independence from the party is a ploy to avoid the primary and keep her job. Democrats could still run a candidate against her in the general election, of course, but they would face an extremely difficult prospect of winning. So her calculation in leaving the party is that she can bluff it into sitting out the campaign altogether, endorsing her as the lesser-evil choice against the Republican nominee. It may work. If it doesn’t, it is because Sinema has underestimated just how much ill will she has generated across the breadth of the Democratic Party by reconceptualizing her role as the personal concierge of the superrich. In an op-ed announcing her move, Sinema presents her defection from the party as a response to popular demand, lacing the prose with repeated references to “everyday Americans,” such as: “There’s a disconnect between what everyday Americans want and deserve from our politics, and what political parties are offering.” That may be true, but the problem is that everyday Americans demonstrably do not want what Sinema is offering. The primary disconnect in American politics is that Democrats are to the left of the public on social issues, and Republicans to the right on economic issues. Both parties are pulled to these extremes by activists and donors. Sinema’s unique brand is a more extreme version on both dimensions. She has combined a cosmopolitan, progressive social-issue profile with a far-right economic agenda, the appeal of which is confined to an extremely rarified circle of affluent libertarians. [...] Sinema’s willingness to carry water for even the most politically toxic elements of the plutocratic agenda has generated cynicism and suspicion on the left. But it is difficult to discern any personal interest she is advancing through these positions. That she has put her own political future at risk suggests the motivating force is genuine conviction, albeit of a pathetically gullible variety. Sinema seems to have grown so receptive to special pleading from the wealthy that she is unable to distinguish between their interests and those of the public. (Jonathan Chait, New York Times)
Das amerikanische primary-System funktioniert nicht richtig, das wird hier einmal mehr klar. In der Theorie sollte es dazu führen, dass die Kandidat*innen vorher bereits durch eine Art Auswahlprozess laufen und dass entsprechend Auswahl existiert. In der Praxis verzerren aber mehrere Faktoren diesen Prozess in eine sehr ungesunde Richtung. Der erste Faktor, und der wichtigste, ist die Polarisierung der US-Politik. Dadurch, dass sich keine Seite vorstellen könnte, unter irgendwelchen Umständen Kandidat*innen der Gegenseite zu wählen, gibt es keinerlei Anreiz zur Moderation.
Das führt zum zweiten Faktor, denn die Vorwahlen haben eine extrem geringe Wahlbeteiligung (zwischen 5-15% üblicherweise) und sind heftig in Richtung der jeweiligen Aktivist*innen verzerrt, weswegen radikale Kandidat*innen bessere Chancen haben. Je sicherer ein Wahlkreis, desto ideologisch randständiger kann ein*e Kandidat*in sein. In Sinemas Fall kann sie sich halten, weil das Mehrheitswahlrecht des US-Systems bedeutet, dass entweder sie oder ein Republican gewählt wird. Obwohl praktisch niemand sie will, hat sie deswegen gute Chancen, im Amt zu bleiben - ein perverses Resultat.
