Mittwoch, 7. Juli 2021

Daddelnde Baerbock setzt nach Ohrfeige auf Klein-Klein im Internat gegen den Klimawandel - Vermischtes 07.07.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Green mortgages: Homes need to catch up to climate change

Bigger houses lived in by the most affluent, leak most. But it is those on low incomes, in poor quality housing who pay proportionally the highest bills. The pain is evident in the alarming figures for energy poverty amongst Black and Latinx Americans (more than one in three.) The energy crisis is wrapped up in a broader housing crisis. In Baltimore, 42 percent of the homes are so severely afflicted by mold and decay that they are unsafe for the basic insulation work needed to fix their energy leaks. In Atlanta the percentage may be as high as 64 percent. [...] In 2021, we need to define a new standard, this time for all Americans. By 2050, all Americans, whether homeowners or tenants, should be able to live in homes that are efficient, clean and healthy, that do not burden them with excessive utility bills and do not contribute to the climate crisis. Every property that benefits from a GSE guarantee should meet the highest energy standards. Every single mortgage should be a green mortgage. We know it can be done. [...] With regulatory support and incentives this is a triple win for the climate, for social justice and for jobs. Making the energy transition is going to be hard. It may be divisive. We should seize the easy wins where we can. (Adam Tooze, The Hill)

Niedrig hängende Früchte abzugreifen sollte tatsächlich eine absolute Priorität sein. Ich weiß nicht, wie das im Vergleich in Deutschland ist - gefühlt sind wir hier bei der Förderung energetischer Sanierung weiter, aber ich weiß es nicht - aber es gibt sicherlich auch hier Dinge, die sich mit großer Breitenwirkung relativ fix umsetzen ließen. Ein hervorragendes Beispiel hierfür hierzulande ist das Tempolimit, das CDU und FDP leider aus ideologischen und identitätspolitischen Gründen scharf ablehnen.

Was wir aber grundsätzlich brauchen ist ein Mentalitätswandel. Wir müssen weg von dem ständigen Verschieben auf die Zukunft, wie es etwa Laschet zum Prinzip erhoben hat (der in völliger Realitätsverweigerung die Marke 2050 im Auge hat). Ich habe letzthin gelesen (weiß leider nicht mehr wo), dass wir CO2-Einsparungen betrachten müssen wie die Inflations- oder Arbeitslosenrate: als eine Kenngröße, die jeden Tag aufs Neue geprüft wird. "Wie viel CO2 haben wir heute eingespart?" muss die Devise werden.

Und das würde dann konkrete Maßnahmen fordern. Anstatt dass man "CO2-Neutralität bis 2050" als Zielmarke hat, das so groß und unbestimmt ist, dass es völlig fantastisch ist, muss die Frage lauten: was haben wir heute getan? Ich sehe die beste Analogie dafür beim Abnehmen. Jede Diät scheitert, die sich auf eine Zielmarke in ferner Zukunft ("20kg bis zum Sommer!") festlegt, ohne einen Plan zu haben, wie das funktionieren soll. Die Kalorienzahl muss jeden Tag aufs Neue überprüft werden. Jeden Tag müssen Kalorien eingespart werden. Und genauso müssen wir auch an den Klimawandel ran.

2) The debt hawks are flapping their wings

Fiscal rules came into fashion in the heyday of the ‘bond vigilantes’ in the 1990s, in a very different interest-rate environment. Given today’s low rates, the burden of debt service is far less. It is tempting to dispense with rules altogether. But the peculiar construction of monetary union and the mutual suspicion prevailing between parts of the European public exact their price. Europe needs rules. Yet the Maastricht-derived criteria are wholly out of date. To bring the old Stability and Growth Pact back into effect in 2022 would be a recipe for dysfunction and recrimination. It would unleash uncertainty and hamper recovery. If there has to be a restoration of rules, a prerequisite would be agreement on a new system which corresponded to European fiscal reality. [...] Excessive fiscal tightening in big economies is as much a problem as excess debt. And since debt is serviced over the long run, what matter is not just today’s aggregate demand but growth in the long run. That depends on investment. A system of fiscal rules that stifles investment undercuts its own sustainability. And this is doubly so in the context of the climate crisis, which requires long-term investment in decarbonisation. (Adam Tooze, Social Europe)

