Ich habe oftmals das Gefühl, dass die meisten Menschen sich nicht wirklich bewusst machen, wie komplex Gesellschaften und politische Systeme wirklich sind. Ich muss zugeben, früher habe ich mir das auch selten bewusst gemacht. Man denkt gerne in Schemata, und solche werden einem in den Medien zuhauf angeboten: "der Westen", "der Osten", "die Taliban", "China" oder "die islamistischen Staaten" sind nur einige der Metaphern, die wir ständig hören. Dabei dürfte uns aus eigener Erfahrung klar sein, wie unzureichend diese Kategorisierungen sind: "Deutschland" wie es im Ausland gesehen bzw. wahrgenommen wird dürfte ein gänzlich anderes sein als unser Heimatland in unserer eigenen Perzeption. Das führt dazu, dass wir extreme Vereinfachtungen hinnehmen. So werden alle Afghanen, die der Truppenpräsenz der NATO militant-feindlich gegenüberstehen, unter "Taliban" subsumiert - eine absurde Behauptung, wie jedem klar wird der sich ein klein wenig mit Aghanistan beschäftigt (und mehr Kenntnisse als "ein klein wenig" habe ich tatsächlich nicht). Es gibt dort zahllose seit Jahrzehnten miteinander verfeindete Stämme, die die Region - von einem Land sollte man eigentlich gar nicht sprechen - viel länger prägen als es überhaupt Taliban gibt, die von vielen dort lebenden Menschen genausowenig geliebt werden wie die NATO. Worauf will ich hinaus? Wir - das heißt alle Menschen in Deutschland jenseits der Fachleute - haben extrem vereinfachte Vorstellungen von anderen Ländern. Im Prinzip ist das kein Problem, weil niemand die Zeit hat sich so tiefgehend mit ihnen zu beschäftigen, dass er sie tatsächlich verstehen würde. Es wird aber zum Problem, wenn anhand dieser extrem einfachen Vorstellungen Meinungen gebildet und sogar Politik gemacht wird. Ich will dies an drei Beispielen verdeutlichen, Iran, den USA und Afghanistan.
1) Iran
Iran, oftmals fälschlicherweise mit einem Artikel versehen ("der Iran"), ist seit 1979 für die USA und ihre Verbündeten ein Territorium non grata. Was jeder zu wissen glaubt ist, dass dort wilde Islamisten unter dem gänzlich unzurechnungsfähigen Ahjmadinedschad die Bevölkerung unterdrücken, Frauen im Besonderen, und allgemein den zivilisatorischen Stand des Mittelalters gerade so erreichen. Derzeit ist Iran viel in den Schlagzeilen, weil die dortigen Proteste es auf die Titelseiten schaffen. Das ist ein vollständig nachvollziehbarer, aber eigentlich sonderbarer Vorgang.
Wir haben einen souveränen Staat mit einer demokratisch legitimierten Regierung (sicher nicht nach den demokratischen Standards, die wir gerne an unsere Feinde anlegen, aber sicherlich nach denen, nach denen wir uns selbst und unsere Freunde messen - ich sage nur Afghanistan), der entgegen bestehenden Verträgen (Atomwaffensperrvertrag) eigentlich völkerrechtswidrig mit Sanktionen belegt und international isoliert wird. In dem Land gibt es eine minoritäre Opposition, die von uns als freundlich betrachtet wird und derzeit Proteste ausübt, die regelmäßig in Gewalt enden - warum wissen wir, wenn wir ehrlich sind, nicht, denn in den Medien erfahren wir es nicht. Wir nehmen an, dass die repressive Staatsgewalt dafür verantwortlich ist.
Ich bin kein Freund Irans. Als genereller Religionsgegner kann ich das gar nicht sein, und ich finde die Politik des Landes gelinde gesagt fragwürdig. Es ist aber auffällig, wie es hierzulande rezipiert wird. Die Opposition hat automatisch Recht. Wir unterstützen sie und assoziieren sie als die "good guys", während die Regierung die "bad guys" sind. Diese Gut-Böse-Schematisierung findet sich übrigens ständig, wenn es ums Ausland geht; sie wird uns in den USA und Afghanistan wieder begegnen.
Der Nebel des Krieges, mit dem ich den Beitrag begann, betrifft im aktuellen Fall diese Opposition. Wir wissen verhältnismäßig viel über die Regierung Irans (die übrigens in den Nachrichten, selbst in seriösem Umfeld, penetrant "das Regime" genannt wird), etwa dass sie nach Nukleartechnologie strebt - wobei wir ein Verlangen nach der Atombombe unterstellen, das nicht von der Hand zu weisen ist -, dass es relativ repressiv gegen seine Gegner vorgeht und von unserem Menschenrechtsverständnis nicht allzuviel hält. Wir wissen, dass Irans Regierung Israel gegenüber feindlich eingestellt ist und versucht, zur beherrschenden Vormacht des Mittleren Ostens zu werden, dass sie die Hisbollah unterstützt hat und im Bündnis mit China und Venezuela ist. Über die Opposition wissen wir - nichts. Mit Ausnahme der Tatsache, dass sie gegen die Regierung sind. Welche Ziele sie verfolgen hört man in den Medien praktisch nicht. Nach der Berichterstattung, die sich häufig in der Tatsache erschöpft, dass es wieder zu Gewalt kam, könnte die Opposition genausogut noch radikaler als die Regierung sein. Welche Ziele sie verfolgt, welche Ansichten sie hat, ob "die Opposition" überhaupt als monolithischer Block zu begreifen ist (wa sich bezweifle) - all das wissen wir eigentlich nicht. Wir wissen aber, dass die Opposition "die Guten" sind. Effektiv bewegt sie sich aber vollständig unter dem Radar.
