Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Oxfam-Studie: Soziale Ungleichheit eskaliert durch Krisen
In der Bundesrepublik seien 81 Prozent der Vermögenszuwächse in den Taschen des reichsten Prozents der Bevölkerung gelandet und weniger als ein Fünftel beim großen Rest, rechnet Oxfam vor. [...] Deutschland habe schon vor der Pandemie zu den Industrieländern gezählt, in denen private Vermögen mit am ungleichsten verteilt waren. 2021 habe das reichste Promille der Deutschen ein Fünftel allen Privatvermögens besessen, die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung dagegen nur 1,3 Prozent, wobei viele sogar verschuldet seien, zitiert Oxfam aus einer Studie von Wirtschaftsforscherinnen und Wirtschaftsforschern des DIW. Der deutsche Sparkassenverband schätze zudem, dass bald bis zu sechs von zehn hiesigen Haushalten ihr monatliches Einkommen komplett zur Lebenshaltung einsetzen müssen und nichts mehr sparen können. 2021 galt das erst für 15 Prozent aller deutschen Haushalte. [...] Das global und vor allem auch in Deutschland zunehmende Auseinanderklaffen der sozialen Schere wird indessen von Regierungen vor allem per Steuerpolitik noch verschärft, prangert Oxfam an. Es gebe seit Jahren einen globalen Trend zu sinkenden Steuern für Reiche und Unternehmen, wozu aktuell noch exzessive Übergewinne durch steigende Preise bei Lebensmitteln und Energie kommen. (Thomas Magenheim-Hörmann, RND)
Ich habe die Vermutung, dass die Zahlen von Oxfam nicht ganz unumstritten sind, aber die generelle Tendenz dürfte kaum bestritten werden. Und die Relation ist echt richtig übel. Ich habe mit der Kategorie "Ungleichheit" so meine Schwierigkeiten, weil die für sich wenig aussagt: wenn der Kuchen für alle wachsen würde, wäre Ungleichheit ja erstmal eher unproblematisch. Aber das ist so nicht der Fall. Die Antwort kann nur darin bestehen, mehr Regulierung zu wagen; Eigenverantwortung alleine reicht als Dogma nicht mehr aus. Diese Zustände sind inhärent schädlich, weil die Ungleichheit einfach zu groß geworden ist. In einem gewissen Maß ist sie ja unvermeidlich, aber das hier wird langsam albern.
2) Ampelpolitiker alarmiert wegen Arbeitsbedingungen-Vorwürfen gegen Tesla
Laut der Gewerkschaft soll es in der Belegschaft Unmut über belastende Schichtsysteme, häufige Mehrarbeit an Wochenenden, eine sehr hohe Arbeitsbelastung insgesamt und zu wenig Personal geben. Zudem treibe viele Beschäftigte die Sorge um, dass sie von einem sogenannten „Security Intelligence Investigator“ überwacht werden könnten. [...] Wer bei dem Autobauer arbeitet, muss mit dem Arbeitsvertrag eine Geheimhaltungserklärung unterzeichnen, auf die im Unternehmensalltag auch immer wieder hingewiesen werde [...] Der Chef der SPD-Linken, Sebastian Roloff, sagte dazu: „Die Vorkommnisse bei Tesla lassen einen aufschrecken, ganz unerwartet sind sie nicht – man konnte ja erahnen, wie das Unternehmen geführt wird.