Im Jahr 2013 erlebten die Grünen ein Trauma, von dem sie sich bis heute nicht ansatzweise erholt haben: eine obskure Forderung auf Seite 123 eines sehr umfangreichen Wahlprogramms - dass in Kantinen des öffentlichen Dienstes an einem Tag in der Woche ein vegetarisches Gericht die Hauptoption sein sollte - wurde plötzlich zum alles bestimmenden Thema eines ansonsten extrem gemächlich verlaufenden Wahlkampfs, in dem der bislang größte Skandal war, dass Stefan Raab (!) im "Kanzler-Duell" (!!) Peer Steinbrück gefragt hatte, warum er "King of Schnitzel" sein wolle. Nun wiederholt sich das gleiche Debakel wieder.
2013 hatte die BILD so lange im Wahlprogramm herumgesucht, bis sie etwas gefunden hatte, dass sich mit etwas demagogischem Geschick in einen riesigen Aufreger verwandeln lassen würde. Das war dann der Veggie-Day. Beginnend in einer BILD-Kampagne sprang erst der Rest der Springer-Presse, dann der Rest der bürgerlichen Presse - die FAZ allen voran - auf den Zug auf, ehe das ganze in der Echokammer der Berliner Presselandschaft hin- und hergeworfen wurde. (Fairerweise muss hinzugefügt werden, dass auch die bürgerliche Inszenierung von Jürgen Trittin als größtem Steuererhöher aller Zeiten absurd erfolgreich war.)
Die Grünen, die zwischendurch zweistellige Höhenflüge erlebt hatten, erlitten mit knapp über 8% ein Debakel. Rückblickend betrachtet war das vielleicht gut so, denn 2013 flog die FDP auch aus dem Bundestag und die AfD blieb unter der 5%-Hürde. 2017 sprach die Republik über nichts anderes als über Flüchtlinge, und die AfD reüssierte mit zweistelligem Ergebnis.
Der Wahlkampf der Grünen war bereits 2017 von einer gerade zu offensiven Belanglosigkeit; dieses Jahr wurde das erst Recht zum Prinzip erhoben. Weder Robert Habeck noch Anna-Lena Baerbock ließen sich auch nur auf die Frage festnageln, ob die Partei eine Kanzlerkandidatur beanspruche und wenn ja, wer der beiden Ko-Vorsitzenden diesen Job ausfüllen würde. Programmatisch bewegte sich die Partei übervorsichtig in sicherem Fahrwasser (etwa mit der Forderung nach einer CO2-Steuer, deren Preisniveau noch unter den Vorschlägen der unternehmensnahen Think-Tanks lag).
Es hilft nichts. Ausgehend von der FAZ ist der nächste Aufreger gefunden: Die Grünen wollen Einfamilienhäuser verbieten! Daran stimmt genauso viel wie daran, dass der Veggie-Day verpflichtend für alle einen fleischlosen Tag pro Woche festschreiben sollte, aber das interessiert niemanden, denn es bedient die Vorurteile und schafft einen hervorragenden Aufreger, der einerseits ohne das Wort "Inzidenzen" auskommt und andererseits keine komplizierten Erklärungen von Olaf Scholz' Verstrickungen in den Wirecard-Skandal oder Peter Altmaiers katastrophale Wirtschaftspolitik benötigt. Einfamilienhaus verbieten, dass verstehen alle. Die Grünen als Feinde des schwäbischen Traums!