Tooze spricht in seinem lesenswerten Artikel hier an, was ich im letzten Vermischten auch thematisiert habe. Der Fetisch von Regelungen, die ihre Funktion bestenfalls nicht mehr erfüllen, schlimmstenfalls aber aktiv Schaden anrichten, ist ein gigantisches Problem. Das gilt natürlich nicht nur für Maastricht; für mich ist das wegen meiner eigenen policy-Präferenzen nur das beste Beispiel. Gegner von Merkels Flüchtlingspolitik etwa dürfte schnell das Schengen-Abkommen in den Sinn kommen, wo die gleichen Leute, die gegen jede Aufweichung oder Abweichung von Maastricht wettern, sehr zu Abweichungen und Aufweichungen bereit waren. Regeln eines politischen Systems sind niemals in Stein gemeißelt, sie werden immer einem Anpassungsprozess unterliegen (müssen).

3) Can Elites Start the Climate Revolution?

Will the spring of 2021 prove to be a pivotal moment in the climate crisis? Last week, the management of both Exxon Mobil and Chevron lost battles with green activist shareholders. A third oil major, Shell, was ordered by a Dutch court to dramatically step up its climate effort. This followed a damning judgment in April by the German supreme court on Berlin’s plan for decarbonization. The International Energy Agency (IEA), formerly a bastion of the fossil fuel industry, laid out a demanding path to net-zero greenhouse gas emissions. [...] The other news that came out this May is that thanks to its pandemic economic recovery, driven by heavy industry, China’s carbon dioxide emissions reached an all-time high. Over that 12-month period, China’s emissions exceeded those of the entire OECD rich country club. In 2019, India overtook Europe as the No. 3 emitter of carbon dioxide. We should welcome the signs that the energy transition is beginning to gather momentum in Europe and the United States, at last. But we should not mistake their import. We are no longer in the 1990s. We are well past the point at which the West decides the future of the world’s climate. (Adam Tooze, Foreign Policy)

Ich bin völlig Toozes Meinung, dass im Westen entscheidend sein wird, wie die großen, CO2 emittierenden Unternehmen sich verhalten werden. Wenn etwa Daimler einen fundamentalen Schwenk hinlegt, weil sie anders als in Deutschland nicht in allen Ländern die Politik kaufen können und sie nun mal ein global agierendes Unternehmen sind, dann ändert sich die Lage auch hier.

Tooze hat aber auch damit Recht, dass der Westen längst nicht mehr entschiedet, wie und ob das Klima gerettet wird. Wir leisten immer noch einen Löwenanteil, und ohne uns wird es nicht gehen. Aber unsere CO2-Neutralität ist eine notwendige, nicht eine hinreichende Bedingung. Das Problem mit Ländern wie Indien, China oder Brasilien ist, dass diese in Rekordtempo dekarbonisieren müssen, aber ihre Standardargumentation - der Westen hat 200 Jahre lang das Klima verschmutzt und will jetzt unsere Entwicklung blockieren - leider nicht komplett von der Hand zu weisen ist. Ich habe keine Ahnung, wie das gelöst werden soll. Vermutlich wäre der einzige Ausweg ein riesiger globaler Fonds, der Ausgleichszahlungen - quasi Reparationen - des Westens für die Dekarobinisierung der 2. Welt finanziert. Aber wie das funktionieren soll?

4) Erneut Hunderte Gräber von indigenen Kindern entdeckt

In Kanada sind auf einem Gelände in der Nähe eines früheren katholischen Internats für Kinder von Ureinwohnern im Dorf Marieval erneut Hunderte anonyme Gräber entdeckt worden. So viele nicht gekennzeichnete Gräber seien bislang noch nie gefunden worden [...] In Kanada waren ab 1874 rund 150.000 Kinder von Ureinwohnern und interkulturellen Paaren von ihren Familien und ihrer Kultur getrennt und in kirchliche Heime gesteckt worden, um sie so zur Anpassung an die weiße Mehrheitsgesellschaft zu zwingen. Viele von ihnen wurden in den Heimen misshandelt oder sexuell missbraucht. Nach bisherigen Angaben starben mindestens 3.200 dieser Kinder, die meisten an Tuberkulose. [...] Viele indigene Gemeinschaften machen die Heime, die ganze Generationen geprägt haben, heute für soziale Probleme wie Alkoholismus, häusliche Gewalt und erhöhte Selbstmordraten verantwortlich. Ottawa entschuldigte sich im Jahr 2008 offiziell bei den Überlebenden der Internate. Sie seien Opfer eines "kulturellen Genozids", stellte eine Untersuchungskommission im Jahr 2015 fest. (AFP, T-Online)