“ Eines sei aber klar, betonte der Bundestagsabgeordnete, in Deutschland gälten das Betriebsverfassungsgesetz, die Mitbestimmung und Arbeitnehmerschutz. Daran müsse sich auch Tesla halten. „Die Berichte geben aus meiner Sicht dringenden Anlass für verstärkte Kontrollen“, so Roloff. Auch der Bundesvize des CDU-Arbeitsnehmerflügels, Christian Bäumler, verlangte von Tesla die Einhaltung sozialer Standards, die in der deutschen Automobilindustrie üblich seien. „Die Landesregierung in Brandenburg ist gefordert, ohne falsche Rücksichtnahme den Arbeitsschutz durch engmaschige Kontrollen bei Tesla durchsetzen“, sagte Bäumler dem Handelsblatt. Tesla sei mit seiner firmeninternen Politik noch immer nicht in Europa angekommen. „Die Geheimhaltungsvorschriften bei diesem Automobilproduzenten erinnern an eine Sekte“, sagte Bäumler weiter. (Dietmar Neuerer, Handelsblatt)
Wer Elon Musk kennt, kann von dem all kaum verwundert sein. Toxische Arbeitsbedingungen sind quasi sein Markenzeichen, das sagt der ja auch völlig offen. Es gibt da ja auch zahlreiche Berichte aus den amerikanischen Werken dazu. In Deutschland ist nur der rechtliche Schutz dagegen wesentlich besser, und gegen den läuft Musk massiv an. Das Kalkül, in der brandenburgischen Provinz auf Willfährigkeit zu treffen, ging schon bei der Rekrutierung von Arbeiter*innen nicht auf, als Tesla Schwierigkeiten hatte, offene Stellen zu besetzen (es bleibt ein Mysterium, warum dies bei Vollbeschäftigung im Sektor, schlechter Bezahlung, langen Arbeitszeiten und toxischem Arbeitsumfeld so ist). Aber auch hier schlägt der Unternehmensleitung wesentlich mehr Widerstand entgegen, als man das aus Kalifornieren gewohnt ist. Und das ist auch gut so. Man sollte die Schaffung eines Präzedenzfalls unbedingt vermeiden.
3) Nein, Frau Lambrecht, die Medien sind nicht schuld
Deutschlands unbeliebteste Spitzenpolitikerin schmeißt hin. Und schuld sind, wer sonst, die Medien. [...] Nicht die Medien haben sachliche Berichterstattung unmöglich gemacht – Lambrecht hat es unmöglich gemacht, nicht über ihre Ungeschicklichkeiten zu berichten. Gegen Lambrecht musste niemand eine Kampagne fahren; die Bürger erinnern sich bei dieser Häufung schon von allein daran, dass der jeweils jüngste Fehltritt nicht der Erste war. Die Fehler häuften sich im Laufe ihres Amtsjahres, der Umgang der Ministerin damit wurde eher schlimmer als besser. Fehlende Lernbereitschaft und Leidenschaft an der Spitze des Wehrressorts kann man sich nie leisten, in Zeiten wie diesen noch weniger. (Florian Sädler, Welt)
Doch, sind sie schon. Wenn die Medien so mit der Politik kuscheln udn kungeln würden wie in der Bonner Republik, wäre der ganze Kram nie rausgekommen. Nur sind die Medien heute viel kritischer, und der 24/7-Newscycle macht Fehltritte wie die Lamprechts unwiderstehlich - was Sädler ja auch zugibt, wenn er davon spricht, dass es "unmöglich" war, nicht über sie zu berichten. Natürlich wäre das möglich gewesen, das war eine bewusste Wahl. Es war auch die richtige Wahl. Aber Sädler macht es sich viel zu einfach, wenn er so tut, als ob hier keinerlei Handlungsfähigkeit bestünde und die Medien nur Getriebene eines Regelwerks wären. Die Verantwortung existiert immer, und man sollte sich nicht hinter scheinbare Naturgesetze zurückziehen, denn sonst wird auch bei wesentlich kritischeren Fällen als bei Lambrechts Skandalreihe dieselbe verweigert.
