Mittwoch, 17. Februar 2021

Kommt die dritte Welle?

 

Nicht nur auf diesem Blog, sondern deutschlandweit ist ein veritabler Streit darüber entbrannt, wie Deutschland mit der Covid-19-Pandemie umgehen sollte. Die zuletzt von Jens Happel in mehreren Artikeln geäußerte These lautet (grob verkürzt), dass die Lockdown-Strategie der Regierung neben ihrer mangelhaften bis ungenügenden Durchführung (kein Widerspruch hier) in keiner guten Kosten-Nutzen-Relation steht und dass Covid-19 deutlich weniger gefährlich sei als gemeinhin angenommen. Ich möchte diesen Thesen widersprechen, wenngleich ich offen zugeben muss, dass meine Expertise beschränkt ist. Ich bin also dankbar für Korrekturen und sachliche Hinweise in den Kommentaren. Damit genug der Vorrede, ab in medias res.

Ich möchte als erstes die Frage der Tödlichkeit dieser Pandemie ansprechen. Von Kritikern der Krisenstrategie der Regierung (die, das sei noch einmal explizit erwähnt, ungeachtet ihres theoretischen Fundaments grausig umgesetzt wird) wird gerne vorgebracht, dass nur unwesentlich mehr Menschen sterben als bei einer schweren Grippewelle. Ich bin unsicher, inwieweit diese Zahlen belastbar sind. Auch in schweren Grippewellen haben wir keine überbelegten Intensivstationen am Rand der Belastbarkeit. Allein einer von fünf hospitalisierten Covid-Patient*innen in Berlin ist gestorben. Aber ich bin ziemlich zuversichtlich, dass sie so oder so auf einem Denkfehler beruhen. Denn auf schwere Grippewellen reagieren wir nicht mit massiven Maßnahmen.

Es ist ja Unsinn, eine Gesellschaft, die monatelang zahlreiche Betriebe und die Bildungseinrichtungen schließt, Masken verordnet und Kontaktbeschränkungen erlässt, direkt mit einer verglichen wird, die so etwas noch nie getan hat - auch nicht in einer "schweren Grippewelle" (wann hatten wir denn so eine?). Die Annahme, dass der Verlauf von Covid-19 ohne die Maßnahmen nicht schwerer verlaufen wäre als mit ihnen, ganz gleich, wie man ihre ultimative Effektivität bewertet, ist ja schließlich sinnvoll.

Stellt sich die Frage: Wie drastisch waren unsere Maßnahmen eigentlich? Da die Begrifflichkeiten bereits seit Beginn der Pandemie ziemlich wild gemixt und ohne jede Kategorisierung verwendet werden, ist es schwierig, hier Vergleiche zu ziehen. Jedes Land reagiert unterschiedlich, in Deutschland gerne auch jedes Bundesland. Inzwischen hat sich für jegliche Art der Kontaktbeschränkungen der Begriff "Lockdown" eingebürgert, der zwar an sich Quatsch ist (einen Lockdown gab es im Frühjahr 2020 in Wuhan, aber sicherlich nie in Europa), aber nun einmal in den allgemein Sprachgebrauch übergegangen ist.

Die Maßnahmen waren sicherlich ohne Beispiel in der bundesrepublikanischen Geschichte. Bildungseinrichtungen wurden geschlossen, Betreibungsverbote für bestimmte Gewerbe (etwa Friseursalons oder Unterhaltungsbetriebe) erlassen und Zusammenkünfte von großen Personengruppen untersagt. Gleichzeitig aber dürfte auch Einigkeit darin bestehen, dass das gesellschaftliche Leben zwar beschränkt, aber nicht unterbunden wurde. Die meisten Arbeitnehmer*innen gingen nach wie vor ihrer Arbeit nach, die meisten Geschäfte blieben geöffnet, und so weiter. Täglich lernte die deutsche Bevölkerung, zeitverzögert aber in gewissem Maße parallel zur Wissenschaft, neue Dinge über das Virus und seine Bekämpfung. Man erinnert sich nur ungern daran, dass lange Zeit unklar war, wie hilfreich Masken sind, und dass der Verdacht gegen die Regierung, wegen der schlechten Beschaffungssituation absichtlich zu lügen, bis heute nicht grundlos im Raum steht.