Gute Auswege sind gar nicht so schwer. Jeder erste Parkplatz an jeder Ecke einer Straßenkreuzung könnte – mit Pollern gesichert – ein Radstellplatz werden. Aufwand und Verlust wären gering, die Sicht auf die Straße besser, Fahrräder verschwänden von Gehwegen. Leihfahrzeuge müssten generell auf der Straße geparkt werden, ebenso Motorräder – theoretisch geht das laut Verkehrs- und Umweltsenatorin Bettina Jarasch jetzt schon; praktisch ändert sich das nur mit dafür abgesperrten Flächen. Vor Schulen und Kitas könnte wie in Paris der Bürgersteig so verbreitert werden, dass hier keine Autos mehr halten – so wären Kinder weniger gefährdet. Dazu bessere Ampelschaltungen, klar. Und es muss sowieso mehr gehen: Für einen klimagerechten Umbau Berlins braucht es Grünstreifen, Versickerungsflächen, Trinkbrunnen, auch Bänke für älter werdende Menschen in einer heißer werdenden Stadt. Warum sollte all das auf Bürgersteige gepflanzt werden und die klimafreundlichste Fortbewegung behindern? Es führt kein Gehweg dran vorbei: Das herumstehende Auto muss dem herumgehenden Menschen mehr Platz machen. Aus Standstreifen müssen städtische Mischstreifen werden. Berlin wäre dann nicht Bullerbü, sondern wirklich eine moderne Metropole. (Robert Ide, Tagesspiegel)
Bevor jemand denkt, dass hier mal wieder nur grüne Fanatiker*innen das Auto zerstören wollen, auch der FDP-Politiker Johannes Vogel bläst in dieses Horn. Die einseitige Ausrichtung der Verkehrsinfrastruktur auf das Auto wird in den kommenden Jahren mit Sicherheit mehr und mehr in die Kritik geraten und ihren Status als "normal" verlieren. Für die Metropolen scheint mir dieser Prozess langsam auch in Gang zu kommen, wenngleich Deutschland da international noch Nachholbedarf hat. Aber für alles, was nicht Millionenstadt ist, sehe ich bislang keinerlei Konzepte vorliegen. Zwar wird gerne betont, dass der ÖPVN für "Menschen auf dem Land" (eine extrem fluide Kategorie) keine Alternative darstellt, weil viel zu wenig in der Fläche verankert, aber was genau dann die Alternative ist, bleibt merkwürdig unbeantwortet.
Das war kein Versehen, kein Ausrutscher und schon gar kein Einzelfall, genauso wenig wie die gemeinsame Abstimmung mit der AfD in der Woche zuvor. Da rechtfertigte sich die CDU-Fraktion im Kreistag mit dem ebenfalls bekannten Argument, es gehe auf kommunaler Ebene nicht um Parteipolitik oder „Kindergartenspielchen“, wie sich der CDU-Fraktionschef im Kreistag ausdrückte, sondern um die Sache. Und Witschas, der ebenfalls mit der AfD gestimmt hatte, ergänzte, dass er „mit allen Kreisräten vernünftig“ zusammenarbeite. Also auch mit jenen von der AfD. Oder vielmehr: gerade mit jenen von der AfD. Denn der Antrag, Integrationsleistungen für abgelehnte Asylbewerber zu kürzen, hat mit Sachpolitik wenig zu tun. Es geht dabei lediglich um Zuschüsse des Landkreises zu Sprachkursen oder Beratungen zu Kita- und Schulbesuch, insgesamt eine überschaubare Summe. Für die Einwohner würde das keinen Unterschied machen, für einige Asylbewerber sehr wohl. Und genau darum geht es. Der Antrag oder Reden wie die von Witschas’ Video besitzen einen hohen Symbolgehalt. Die CDU-Basis rebelliert damit gegen eine Asylpolitik, die sie nach Merkels Abschied nun durch die Ampelkoalition in Berlin auch noch verschärft sieht. Es geht darum, „denen da oben“, also in Berlin und auch dem Westen, von dem man sich ohnehin nicht verstanden fühlt, eins auszuwischen. Und die entsetzten, zum Teil auch maßlos übertriebenen Reaktionen von dort bestärken die Verursacher insgeheim in dem Gefühl, die Schmerzpunkte getroffen zu haben. [...] Allerdings geht es manchen in der Union auch um tatsächliche politische Nähe, die sie zur AfD fühlen. Dafür spricht, dass viele in der sächsischen CDU auch mit Vertretern der Linken persönlich vertraut sind, aber mit ihnen nicht gemeinsame Sache machen. Im Gegenteil. Da funktioniert die Abgrenzung, die von der Basis nicht nur begrüßt, sondern eingefordert wird. [...] Die Linke sei eine verfassungsfeindliche Partei, heißt es an der CDU-Basis. Auf die Frage, ob selbiges auch auf die AfD zutreffe, gibt es sehr differenzierte Antworten. Selbst über abfällige Äußerungen, Beleidigungen und Beschimpfungen durch AfD-Vertreter sehen CDU-Mitglieder erstaunlich großzügig hinweg. (Stefan Locke, FAZ)
Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass es nicht mehr lange dauert, bis wird wir in Sachsen oder Thüringen die erste CDU-AfD-Koalition haben. Es ist auffällig, wie sehr die östlichen Landesverbände von der Bundes-CDU emanzipiert sind. Ich kenne mich zu wenig aus, um zu wissen, ob das mit der SPD ähnlich ist; die ersten Koalitionen mit der LINKEn gab es ja auch hier. Weiß da jemand mehr? Aber Merz scheint mir da auf einem ziemlichen Pulverfass zu sitzen. Die Bundes-CDU hat eine Linie vorgegeben, die von den Landesverbänden mindestens mal Thüringens und Sachsens, gelinde gesagt, so nicht geteilt wird. Das ist ganz schön explosiv, und ich bezweifle ehrlich gesagt, dass Merz sich dem ernsthaft entgegenstellen könnte. Diese Frage hat die SPD jahrelang zerrissen und mindestens mal Kurt Becks Vorsitz torpediert, aber an der Quadratur dieses Kreises scheiterten sie letztlich alle.
6) Government action to hold down energy bills will save lives in Europe
Even with government interventions, prices this year are far higher than they were from 2000 to 2019. This is the period our model used to determine the relationship between energy prices and deaths. It is impossible to know whether the relationship remains the same now. Assuming it does, we estimate that price cushions on residential retail electricity in our set of 19 countries will reduce energy prices by around 22% on average, and cost around €140bn between October 2022 and April 2023. We estimate that this will save around 75,000 lives over the same period—at an average cost of €1.8m per person saved. The advantages of that spending for its beneficiaries go beyond saving lives: many people will be warmer, will have more to spend on other essentials and will have greater peace of mind (although the reverse will be true for those suffering from higher prices elsewhere in the world as a result of these subsidies). More targeted measures might have done this more cheaply, and resulted in better conservation of scarce global energy supplies. Data collected by Bruegel, an economic think-tank, on 29 European countries—the 27 EU states plus Britain and Norway—indicate that all but two have introduced cash transfers to vulnerable groups on top of price subsidies. Studies have shown that such targeted transfers reduce the number of deaths over winter, and improve the health of elderly people by enabling them to heat their homes. The exact impact that these measures will have this year is hard to model. Confining support to poor households and the old may be a cheaper way of reducing the death toll this winter. But most governments have chosen to cut the cost of cosiness for everyone. (The Economist)
Einmal abgesehen davon, dass diese Rechnungen sich immer leicht pervers anhören, sollte eigentlich nichts davon allzu überraschend sein. Es sterben weniger Leute im Winter, wenn sie nicht frieren müssen? Das wussten schon die Höhlenmenschen. Und dass direkte Geldtransfers die beste und effizienteste Methode aller sozialstaatlichen Leistungen sind, schreibe ich hier schon seit Jahren. Wären Transfers nur für die ärmeren Schichten die effizientere Methode gewesen? Ohne Zweife. Waren sie politisch möglich? Ohne Zweifel nicht. Seit dem Beginn der Krise um die Gaspreise im letzten Oktober war für mich klar, dass der Staat in irgendeiner Weise intervenieren würde. Kein Staat kann solche Preissteigerungen im Grundbedarf der Menschen hinnehmen und erwarten, seine Legitimität zu behalten. Und genauso kam es auch.