In seiner Neujahrsrede verkündete Putin stolz, Russland habe endlich die echte Souveränität erlangt und könne jetzt machen, was es wolle. Der Westen habe versucht, Russland mit Sanktionen zu zerstören, aber seine Wirtschaft sei robust. Russlands Resilienz ist in der Tat erstaunlich. Weder die wirtschaftliche Isolation und der damit einhergehende Absturz des Lebensstandards noch die hohen Zahlen der Gefallenen und Verletzten führen zum gesellschaftlichen Tumult. Zwar sind viele Russen vor den Repressalien und der Mobilisierung ins Ausland geflohen, gleichzeitig werden aber noch mehr eingezogen oder melden sich sogar freiwillig zum Kriegsdienst. Eine dünne Wohlstandsblase in Moskau und Sankt Petersburg kann noch so lange so tun, als geschehe nichts, die Mehrheit der Bevölkerung lebt schon im dauerhaften Ausnahmezustand. Man darf seine Wirkung nicht unterschätzen. Anstatt deprimiert zu sein, empfinden viele Russen Not und Widrigkeiten als motivierend. Erst dadurch füllt sich ihr Leben mit einem höheren Sinn, und ihre Misere wird zu etwas Erhabenem. Wenn es im ganzen Land knallt – mal brennt eine Rüstungsfabrik, mal ein Einkaufszentrum –, führt es nicht, wie man es anderswo erwarten könnte, zur Verunsicherung und zum Chaos, sondern verstärkt das Gefühl, in einer besonderen Zeit zu leben und Besonderes leisten zu müssen. (Nikolai Klimeniouk, NZZ)
Mir war schon immer unklar, wie Leute ernsthaft erwarten können, dass einige Monate wirtschaftlicher Sanktionen das Putinregime zum Einsturz bringen könnten. Gerade totalitäre Regime haben eine gewisse Beharrungskraft. Nordkorea macht das seit Jahrzehnten und Kuba und Venezuela sind begeistert dabei, deren Rekord zu brechen. Dass die Russen nicht plötzlich ein 1989 durchziehen werden, weil McDonalds zumacht, war zu erwarten. Das war ja aber auch nicht das Ziel der Sanktionen.
Was mir aber bei der Feststellung der Resilienz Russlands fehlt ist die andere Seite der Medaille, denn: auch der Westen ist resilient! Und gerade hier gab es genauso überzogene Zusammenbruchserwartungen. Dass die gestiegenen Energiepreise quasi innerhalb einer Quartals die Demokratie an den Rand der Anarchie bringen würden, mag zwar in den russischen Propagandazentralen immer noch geglaubt werden. Aber es hat sich gezeigt, dass wir als Gesellschaft doch auch wesentlich resilienter sind, als das vorher von den "Prophets of Doom" oftmals geglaubt wurde. Was ja auch eine gute Nachricht ist.
5) „Das Tool deckt auf, was im Wissenschaftsbetrieb falsch läuft“ (Interview mit Robert Lepenies)
Welche Befürchtungen haben Ihre Kollegen geäußert?
Da gibt es viele Möglichkeiten des Missbrauchs: Es ist einfacher, Wissenschaftlichkeit vorzutäuschen; es ist einfacher, Wissen selbst vorzutäuschen. Das Nachdenken übernimmt die Maschine nicht, sondern kann es schlimmstenfalls vorgaukeln. Auch die Selbstsicherheit des Sprachmodells ist unwissenschaftlich: Ein guter Wissenschaftler kommuniziert Unsicherheiten und eigene Irrtümer viel besser als jede mir bekannte KI.Manche ihrer Kollegen sehen auch bereits eine „völlige Verblödung“, weil Studenten nichts mehr erlernen müssen. Wie real ist diese Gefahr?
Ich finde: Die Reaktionen auf dieses Tool zeigen auch das Menschenbild, das wir als Universitäten insgesamt von den Studenten haben. Da wird viel auf die Maschine projiziert.Was genau meinen Sie?
Studenten wollen lernen. Wer so eine neue Technologie sieht und gleich an Schummelei denkt, der nimmt Studenten als Lernende nicht ernst – und dem sind Prüfungs- und Leistungsnachweise wichtiger als die Frage, wozu wir eigentlich Texte schreiben und schreiben lassen.Wie lässt es sich denn verhindern, dass Studenten das Tool missbrauchen?
Viele würden vermutlich antworten: Mit Verboten oder Rückkehr zu alten Prüfungsformen mit Stift und Papier – das ist vielleicht an manchen Stellen sogar möglich. Ich würde aber stark dafür plädieren, das Tool in Prüfungen einzubauen: Etwa indem man eine Klausur mit dem Chatbot schreiben lässt, aber eine Art Reflexionsdimension hinzunimmt, in der Studenten darüber räsonieren, was die KI mit ihnen gemacht hat und wie sie durch die KI zum Weiterdenken angeregt wurden. Wir müssen mit der Technologie leben – und sollten keine Abwehrgefechte führen. [...]Aber müssen Universitäten die Leistungen ihrer Studenten in Zukunft nicht doch anders bewerten?