Während in den meisten europäischen Ländern schreckliche Zustände herrschten - besonders Nortitalien und Spanien waren betroffen - blieb Deutschland im Frühjahr weitgehend verschont. Der am 17.03.2020 erlasene Lockdown wirkte, und die Inzidenz von 7, bei der er gestartet worden war, stieg auf ein Maximum von 50,5 zwei Wochen später - um dann erwartungsgemäß abzufallen. Im Mai wurden bei einem Wert von 9 erste Lockerungen erlassen, im Juni endeten sie de facto bei einem Wert von 4. Den gesamten Sommer über blieben die Inzidenzen sehr niedrig.

Das allerdings nährte die irrige Vorstellung, dass man "mit dem Virus leben" könnte und dass die Lage unter Kontrolle wäre. Bereits im April hatten Virolog*innen, die Expert*innen für das Virus waren, vorausgesagt dass die Werte im Sommer abflachen und dann im Herbst wieder steigen würden. Es stand zu erwarten, dass die Lage sich ab September wieder verschlimmern würde. Aber man hatte ein halbes Jahr gewonnen, um sich darauf vorzubereiten.

Dieses halbe Jahr wurde nicht genutzt. In einem beispiellosen Akt der Verantwortungslosigkeit kehrte die Politik zum Tagesgeschäft zurück. Der einzig nennenswerte Erfolg war die weitgehende Abdeckung der Bevölkerung mit Masken - die dem FFP2-Standard nicht genügten; es waren die dünnen OP-Masken. Wenig überraschend kam es so, wie die Expert*innen es angekündigt hatten und wie man am Beispiel früherer Pandemien ebenso wie am Beispiel anderer Länder hätte sehen können, wenn man gewollt hätte.

Deutschland hatte im Frühjahr keine besonders brillante Politik, sondern Glück. Das Virus verbreitete sich in Clustern, die von den Gesundheitsämtern weitgehend nachverfolgt werden konnten. Es wurde von Skiurlauber*innen und Geschäftsreisenden ins Land gebracht, Demographien, die gut erreichbar und nachverfolgbar waren. Im Herbst dagegen breitete sich das Virus nicht mehr in Clustern aus, sondern in der Breite. Eine Nachverfolgung wurde allein dadurch erschwert. Dass die Inzidenzwerte zudem deutlich höher lagen als im Frühjahr, machte die Sache erst Recht gefährlich.

Am 19.10.2020 stieg die 7-Tage-Inzidenz auf 52,7 und erreichte damit einen Wert, der über dem Höhepunkt der ersten Welle lag. Noch immer hielten die Kultusministerien mit Biegen und Brechen die Schulen offen, vermieden die Ministerpräsident*innen jede Maßnahme, die - in den unsterblichen Worten de Maizíeres - "einen Teil der Bevölkerung verunsichern könnten". Illusionäre Hoffnungen wurden gehegt. In Baden-Württemberg etwa schleppte man mit Biegen und Brechen den Präsenzunterricht bis zum Beginn der Herbstferien. Die Woche, die man so gewann - und für die, wenig überraschend, zwei Wochen später die Inzidenzen kurz sanken - wurde dann ebenso verschwendet, um bis zu den Weihnachtsferien über die Runden zu kommen. Das war von Beginn an zum Scheitern verurteilt.

Am 2.11. war die Lage nicht mehr schönzureden. Doch anstatt endlich das Notwendige zu tun, stahlen sich die Landeschef*innen - bekniet von Angela Merkel, doch bitte härtere Maßnahmen zu ergreifen - mit einem auch so betitelten "Lockdown Light" aus der Affäre - bei einer Inzidenz von 133,8. Im Frühjahr hatten die Gesundheitsämter bei einem Wert von 50 die Kontrolle völlig verloren gehabt, weswegen der Lockdown überhaupt erst eingeführt worden war. Die Inzidenzen erreichten dann am 23.12.2020 mit 218,0 ihren bisherigen Höchstwert. Das Erreichen des Höhepunkts dauerte dieses Mal fünf Wochen statt zwei.

Zehntausende von Menschen starben, weil die Politik der Überzeugung war, der Bevölkerung einen Lockdown erst nach Weihnachten zumuten zu können. Mit der Zahlenlage oder der Wissenschaft - die noch viel intensiver als die recht zurückhaltende Merkel vor den Folgen der Untätigkeit warnte - hatte das alles nichts zu tun. Erst im Januar wurden wirklich scharfe Maßnahmen eingeführt; nun, bei Inzidenzen im deutlich zweistelligen Bereich, werden schon wieder Lockerungen diskutiert. Die "Lockdown-Moral" ist schlecht, weswegen die Zahlen auch wesentlich langsamer sinken als im Frühjahr. Schon jetzt ist eine dritte Welle praktisch garantiert, das heißt noch einmal zwischen 50.000 und 200.000 unnötiger Toter.