7) How Vaccine Skeptics Took Over the Republican Party
It is worth noting that DeSantis didn’t have a surgeon general on hand who happened to turn crazy on vaccines. He recruited him from out of state specifically because of his crank anti-vaccine beliefs. DeSantis took these steps, because the anti-vaccine movement is a vocal constituency within his party. Promoting vaccine skepticism wins over support without alienating pro-vaccine conservatives, who continue to justify his position as merely anti-mandate. The asymmetry of willpower between the fanatics and people who are determined to remain their coalition partners has shifted the party’s center of gravity sharply rightward. Not only have Republicans turned against the COVID vaccine, but they are turning against other vaccines. One survey finds only 22 percent of Republicans have gotten a regular flu shot this fall — as opposed to 49 percent of Democrats. In a healthy party, pro-vaccine Republicans would be able to fight back. But on this issue, just as has happened with all the others, they have helplessly allowed the fanatics to win. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Kevin Drum beschreibt die Dynamik als "Out-Trumping Trump". Die Kandidat*innen überbieten sich gegenseitig in radikalem Quatsch. Vieles davon ist vorauseilender Gehorsam: um sich ja keine ideologische Blöße zu geben, rammt man die Pflöcke so weit außen ein wie irgendwie möglich. Das wird durch das Wahlsystem auch direkt belohnt (siehe Fundstück 3). So werden viele Themen auch identitätspolitisch aufgeladen, die eigentlich gar keinen großen Bezug zu den "normalen" ideologisch dominierten Themen haben, wie etwa die Impfungen. Die Zahlen übrigens sprechen für sich: Republikanisch regierte Staaten haben 11% höhere Sterberaten an Covid als demokratisch regierte; Gebiete, in denen viele Konservative leben, sogar 26%. Dieser Mist kostet Menschenleben, und zwar auf der einen Seite des politischen Spektrums wesentlich mehr als auf der anderen.
8) Ohne Störenfried kein Fortschritt
Es liegt dabei in der Logik der Sache, dass die Störer einer gegebenen Ordnung an den Rand gedrängt werden. So war es mit bei den Protestbewegungen der Studierenden in den Sechzigerjahren, die verkrusteten Strukturen den Kampf angesagt hatten, der Frauenbewegung, die die Familienordnung störte, oder bei der Antiatomkraftbewegung in den Achtzigerjahren. Und wir erleben es aktuell ebenso bei den Protesten im Iran wie bei der Letzten Generation. Zu den Geschichten und der Geschichte dieser Bewegungen gehört auch, dass sich die Schwellen des Abweichens stückweise vergrößern, je nachdem, wie auf Impulse reagiert wird. Sich selbst und den straffreien Lebenslauf riskieren, ist sicher nicht der erste gewählte Schritt von Aktivistinnen. [...] Dabei wurde geflissentlich übersehen, dass diese Bewegung sich in ihren Forderungen eben nicht gegen bestehende Gesetze oder Rechtsordnungen wendet, sondern deren Einhaltung und Verschärfung einfordert. [...] Dass diese Reaktionen so schnell und heftig ausfielen, ist bemerkenswert, besonders wenn man sie mit dem Umgang mit anderen Gruppen in den vergangenen Jahren vergleicht, die sich weder um wissenschaftliche Evidenz scheren (radikale Corona-Leugner und Verschwörungserzählgruppen aus anderen Bereichen beispielsweise) noch demokratische Werte schätzen, diese sogar bekämpfen wie die Reichsbürger. (Thomas Beschorner, ZEIT)
Ich habe diese Interpretation der Proteste der Letzten Generation - "Sie fordern nur die Einhaltung bestehender Gesetze" - schon öfter gelesen und halte sie für einen Irrtum. Die Aktivist*innen fordern nicht nur die Einhaltung und Verschärfung bestehender Regeln ein, sondern gehen darüber hinaus. Ich weiß, dass sie in ihren Policy-Forderungen gerne vergleichsweise moderat daherkommen (was es dann Sympathisant*innen erleichtert, die scharfe Rhetorik zu ignorieren), aber das sind Nebelkerzen. Würde die Ampel heute alle Forderungen erfüllen, würden diese Leute ja nicht einpacken und nach Hause gehen. Die Ideologien, die hinter der Letzten Generation und anderen solchen Aktivist*innen wie Extinction Rebellion stehen, sind nicht der breite Konsens der FFF-Bewegung vom Kampf gegen den Klimawandel, da stecken so randständige Überzeugungen wie Degrowth und eine grundsätzliche Bereitschaft, die Grenzen der Rechtsordnung zugunsten der Sache zu sprengen, drin. Ich halte wenig von solchen Verharmlosungen.