Die Hausarbeit – so wir sie bisher kennen – funktioniert nicht mehr, vor allem an den großen Universitäten nicht. In so einem genormten System, das rein auf Output optimiert ist, kann man mit der Software eben gut schummeln. Damit deckt das Tool aber eher auf, was im Wissenschaftsbetrieb grundsätzlich falsch läuft.(Michael Kroker, Wirtschaftswoche)
Ich teile die Kritik am Menschenbild der Bildungsinstitutionen und den Prüfungsformaten völlig. Wenn es nach mir ginge, würden wir da deutlich davon abweichen. Allein, andere Prüfungsformate erfordern einen anderen Zugang zu Unterricht, und das wiederum erfordert andere personelle Ressourcen. Ich habe im letzten Jahr damit experimentiert und festgestellt, dass diese anderen Methoden zwar deutlich größere Lernerfolge mit sich bringen, aber auch eine Masse an mehr Arbeit. Arbeit, die im Rahmen der bisherigen Vollzeitstelle schlicht nicht leistbar ist. Denn der Faktor wird gerne übersehen: diese Strukturen sind ja nicht nur entstanden, weil Menschen mit einem schlechten Menschenbild in den Ministerien sitzen, sondern auch, weil es einfach und in großem Stil automatisierbar ist. Möchte man zu richtigen Lernprozessen, muss man sich von dieser Anforderung verabschieden (wenn man nicht die Deputate zusammenstreichen will, was angesichts des Lehrkräftemangels völlig illusorisch ist).
6) Wie Spanien den Preisanstieg gebremst hat
Die EU hatte Spanien und Portugal zunächst zögerlich die "iberische Ausnahme" genehmigt, weil sie Wettbewerbsverzerrungen befürchtete. Auf dem Konto der spanischen Stromkunden macht sich diese Ausnahme nun bezahlt: Im vergangenen November lag der Strompreis 22 Prozent unter dem des Vorjahresmonats. [...] Aber selbst wenn nicht alles günstiger wird: Die linke Regierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez von der sozialistischen PSOE hat den Spanierinnen und Spaniern noch weitere Finanzspritzen zugedacht. Geringverdiener erhalten 2023 einen einmaligen Jahresbonus, und die Renten steigen. Und bereits im Vorjahr profitierten die Bürgerinnen und Bürger von einer Mietpreisbremse, günstigen Pendler-Tickets und einer Spritpreis-Subvention. Insgesamt hat Spanien für diverse Entlastungspakete 45 Milliarden Euro ausgegeben, teils finanziert mit zusätzlichen Steuern für Unternehmen. Und auch hier hat Spanien - siehe Gaspreisdeckel - etwas eingeführt, was in Deutschland mal heiß diskutiert wurde: eine Übergewinnsteuer. Sie gilt zwei Jahre lang für Banken und Energiekonzerne. [...] Bei anderen Themen könne Spanien eher von Deutschland lernen: bei der Staatsverschuldung etwa und der hohen Arbeitslosigkeit. Da ist Spanien mit 12,4 Prozent Schlusslicht in der Eurozone - und Deutschland mit drei Prozent Spitzenreiter. (Kristina Böker, Tagesschau)
Spaniens Ansatz zeigt sehr schön zwei Dinge. Erstens, dass sich die Auswirkungen von Preisanstiegen etc. wesentlich besser für die breite Mehrheit begrenzen lassen, wenn man bereit ist, einige ideologische Grundannahmen über Bord zu werfen. Allerdings ist der spanische Ansatz natürlich nicht eben zielgerichtet, sondern eher mit der Gießkanne. Und das führt zu Zweitens: es wäre volkswirtschaftlich wesentlich sinnvoller, solche Hilfen zielgerichtet aufzusetzen, so dass sie nur die ärmeren Bevölkerungsschichten treffen. Es ist nur politisch völlig unmöglich. Sämtliche solche Maßnahmen müssen zwangsläufig für alle sein, sonst ist der politische Preis wesentlich zu hoch. Wir haben das etwa beim Tankrabatt gesehen. Volkswirtschaftlich war es völliger Quatsch, dem Unternehmer-Porsche das Super-Benzin zu verbilligen, aber politisch war es unvorstellbar, das nicht für alle Bevölkerungsteile zu machen - schon alleine, weil deren Steuern diese Subventionen ja mitfinanzieren. Das macht diese Maßnahmen zwar teurer, aber der notwendige Buy-In der Bevölkerung kann nur so entstehen.