Stellvertretend für die entsprechenden Artikel ist das beste, nicht Paywall-verborgene Beispiel, das mir über den Weg lief, beim Spiegel zu finden. Unter dem Titel "Traumhaus ade" tobt sich Alexander Neubacher aus:
Träumen Sie vom Eigenheim? Von mehr Platz für sich und Ihre Familie, vom kleinen Garten mit Grill und Kinderschaukel? Dann habe ich einen Tipp: Beeilen Sie sich mit dem Bauen, bevor es zu spät ist. So wie in Hamburg-Nord. Dort regiert seit einem Jahr der grüne Bezirksamtsleiter Michael Werner-Boelz und hat verfügt: Der Gebäudetyp Einfamilienhaus passt nicht mehr in unsere Zeit: zu viel Flächenfraß, zu viel Baumaterial, vergleichsweise schlechtere Energiebilanz. Die Bebauungspläne wurden bereits geändert. In Stadtteilen wie Fuhlsbüttel und Langenhorn, hier wohnte einst Helmut Schmidt im Doppelhaus, werden Sie für ein neues Eigenheim schon keine Genehmigung mehr bekommen. Der Bezirksamtsleiter sagt: »Wir müssen höher bauen, um mehr Menschen unterzukriegen.« [...] Ich habe keinen Zweifel, dass die Grünen alle Berechnungen korrekt ausgeführt haben. Der Mensch ist ein Raumgreifer und Ressourcenverbraucher; wer lebt, sündigt, das ist das ökologische Dilemma unserer Existenz. Einerseits. Andererseits ist das Einfamilienhaus die wohl immer noch beliebteste Wohnform. Im Corona-Shutdown dürfte die Sehnsucht nach einem Haus mit Garten sogar noch gewachsen sein, sogar bei Grünenwählern. Auch der Trend zum Homeoffice spricht fürs Häuschen in der Vorstadt. [...] »Die Mitglieder einer freien, demokratischen Gesellschaft brauchen Wohn- und Arbeitsräume, die Wertschätzung, Gleichheit und positive Gestaltungskraft ausdrücken«, heißt es im Grünen-Beschluss. So ähnlich klang die Propaganda in der DDR für den Plattenbau. Der ostdeutsche Dramatiker Heiner Müller drückte es damals anders aus. Wohnungen in der Platte, das seien »Fickzellen mit Fernheizung«. (Alexander Neubacher, SpiegelOnline)
Natürlich stimmt die ganze Geschichte so ohnehin nicht, weil die
Forderung der Grünen nicht das Verbot von Eigenheimen ist, sondern die recht wenig spektakuläre Feststellung, dass die Bebauungspläne von den Kommunen gemacht werden und diese es damit in der Hand hätten, die grassierende Wohnungsnot dadurch zu lindern, dass sie die Bebauungsdichte erhöhen. Aber die Katze kann das Mausen wohl nicht lassen. Viel zu attraktiv ist die Story vom Verbot des Eigenheims. Die ersten bürgerlichen Politiker springen bereits auf den Zug auf:
Es ist bemerkenswert, wie leicht Phrasen wie "grüne Enteignungsfantasien" von der Zunge gehen. Sie sind etwa so nah an der Wirklichkeit wie "konservative Mordfantasien", um die aktuelle Flüchtlingspolitik eines Horst Seehofer zu beschreiben (guilty as charged), nur dass Letzteres mit Sicherheit einen Aufschrei verursachen würde. Fühner übertreibt hier um so viele Kategorien, dass er eigentlich aus dem Raum gelacht werden sollte - Bebauungsplan für neue Wohngebiete ändern vs. bestehende Eigenheime enteignen ist nicht mal mehr dasselbe Universum - aber ich wette, dass das in der Debatte der Tenor sein wird.
Dabei ist die zugrundeliegende Sachfrage, wie Fühner selbst in seinen folgenden Tweets zugibt, eine durchaus relevante. Seine Argumentation offenbart dabei, wie unsinnig das ist: So beklagt Fühner das "Ausbluten" des ländlichen Raums und fordert den Erlass der Grunderwerbssteuer für junge Familien, damit diese ihr Eigenheim "im Grünen" haben könnten.
Worin hier der Widerspruch zu der Politik der Grünen besteht, Einfamilienhäuser in den Ballungsräumen der Metropolen einzuschränken, bleibt sein Geheimnis, denn die Partei hat keinerlei Probleme mit Einfamilienhäusern "im Grünen". Klar sind sie nicht sonderlich energetisch und alles. Aber da gibt es aktuell größere Probleme. Denn der Trend, den Fühners anspricht, ist ja nur zu real. Der ländliche Raum blutet tatsächlich aus, die Menschen ziehen mehr und mehr in urbane Räume, wo die Wohnungsnot groß ist und massiv die Preise treibt. Woran liegt das?
Sicherlich auch an der Wirtschaftspolitik einer Partei, die seit 16 Jahren an der Regierung ist. Denn es ist ja nun nicht eben so, als sei die CDU mit einer Strukturpolitik aufgefallen, die Arbeitsplätze in ländlichen Räumen priorisieren würde. Eher das Gegenteil. (Nicht, dass andere Parteien sich hier mit Ruhm bekleckert hätten.) Aber das wäre eine gehaltvolle Debatte, mit Lösungsvorschlägen und allem drum und dran, da müsste man sich mit Sachfragen auseinandersetzen. Lieber bedient man niedere NIMBY-Instinkte und fantasiert von der Enteignung des Eigenheims, um einem ohnehin inhaltsleeren Wahlkampf noch die Krone aufzusetzen.
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