Das wurde nicht nur in Kanada gemacht; auch in den USA haben diese "Indianerschulen" eine Art "kulturellen Genozid" durchgeführt, da gibt es seit Jahrzehnten zig Reportagen, Autobiographien und so weiter dazu. Es ist faszinierend, dass das immer noch nicht auch nur ansatzweise aufgearbeitet wurde. Die Flurschäden, die diese Politiken angerichtet haben - in zerstörten Biographien und unerschlossenem ökonomischen Potenzial - sind geradezu irre. Mal ganz davon abgesehen, dass in diesen Gefängnissen - denn Schulen sind das nicht wirklich - tausende von indigenen Kindern ermordet wurden...

5) Baerbock geht zum Gegenangriff über

Die ganze Wahlkampforganisation der Grünen schwimmt mittlerweile mit dem Bauch nach oben. Die unglaubliche Unprofessionalität, die da zur Schau gestellt worden ist, lässt sich nicht mehr einfangen. Für mich drängt sich der Vergleich mit HRC auf: auch hier wurde auf absolut vorhersehbare Schwächen erst gar nicht, dann erratisch reagiert. Die Folgen waren ein Mühlstein um den Hals, den die Kandidatin nie wieder los wurde, und HRC konnte im Gegensatz zu Baerbock mit Pfunden wie Erfahrung und Trump als Gegner punkten. Ich sehe nicht auch nur die geringste Chance, wie die Grünen das bis zum September wieder rausreißen wollen. Die können glücklich sein wenn sie 20% schaffen und dann 2025 einen neuen Anlauf wagen können. Möglicherweise haben sie die Chancen der Partei komplett versenkt. Und das völlig selbstverschuldet.

6) Spanking can worsen a child's behavior and do real harm, study finds

The review, published Monday in the journal Lancet, found physical punishment such as spanking is "harmful to children's development and well-being," said senior author Elizabeth Gershoff, a professor in human development and family sciences at The University of Texas at Austin. "Parents hit their children because they think doing so will improve their behavior," Gershoff said. "Unfortunately for parents who hit, our research found clear and compelling evidence that physical punishment does not improve children's behavior and instead makes it worse." [...] The most "consistent support," in 13 of 19 independent studies, was that spanking and other forms of child punishment created more external problem behaviors over time, Gershoff said, such as "increased aggression, increased antisocial behavior, and increased disruptive behavior in school." Acting out by children who were physically punished occurred no matter the child's sex, race or ethnicity, the review found. [...] Finally, the review found that any negative outcomes of corporal punishment were not eased by parenting style. Four out of five studies found that an overall warm and positive parenting style "did not buffer the effect of physical punishment on an increase in behavior problems." (Sandy LaMotte, CNN)

Ich habe nicht sonderlich viel hinzuzufügen an der Stelle, ich möchte das Fundstück vor allem zum awareness raising da lassen. Wir haben glücklicherweise bereits seit fast einem halben Jahrhundert die Prügelstrafe aus den Schulen verbannt, und auch in der privaten Erziehung nimmt das immer mehr ab; richtiges Verprügeln gibt es kaum noch. Aber die Ansicht, dass die eine oder andere Ohrfeige oder grobe Anpacken "schon nicht schaden wird" ist leider immer noch weit verbreitet.

Ich merke das auch selbst immer wieder. Das Verlangen nach einer körperlichen Reaktion kann geradezu übermächtig sein, wenn die Kinder in völlige Verweigerungshaltung gehen (ich glaube, alle Eltern kennen das). Ich muss mir dann immer wieder von Neuem klarmachen, dass das ein Versagen von mir persönlich ist. Jede Gewaltanwendung gegen Kinder, physisch oder psychisch (!), ist immer ein Versagen meiner eigenen Erziehung. Wenn ich so in die Ecke gedrängt bin, dass ich nichts mehr anderes tun kann, ging vorher etwas schief. Nicht, dass ich mich deswegen allzu selten in dieser Ecke finden würde...