7) Ron DeSantis Is Imposing Political Control on Schools
His maneuvers to control education are ideological, consistent with his uses of state power: They follow a post-liberal vision eschewing any pretense of neutrality. Conservatives would wax hysterical if a Democrat tried anything similar. (Imagine the response from the right if, say, Gavin Newsom stripped tax benefits from a company because it criticized one of his positions.) The only justification is raw power. DeSantis’s supporters reason that their enemies are illiberal fanatics, and so they have permission to use illiberal methods of their own. It is also important to understand that DeSantis’s gleeful use of state power to intimidate critics and load the deck, unlike Trump’s, have generated virtually no pushback at all within the Republican Party. Because of this, and also because they manifest themselves in an endless series of bureaucratic maneuvering, they generate a fraction of the media attention and backlash. At the National Conservatism Conference, spokespeople for DeSantis and Orban cited one another as models. DeSantis’s version of Orbanism may pose a less acute danger than Trump’s, with its threat of acute violence and imminent constitutional collapse. But the reason DeSantis has consolidated support within the party’s right wing is precisely because he is not abandoning its fervent post-liberalism. He is, instead, offering a way to succeed where Trump failed. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Was in Florida abgeht ist echt krass. Listen zu kündigender ideologischer Gegner*innen werden erstellt. Die Schulen und Universitäten bekommen Knebel angelegt. Wer wissen will, wie die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit wirklich aussieht, wie Cancel Culture in der Realität abläuft, muss nach Florida schauen, nicht nach Oberlin oder Berkeley. Denn es sind ja nicht irgendwelche studentischen Aktivist*innen, die das durchdrücken (und ja, es gibt auch radikalkonservative studentische Aktivist*innen, die sind nur nicht so zahlreich und sichtbar), sondern der Staat, der in der Hand von Extremist*innen ist. Hier liegt die Gefahr, unabhängig von der politischen Ausrichtung der Leute. Gefährlich ist es, wenn die staatlichen Institutionen in der Hand dieser Leute sind. Denn dort liegt die Macht, nicht in einer Demo auf dem Campus.
8) Study reveals the key reason why fake news spreads on social media
Surprisingly, the researchers found that users' social media habits doubled and, in some cases, tripled the amount of fake news they shared. Their habits were more influential in sharing fake news than other factors, including political beliefs and lack of critical reasoning. Frequent, habitual users forwarded six times more fake news than occasional or new users. "This type of behavior has been rewarded in the past by algorithms that prioritize engagement when selecting which posts users see in their news feed, and by the structure and design of the sites themselves," said second author Ian A. Anderson, a behavioral scientist and doctoral candidate at USC Dornsife. "Understanding the dynamics behind misinformation spread is important given its political, health and social consequences." [...] Lastly, the team tested whether social media reward structures could be devised to promote sharing of true over false information. They showed that incentives for accuracy rather than popularity (as is currently the case on social media sites) doubled the amount of accurate news that users share on social platforms. (University of Southern California)
Es ist gut, dass solche Studien existieren, aber was mir unklar ist, ist was daraus folgt. Ich halte es für illusorisch, dass wir per Gesetz die verwendeten Algorithmen der großen Social Networks verändern werden. Denn klar, wenn man den Algorithmus ändert, dass er "Genauigkeit" belohnt (was auch immer das sein soll, wer auch immer das definiert und wer auch immer das kontrolliert), dann mag das gesamtgesellschaftlich einen besseren Effekt haben. Aber dasselbe galt für das intellektuelle Niveau des Fernsehprogramms vor der Privatisierung. Das Problem ist ja, dass die Leute das nicht wollen. Am Ende wird der Kapitalismus das bereitstellen, was die Menschen haben wollen, nicht das, was sie wollen sollten. Und die Belohnungsmechnismen sind viel zu attraktiv.
9) Auf, auf, in den Kulturkampf!