Woher kommt dieses Versagen? Anna Sauerbrey von der New York Times sieht die Schuld für das deutsche Debakel in ihrem Artikel "How Germany lost control of the virus" klar in der Politik:

But when cases started to rise in the fall, policymakers failed to repeat the trick. During the first week of October, the caseload was as high as it had been when the first lockdown had been imposed in March. But many explained the rise by pointing to the increased number of tests, ignoring the clear trend of cases upward. Nothing was done. [...] In the following weeks, the virus took full advantage of Germany’s complacency. By the end of October, the number of daily cases had more than tripled. The response was halfhearted: closing restaurants and bars but leaving schools open — a “lockdown light” that, for a time, stabilized the situation. It wasn’t until just before Christmas, at which point cases were rising sharply, that politicians hit the emergency brake and closed down the country. The decision came so late that by early January, some intensive care units were nearly overwhelmed. Daily deaths were at times quadruple their highest point in the first wave. In the first half of January, the number of deaths per 100,000 inhabitants temporarily exceeded that in the United States. The elderly were devastated: Roughly 90 percent of those who died in the second wave were 70 or older. For a country that had been widely hailed for its successful handling of the pandemic, it was a shocking reversal. Why did this happen? The short answer: politics. In 2021, Germany will hold six state elections plus the national parliamentary election in September. If ever there was a time to take political risks — and there’s little riskier than depriving weary citizens of their freedoms for uncertain gain — the middle of a major election year is not it.

"Complaceny" und "politics", also Selbstzufriedenheit und Wahlkampfsorgen, waren ein toxischer Mix. Besonders hier in Baden-Württemberg ist das gut zu beobachten. Das Ländle wählt im März. Die Kultusministerin, Susanne Eisenmann, ist CDU-Vorsitzende und möchte gerne Ministerpräsident Kretschmann beerben. Eisenmann hat sich in den Kopf gesetzt, dass der Schlüssel zu der Liebe der Wähler*innen der Präsenzunterricht ist, und sie versucht, irgendwie, die Schulen und Kitas vor der Wahl zu öffnen. Wenn dann die dritte Welle nach der Wahl kommt - egal, dann ist sie rum. In anderen Bundesländern sieht es nicht besser aus, und Kretschmanns lange Weigerung, seinerseits für stringentere Maßnahmen einzutreten, entsprang demselben zynischen Kalkül.

Vielleicht ist es auch wahr, was er in zerknirschter Haltung jüngst zugab: Dass der "Lockdown light" ein Fehler war und dass "man" die Lage unterschätzt habte. In bewährter Manier gab er dabei allen und jedem die Schuld, wie es vor ihm Jens Spahn und Michael Kretschmer auch schon getan haben. Kretschmann war sich nicht zu schade, die Schuld für seine eigene miese Politik den Virolog*innen zu geben.

Das ist ungemein rückgratlos. Die Alternativen lagen auf der Hand, und sie waren seit dem Frühjahr bekannt. Das Problem für die Politik war der Unwillen, einerseits die Versäumnisse der Vergangenheit offen auf den Tisch zu legen - Stichwort digitale Infrastruktur, nur um eines zu nennen -, die nun überall die eigentlich gebotenen Lösungen blockierten. Zugleich aber bestand weiterhin ein Unwillen, diese im gebotenen Umfang anzugehen. Anstatt die riesigen Investitionslücken zu erkennen und zu klotzen statt zu kleckern, wurden überbürokratische Monstren erschaffen - Stichwort "Medienentwicklungsplan", was jeder Schulleitung einen Schauer über den Rücken jagt, wie ich aus eigener leidvoller Erfahrung bestätigen kann - und ein endloses Kleinklein fortgeführt. Typisch Deutsch, quasi.

Das ist mit Teil des Debakels, das die Europäische Union gerade mit den Impfstoffen erlebt. Wo die USA und Großbritannien bereits früh umfangreiche Lieferverträge abgeschlossen hatten und pro Kopf rund 20 Dollar für Impfstoffe investierten, brachte es die EU gerade mal auf rund 3,50 Euro. Wenig überraschend, dass die Kapazitäten nicht so groß sind, wie sie vielleicht sein könnten. Die große Vorsicht, nur ja kein Geld zu verschwenden, indem bei unsicheren Kantonisten bestellt wird, rächt sich jetzt - während gerade der Mut, das zu ignorieren, sich für USA und UK auszahlt. Die irrationale deutsche Obsession mit der schwarzen Null und dem bürokratischen Kleinklein, dem dreifachen Durchschlag und der Einhaltung auch noch der kleinsten Verordnung: in der Pandemie kosten sie Menschenleben.