7) Boring news cycle deals blow to partisan media

In the months since former President Donald Trump left office, media companies’ readership numbers are plunging — and publishers that rely on partisan, ideological warfare have taken an especially big hit.

Why it matters: Outlets most dependent on controversy to stir up resentments have struggled to find a foothold in the Biden era, according to an Axios analysis of publishers’ readership and engagement trends.

By the numbers: Web traffic, social media engagement and app user sessions suggest that while the entire news industry is experiencing a slump, right-wing outlets are seeing some of the biggest plunges.

  • A group of far-right outlets, including Newsmax and The Federalist, saw aggregate traffic drop 44% from February through May compared to the previous six months, according to Comscore data.

  • Lefty outlets including Mother Jones and Raw Story saw a 27% drop.

  • Mainstream publishers including the New York Times, Wall Street Journal, USA Today and Reuters dropped 18%. (Neal Rothschild, Axios)

Jede Analyse von Trump, jede Analyse, die sich mit dem Aufstieg der AfD beschäftigt, jede Analyse, die Wahlkampfmechanismen generell betrachtet und die Rolle der Medien und ihre Anreize bei der Polarisierung außer Acht lässt (und nicht wie etwa meine eigene brillante Betrachung der grünen Medien unternimmt), entgeht ein zentrales Puzzleteil. Es ist unangenehm für die Demokratie und das mediale Selbstbild als "vierte Gewalt", aber Medien sind - mit Ausnahme der ÖR - Wirtschaftsbetriebe, die zuvordererst auf die Quote achten müssen, und selbst die ÖR richten sich größtenteils an dem aus, was Quote macht.

8) Video Games Are a Labor Disaster

The chaotic and exploitative employment arrangements of the video game industry might be justified or excused by pointing to the industry’s inarguable success—after all, those arrangements produced all-time classics like BioShock and reliable regular hits like the Call of Duty franchise. But gamers might come away from Press Reset with some new (or at least more refined) explanations for the things they don’t like about the industry. Endemic instability could help explain why hugely anticipated games so frequently get delayed and are then released seemingly unfinished, or why well-respected veteran developers like Warren Spector so often fail to find professional, stable homes or secure funding for new projects. Developers’ lack of autonomy at big studios might also help explain how a studio like Mythic Entertainment went from making competent online multiplayer PC games to a widely detested free-to-play mobile game. (One chapter tells of “product managers” from Mythic’s parent company, Electronic Arts, forcing developers to implement features that they knew made the game worse, in order to entice players to pay to make the game actually fun. “People are going to hate this,” an employee recalls his teammates saying. People did. Mythic closed.) Video game workers are not treated poorly because it’s so hard to make a game. The causation might actually run in the other direction: It might be hard to make a video game because the people who make them are treated so poorly. (Alex Pareene, The New Republic)

Pareenes Reportage ist sehr lang und ausführlich und sei interessierten Leser*innen zur Gänze empfohlen. Ich möchte hier vor allem auf den zitierten Ausschnitt eingehen, nämlich die Rolle der Gewerkschaften. Man sieht immer wieder, dass selbst in den 2020er Jahren diejenigen Branchen die besten Arbeitsbedingungen bieten, die während des goldenen sozialdemokratischen Zeitalters starke Gewerkschaften hatten. Das ist 70 Jahre her, aber es hat strukturelle Effekte bis heute. Alles, was danach kommt, ist praktisch durch die Bank schlechter, wenn wir von Spitzenbereichen wie Investmentbanking absehen.

9) "Das ist die Schuld des Westens" (Interview mit Carlo Masala)

ZEIT: Sprechen wir über einige zentrale Forderungen der Parteien in der Außen-und Sicherheitspolitik: Olaf Scholz fordert eine europäische Armee, die dem EU-Parlament unterstellt sein soll. Seine eigene Partei kann sich nach zehn Jahren Debatte aber noch keine abschließende Meinung zum Einsatz von bewaffneten Drohnen bei der Bundeswehr bilden. Passt das zusammen?