2) Die USA
Den Vereinigten Staaten von Amerika sind die Deutschen in Hassliebe verbunden. Einerseits bewundern wir sie, andererseits verachten wir sie auch gerne und nutzen sie, um selbst in einem besseren Licht zu erscheinen (Stichworte angeblicher Bildungsgrad des US-Durchschnittsbürgers,, Sozialstandards). Kenntnis über die USA ist aber nicht weit verbreitet. Die meisten Menschen sind bitter enttäuscht, dass Obama doch nicht der Heiland ist, als der er unreflektiert herbeigeschrieben wurde. Mich überrascht das keine Sekunde, denn wer sich einmal mit dem politischen System der USA beschäftigt hat müsste um den ausgeprägten Föderalismus der USA und ihre Checks&Balances wissen. Das ist jedoch nicht der Fall.
Auch bei den USA haben wir good guys und bad guys. Die good guys sind die Demokraten, die bad guys die Republikaner. Die Demokraten erscheinen uns aufgrund ihrer größeren Europafreundlichkeit als good guys, sie scheinen für Frieden und Wohlstand und Weltoffenheit zu stehen, während die Republikaner rückwärtsdenkende, aggressive warmongers sind. Dabei vergessen wir gerne, dass Demokraten den Vietnamkrieg geführt haben, und dass es Bill Clinton war, der in den 1990er Jahren massiv auf Militärinterventionen gesetzt hat, und dass es Obama ist, unter dessen Präsidentschaft nun der größte Militärhaushalt in der US-Geschichte verabschiedet wurde. Auch gibt es praktisch kein Verständnis für die amerikanische Mentalität. Die meisten Menschen sehen die Amerikaner als Europäer, die nur auf der falschen Seite des Atlantiks wohnen. Nichts könnte falscher sein. Ich will im Rahmen dieses Posts nicht zu sehr ins Detail gehen, aber allein unsere regelmäßige Verwunderung über den missionarischen Eifer der Amerikaner, ihren Idealismus in Sachen Freiheit und Demokratie und ihre davon so offensichtlich abweichende Politik spricht Bände. Diese falsche Perzeption der USA und ihrer Intentionen führt immer wieder zu Unbehagen bei Europäern und mündet leicht in antiamerikanischen Vorurteilen.
3) Afghanistan
Der größte Fehler, der meines Erachtens nach beim Thema Afghanistan gemacht wird, ist das Land überhaupt als Staat im westfälischen Sinne zu betrachten. Wie so viele Länder dieser Welt sind die Grenzen Afghanistans ein Resultat der Kolonialvergangenheit, also ein Produkt fremder Mächte. In Afrika kann man zahllose Beispiele dafür finden, die alle nicht funktionieren. So auch Afghanistan. Nach allem, was ich weiß - ich habe bereits eingangs darauf hingewiesen, dass meine Kenntnisse reichlich lückenhaft sind und ich mache keinen Versuch das zu verbergen - handelt es sich bei "Afghanistan" um ein Gebiet, in dem mehrere verschiedene Stammesgruppen leben, die sich seit Jahrzehnten und Jahrhunderten mit Inbrunst befehden - beispielsweise die Paschtunen. Diese Stammesgruppen haben kein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Konstrukt "Afghanistan" und überschreiten dessen Grenzen auch beständig mit großer Selbstverständlichkeit, vor allem nach Pakistan, das historisch zu ihrem Siedlungsraum gehört. Sowohl die Sowjetunion in ihrer Zeit als auch die NATO heute macht den Fehler, Afghanistan als Staat anzusehen und als solcher mit dem Land zu interagieren. Man hat einen Präsidenten, man hat Institutionen, und man wundert sich dass Korruption wuchert und die Regierung außerhalb Kabuls kaum Macht hat.
Das verwundert aber angesichts der eingangs vorgestellten Prämissen eigentlich nicht. Afghanistan ist kein Staat in unserem Sinne und wird wahrscheinlich auch keiner werden. Wir leben generell in der Illusion, dass unser Modell die Spitze der zivilsatorischen Evolution ist und dass alle anderen Länder irgendwann einmal diesen Status eines "modernen" Staates erreichen werden. So wird unser System aber außerhalb Europas, Australiens und Nordamerikas nur selten gesehen. Hierzulande wird das dann sofort als böse abqualifiziert. Noch einmal: ich mag unser System, und ich würde nicht mit einem Afghanen oder Kongolesen tauschen wollen. Die Vorstellung aber, dass die Leute dort nur nicht in der Lage sind, unsere zivilisatorische Spitze zu erkennen und ihr nachzueifern, ist arrogant und wenig zielstrebend.
Wenn wir außenpolitisch Erfolg haben wollen, müssen wir uns also immer klar machen, mit was wir es eigentlich zu tun. Blind in fremde Länder zu stolpern und in diesen vor sich hin zu dilettieren, in der wilden Hoffnung allein unsere Anwesenheit würde die Bösen abschrecken und die arme, unterdrückte Bevölkerung aus ihrer Unmündigkeit befreien und zur alleinseligmachenden parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts führen ist eine Illusion, die in Irak und Afghanistan blutig und teuer scheitern und uns brutal in die Realität stoßen wird. Ob wir daraus Lehren für die Zukunft ziehen, darf allerdings getrost bezweifelt werden.