Eine andere Quelle der Schuld macht dagegen Patrick Bernau in seinem Artikel "Raus aus der Corona-Falle" in der FAZ aus. Er konstatiert eine "Lockdown-Müdigkeit" in der deutschen Bevölkerung, deren Existenz kaum von der Hand zu weisen ist. Ständig wechselnde Verordnungen und Vorschläge, eine katastrophale Krisenkommunikation und dazu das ständige wahlkampfpolitische Störfeuer sorgen für eine Atmosphäre der Unsicherheit. Dazu kommt, dass die Maßnahmen überall dort ansetzen, wo es für die Politik leicht ist. Kleine Selbstständige werden getroffen - von Künster*innen bis zu Friseurstuben -, die Schulen und Kitas werden geschlossen, aber noch immer sind die Home-Office-Richtlinien zahnlos und gehen Millionen jeden Tag in die Betriebe, drängen sich in schlecht gelüfteten öffentlichen Verkehrsmitteln. Bernaus Lösungsvorschlag überrascht wenig:

Wie könnte es besser gehen? Wer übers Haushalten spricht, der sollte einmal über das wirtschaftliche Prinzip nachdenken. Dabei geht es gar nicht ums Geld und nicht um die Rettung geschlossener Restaurants, sondern um die grundsätzliche Denkweise. Die Medizin schützt im besten Fall die Gesundheit des Patienten, koste es, was es wolle. Das wirtschaftliche Prinzip dagegen heißt: Ein gegebenes Ziel wird mit dem kleinstmöglichen Aufwand erreicht. Das kann durchaus der härteste Kampf gegen das Virus sein, wie in der Medizin – trotzdem fragt man zusätzlich, welche Maßnahmen nötig sind und welche verzichtbar. Die Pandemie wird zuverlässig bekämpft, aber mit dem kleinstmöglichen Aufwand. Wenn es gut läuft, streitet Deutschland anders als zuletzt: Es geht nicht um mehr oder weniger Maßnahmen, sondern um schlauere. [...] Es kam aber nur eine Psychologin zu Wort. Soziologen fehlten ganz. Dabei sind sie ebenfalls wichtig, um die Reaktion der Bevölkerung zu verstehen. In einer liberalen Demokratie sind es immer noch die Bürger, die über den Erfolg der Pandemiebekämpfung entscheiden. 

Im Grundsatz klingt das super, und genau das ist es, was die Politik von sich seit dem Frühjahr zu tun beauptet. Das Ergebnis spricht Bände. Nicht, weil Bernaus Vorschläge schlecht wären. Selbstverständlich wäre ein solch cleverer Maßnahmenmix eine bessere Lösung als das aktuelle Gewürge. Sondern weil es völlig unrealistisch ist, dass das umgesetzt werden kann. Dafür ist unsere Demokratie viel zu sensibel gegenüber der öffentlichen Meinung. Der technokratische Wunschtraum, der hier zum Ausdruck kommt, zerschellt an der Realität des politischen Betriebs.

Die Ironie dabei ist, dass Bernau das selbst in sein Argument einpackt: Psycholog*innen und Soziolog*innen kommen nicht zur Sprache. Hätte Bernau sie mal besser selbst gefragt, sie hätten ihm vermutlich auch sagen können, wie sehr auf dem Glatteis ist.

Nein, letztlich gibt es nur einen eingeschränkten Spielraum, innerhalb dessen agiert werden kann. Gerade weil die feinjustierten Maßnahmen zwar gut gemeint sein mögen, aber in der Breite vor allem als undurchdringlicher, arbiträrer Dschungel ankommen, wäre von Anfang an nötig gewesen, klar und deutlich die Bedrohung zu kommunizieren und energische Maßnahmen zu ergreifen. Das ist nicht geschehen. Ob der Geist sich überhaupt in die Flasche zurücktreiben lässt, ist fraglich. Ich blicke mit ziemlichem Pessimismus in die nächsten Monate. Die Impfungen sind so langsam, dass sie kaum das Infektionsgeschehen bremsen werden. Die Wahlen sorgen für noch mehr Irrationalität als ohnehin. Und nach über einem Jahr ist die Lockdown-Müdigkeit Realität. Die beste Hoffnung ist, dass über den Sommer ein Wunder geschieht, so dass man wegen der saisonbedingt wieder sinkenden Inzidenzen eine Atempause erhält, die dann dieses Mal genutzt wird. Die Hoffnung, sie ist klein.

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