Wer wissen will, wie sich eine der letzten europäischen Volksparteien der rechten Mitte im Sturm der Radikalisierung des Konservativen in den USA und anderswo behauptet, sollte Andreas Rödder im Auge behalten. Vielen in seiner Partei vergeht die gute Laune allerdings schlagartig, wenn man Rödders Namen nennt. Seine Aufforderung von vergangener Woche, die Christdemokraten sollten sich mit Verve in den "Kulturkampf gegen linke Identitätspolitik" stürzen, passt den Liberalen in der CDU, den "Merkelianern", gar nicht – den "Merzianern", den Konservativen, dem Wirtschaftsflügel und der Jungen Union schon. Rödder hat deshalb den wohl nicht ganz unbegründeten Verdacht, dass die Wut auf ihn im Grunde einen ganz anderen Adressaten hat: "Rödder schlagen, Merz meinen." [...] Vertreter aus der Frauen Union und dem Arbeitnehmerflügel CDA hatten gehadert mit dem Wort "bürgerlich", auf dem Rödder bestand, man hatte sich da regelrecht angeschrien. "Viele bei uns verstehen unter ‘bürgerlich’ das Privatflugzeug von Friedrich Merz", meint Rödder etwas entnervt. "Ich meine aber mit ‘bürgerlich’ die Befreiung des Individuums aus der Ständegesellschaft, die Botschaft: Es kommt auf dich an, auf deine Leistung." Das stehe eben auch im Widerspruch zur Ideologie der "Wokeness", die Menschen nach ihrer Gruppenzugehörigkeit als "weiß", "queer" oder "migrantisch gelesen" beurteile, ebenso wie zu völkischen Weltbildern. [...] Und genau hier liegt das Neue am Rödderschen Konservatismus: dass man sich ausgerechnet in der früheren Staatspartei CDU als Opfer eines Establishments sieht, "einer kleinen Minderheit, die im Besitz der kulturellen Produktionsmittel ist" (wie es bei R21 hieß), während die Grünen diese neue woke Staatsmacht verkörpern. Mit Merz habe er sich, von Rebell zu Rebell, "blindlings verstanden, als hätte man sich 20 Jahre gekannt," erzählt Rödder. Wem gehört die CDU, wer hat die Partei sich selbst so entfremdet, was muss geschehen – das war der Subtext der Gespräche. Ein Hauch von Umsturz lag in der Luft. [...] Aber die Widerstände wachsen. "Herr Rödder vertritt einen aggressiv-konfrontativen Konservatismus, der im Widerspruch steht zum Stil der CDU, zu Maß und Mitte – mit dem die CDU zuletzt Wahlen gewonnen hat", meint der frühere CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz. Starke Landesverbände wie NRW halten Distanz zur "Kulturkampf-Parole". Die "Pascha"-Einlassungen von Merz, davon sind viele überzeugt, hätten die Regierungsoptionen der CDU bei der Landtagswahl in Berlin schlagartig verschlechtert – obwohl sie derzeit stärkste Partei ist. (Miriam Lau, ZEIT)
Ich verstehe diese Leute total. Ich sage immer wieder, dass die CDU gerade denselben Prozess durchmacht wie die SPD in den 2000er und 2010er Jahren. Die Entwicklung der Partei ist für einen guten Teil der Anhäger*innenschaft - keine Mehrheit, aber mehr als nur ein paar wenige discontents - falsch, widerspricht den eigenen Überzeugungen, und man fühlt sich ausgegrenzt, von einem aufoktroyierten Konsens marginalisiert. Da alle eine Neigung haben, sich mit ähnlich denkenden Menschen zu umgeben, ist man auch schnell der Überzeugung, dass man in Wirklichkeit zu einer zum Schweigen gebrachten Mehrheit gehört. I know, I was there. Meinungsmache, Mediengleichschaltung, Manipulation, die ÖRR sind ideologisch eingespannt und widersprechen ihrem Auftrag, yadda yadda. Been there, done that. Und Merz ist gut darin, diese Stimmungen zu bedienen und gleichzeitig den Rest der Partei zusammenzuhalten, was sich ja auch in den Umfrageergebnissen zeigt, in denen er rund 28% erreicht - und die AfD mitstabilisiert, die zu "halbieren" er angetreten war, ein Ziel, von dem er weiter entfernt ist als je zuvor.