9) "Es ist nichts verloren, und nichts ist hoffnungslos" (Interview mit Karin Prien)
Mehr Koordination, aber weniger Koordinierungsrunden? Wie soll das gehen?
Das geht, wenn wir das KMK-Sekretariat so ausstatten, dass es die verschiedenen, oft parallel laufenden Strategieprozesse führen und ausfüllen kann und wir die Gremienstrukturen reformieren. Im Augenblick fehlt ihm dafür das Personal, es fehlt ihm das Selbstverständnis, es fehlt ihm auch der dafür nötige Auftrag durch die Länder. Im Moment führen das Sekretariat und auch weitere Gremien ein gewisses Eigenleben, das manchmal von der Arbeit in den Landesministerien abgekoppelt ist. Sicherlich ist seine Aufteilung in zwei KMK-Standorte, in Bonn und Berlin, auch nicht gerade förderlich. Doch jede Stärkung des Sekretariats hängt davon ab, dass die einzelnen Länder sie wollen und mitziehen. Die KMK kann nur stark sein, wie die Länder es zulassen.
Es gab mal einen stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden, dem schon diese KMK zu stark war. Ende 2004 warnte der damalige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulf, sein Land werde aus der Kultusministerkonferenz austreten, wenn es nicht zu "schlanken Strukturen" komme. Woraufhin das Sekretariat 20 Prozent der Stellen abgeben musste – und ihm das agile Selbstverständnis, das Sie fordern, gründlich ausgetrieben wurde.
Das war ein Verständnis von Bildungsföderalismus, das überhaupt nicht mehr kompatibel ist mit den Herausforderungen ans Bildungssystem, die wir heute sehen. Wenn jedes Land sich bei jedem Problem erstmal allein auf den Weg macht, ist das nicht nur total ineffizient, es wird auch nicht zu wirklich guten Lösungen führen. (Jan-Martin Wiarda)
Die Maus beißt sich beim Bildungsförderalismus permanent selbst in den Schwanz. Man verfolgt das Ziel einer größeren Vereinheitlichung, will aber auf gar keinen Fall von den länderspezifischen Idiosynkratien lassen. Das kann nicht gehen. Die mangelhafte Ausstattung der KMK sowohl an Personal als auch an Kompetenzen überrascht deswegen nicht; wie sollte es auch anders sein? Es gibt auch überhaupt keinen Konsens, in welche Richtung eine Vereinheitlichung überhaupt gehen sollte. Von der Frage der Gesamtschulen, die mittlerweile eigentlich nur noch als ideologische Kernbestände verhandelt werden, bis über die G8-oder-G9-Debatte hin zu den Inhalten des Bildungsplans gibt es überall Grundsatzstreitigkeiten, von den wirklich notwendigen, tiefergehenden Reformen - die überhaupt nicht auch nur am Horizont wetterleuchten - gar nicht zu reden.