Das größte Problem für die CDU in strategischer Sicht aber ist, dass sie mit diesem "konservativen" Profil keine Koalition schließen kann. Die FDP würde vielleicht noch mitmachen - wobei selbst das angesichts des Schadens für den Wirtschaftsstandort Deutschland, den die Merz'sche Rhetorik immer mehr hat, und der angenehm klaren Rhetorik Christian Lindners zunehmend zweifelhaft wird -, aber eine schwarz-gelbe Koalition ist genauso ein Traum der Vergangenheit wie eine rot-grüne. Es ist schwer vorstellbar, dass die CDU ohne die Grünen oder die SPD noch eine Koalition wird bilden können. Und mit beiden Parteien ist dieses Profil nicht zu machen. Man kann das aktuell gut in Berlin sehen. Die CDU ist klar die stärkste Partei in den Umfragen - nur kann sie sich davon nichts kaufen, weil niemand mit ihr koalieren will. Wenn 2025 die Ampel keine Mehrheit hat und Merz eine Jamaika-Koalition (oder Neuauflage von Schwarz-Rot) bilden will, wird er all die Rödders seiner Partei zwangsläufig enttäuschen müssen - oder nicht koalitionsfähig sein. Dieses Dilemma lässt sich in der Opposition übertünchen. Aber nicht in der Regierung.
10) The Fed and the House Are Both Bringing on a Recession
Unfortunately the Fed shows no sign of pivoting away from its newfound monetary policy religion. Indeed, Fed Chairman Jerome Powell keeps insisting that the Fed will not stop raising interest rates until it sees the clearest of signs that inflation is coming down to its 2 percent target. He also keeps telling us that next year—2024—is the earliest date at which interest rates could be cut. Never mind that the economy is already showing clear signs of slowing, inflation is coming down, and the full economic effects of last year’s monetary policy tightening are yet to be felt. An even more serious threat to a soft economic landing would be a disastrous fight over raising the debt ceiling later this summer. As in 2011, the last time this battle was fought, such a clash could shake already vulnerable financial markets and sap investor confidence—even if, in the end, the debt ceiling is raised. Even the mere question of whether the government would pay its debts raises the scary prospect that it might one day default on its debt obligations. In 2011, these concerns caused a downgrading of Treasury Bonds as ratings agencies warned investors that the United States government was not as reliable a borrower as it had once been. (Desmond Lachman, The Bulwark)
Die Politik der Fed ist nicht nur für die USA relevant, denn die EZB orientiert sich daran und vollzieht deren Zinspolitik nach - allen Beteuerungen von Unabhängigkeit zum Trotz, und ohne, dass das einen direkten Bezug zueinander hätte. Dagegen ist der neueste Debt-Ceiling-Unfug der extremistischen Republicans eine ermüdende Wiederholung gefährlicher politischer Spielereien. Es wird zu nichts führen, aber die Gefahr ist immer im Hintergrund. Es ist so absurd, dass eine Partei damit droht, den eigenen Staat implodieren zu lassen, um innenpolitische Ziele durchzusetzen. Man hat sich an diese Absurdität nur gewöhnt. Vermutlich ist es nur ein Bluff - Jamelle Bouie argumentiert auch dafür, diesen Bluff zu callen - aber die Gefahr dahinter ist es, was das so bescheuert macht. Und einmal mehr zeigt, welches Problem die GOP für die Demokratie ist.
Resterampe
a) Tolles Beispiel für Cancel Culture mal wieder. "Journalist*in A hat was gesagt, das mir nicht passt. Wir sollten den Sender boykottieren, bis Person A entlassen wird." Das ist quasi ein Definitionsfall. Zum Kotzen so was.
b) Gute Gedanken zur Wahlrechtsreform.
c) Sunak ernennt einen "Free-Spech-Tzar". Irony is dead.
d) Spannender Thread zur Grundlast.
e) Korrekte Kritik des A100-Ausbaus.
f) Die Corona-Krise hat das Vertrauen von Müttern in die Politik massiv verschlechtert, mehr als jeder anderen Gruppe. Völlig zurecht. Und es ist bedauerlich, wie sehr das gegenüber der Egoisten-Fraktion nicht diskutiert wird. Ständig geht es um die "will keine Maske tragen"-Deppen, statt um die, die im Stillen betroffen sind.
g) Wir haben sie, die dümmste Äußerung zur Schulpolitik 2023 (bislang).
i) Der Blick des New Statesman auf die Lambrecht-Geschichte.
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