10) Iran Uses Rape to Enforce Women’s Modesty
One gauge of the hypocrisy of the Iranian regime is that there are credible reports that it is enforcing its supposedly strict moral code by arresting women and girls accused of advocating immodesty, and then sexually assaulting them. [...] Accounts of sexual violence are difficult to verify because of the victims’ feelings of shame and fear, and CNN reported that the authorities sometimes film assaults to blackmail protesters into silence. What’s absolutely clear is that protesters keep turning up dead. [...] Fearless young girls are at the forefront of today’s protests. When a member of the Basij paramilitary force spoke at one school, the girls pulled off their hijabs and heckled him. At a girls’ school in Karaj, students threw water bottles at an official and chased him out. [...] Pressuring Iran is difficult, for it is already isolated and heavy sanctions have already been imposed on it. But we must try because Iran is now beginning its next phase: It has begun executing protesters to try to terrify the population into surrender. [...] More than four decades later, Iranians are desperately trying to pull themselves out of that well, led by schoolgirls who persevere despite the threat of arrests, torture and execution. They understand that gross immorality lies not in a girl’s uncovered hair but in the government that rapes her for it, and they should receive far more international support. (Nicholas Kristoff)
Auch das sollte eigentlich niemanden verwundern. Die religiösen Fundamentalisten reden ständig vom "Schutz" "ihrer" Frauen und der "Ehre", für die sie angeblich einstehen, aber das ist alles Kappes. Die Verwendung von Vergewaltigungen als Waffe sollen die Identität und die sozialen Bindungen dieser Menschen zerstören. Es ist letztlich eine Art der Kriegsführung, eine Kriegsführung eines diktatorischen Regimes gegen sein eigenes Volk. Leider gibt es aktuell wenig Anzeichen, dass die Proteste erfolgreich sein werden. Das Regime tötet, vergewaltigt, verstümmelt und verhaftet weiterhin. So inspirierend es ist, die Frauen des Iran so an der Spitze der Proteste zu sehen, so wenig dürften die Forderungen nach "international support" irgendetwas ausrichten. Wie sollte der auch aussehen? Die feministische Außenpolitik stößt hier an harte Grenzen, und das Schweigen Annalena Baerbocks zum Iran ist ohrenbetäubend - und nicht gerade ein Ruhmesblatt für die Außenministerin.
Resterampe
a) Niemand der Autofahrenden, die bei den Klimaprotesten keine Rettungsgasse gebildet und damit die Rettungskräfte behindert haben, hat eine Anzeige bekommen.
b) Diese Umfrage mit Selbst- und Fremdwahrnehmungen des politischen Spektrums ist hoch interessant.
c) Großartiger Thread über nationale Identitäten und Macht.
d) Thread über deutsche Geldpolitik im europäischen Kontext.
e) Solarenergie macht weiterhin gigantische Fortschritte.
f) Gute englischsprachige Bilanz der Ampelkoalition soweit.
g) Why Democrats want a 51-49 majority.
h) Twitters Algorithmus hat übrigens, egal was Musk sagt, Rechte bevorzugt.
i) Über 90% der Befragten sind für Preisobergrenzen bei Lebensmitteln. Wundert mich keine Sekunde.
j) Die 15 Punkte gegen den Lehrkräftemangel der GEW sind sehr vernünftig.
k) Schäuble macht den Elder Statesman echt gut.
l) Ganz interessante Analyse von Robert Habecks Gaspolitik und Beliebtheitswerten.
m) Super Thread zum Problem der Gender Studies.
n) Warum der Luftverkehr für den Klimawandel so wichtig ist.
o) Es wird euch überraschen, aber auch Elon Musk gibt sein Geld nicht "charity", sondern sich selbst, und spart auch noch Steuern. Alles das gleiche Gesindel.
p) Warum genau gilt hier nicht dasselbe Argument wie für CEOs?
q) Spannende Analyse der Änderungen im Electoral College seit 1992.
r) Die von Richard David Precht so gern eingeforderte Studie zur Regierungsnähe der Medien ist da, aber ich bezweifle, dass er das Ergebnis anerkennen wird.
s) Korrekte Sicht auf selbstfahrende Autos, meiner Meinung nach.
t ) Ebenso korrekte Sicht auf die wirtschaftliche Performance der USA.
u) Und um die Trilogie vollständig zu machen, eine korrekte Sicht auf die Politik der Fed.
v) Einschätzung der Chancen Trumps 2024.
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