Masala: Leider ja. Es handelt sich bei der europäischen Armee um eine reine Wohlfühlformel. Die Mehrheit der Deutschen fände sie super, hat aber keine Ahnung, was das für Konsequenzen hätte. Mein Verdacht ist, viele hoffen, man müsse sich dann weniger mit Verteidigung und lästigen Fragen wie bewaffneten Drohnen befassen, wenn man das Problem einfach nach Brüssel abschieben könnte. Das wird aber so nicht funktionieren.

ZEIT: Warum?

Masala: Jede Armee beruht auf der Zustimmung der Gesellschaft, dass Väter, Mütter, Söhne, Töchter, Brüder, Schwestern ihr Leben im Einsatz riskieren. Sind die Deutschen bereit, diese Entscheidung an Brüssel abzugeben? Sind es unsere Nachbarn? Was machen wir, wenn die Mehrheit der EU-Partner dafür ist, die europäische Armee in einen gefährlichen Einsatz zu schicken, den wir ablehnen?

ZEIT: Die CDU steht für eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich, aber die Verteidigungsministerin streitet sich mit dem französischen Präsidenten über den Begriff "strategische Autonomie" – ist das klug?

Masala: Die deutsch-französische Freundschaft gehört zur parteipolitischen Folklore der CDU, schon seit Konrad Adenauers Zeiten. Lange Zeit gab es eine sicherheitspolitische Arbeitsteilung: Die Deutschen haben das Geld, die Franzosen die Nuklearwaffen. Nachdem sich die irrige Vorstellung durchsetzte, das Militärische sei nicht mehr so wichtig, nahm die Bedeutung dieser Waffen ab. Damit veränderte sich auch die deutsch-französische Zusammenarbeit. Paris will führen, aber die Deutschen wollen keine französische Führung, und die Franzosen wollen keine deutsche Führung. Deshalb lösen solche Vorschläge wie Macrons "strategische Autonomie" für Europa Abwehrreflexe aus. (Jörg Lau/Özlem Topçu, ZEIT)

Ich teile Masalas Ansicht, dass die meisten Befragten sich wohl wenig Gedanken über die Konsequenzen einer europäischen Armee machen und sich eher darunter vorstellen, dass die Belastungen nach außen abgegeben werden, wie in der guten alten Zeit, als man sicherheitspolitisch komplett von den USA abhängig war und sich auch auf sie verlassen konnte. Die Franzosen haben wesentlich bessere strategische Denkfähigkeiten als die Deutschen (hier als Institutionen gemeint, nicht als Nationen oder Bevölkerungen). Natürlich denken sie aus Sicht ihrer nationalen Interessen strategisch, aber Deutschlands Dilemma ist ja unter anderem, dass es nicht einmal in der Lage ist, in strategischen Interessen zu denken, geschweige denn diese zu formulieren.

10) Löcher in der Leitung

Deutschland ist wegen seiner Mitgliedschaft im Weltklimarat dazu verpflichtet, alle Emissionen in einem jährlichen Inventarbericht aufzuführen. Alle Treibhausgase, ob sie von Autos oder von Rindern ausgestoßen werden, sind dort verzeichnet. Auf dieser Grundlage wird beschlossen, wie viel CO₂ beispielsweise im Autoverkehr oder der Energiewirtschaft eingespart werden muss. Auch Gas-Lecks sind aufgeführt, aber ihr Ausmaß wird vom Umweltbundesamt nicht geprüft. Man vertraut allein den Angaben der Industrie. [...] Ganz offensichtlich fehlt ein Großteil der Lecks, aber niemand will dafür verantwortlich sein. Die Betreiber der Anlagen und die Landesbehörden weisen jede Verantwortung von sich. Das brandenburgische Landesumweltamt gibt gegenüber der ZEIT an, dass es keine "expliziten Meldepflichten" für Betreiber von Gasanlagen gebe. Auch von Methan-Lecks in Mallnow wisse man nichts. [...] Würde das alles umgesetzt, könnten bis 2030 rund 180 Millionen Tonnen Methan pro Jahr eingespart werden, heißt es in dem UN-Bericht. Dadurch sei es möglich, eine weitere globale Erwärmung um fast 0,3 Grad bis in die 2040er-Jahre zu vermeiden. "Dann könnten wir die Klimakrise entscheidend abbremsen", sagt der Gasexperte der Deutschen Umwelthilfe, Constantin Zerger. Methan könne auch zu Asthma bei Kindern führen und Kreislauf-Krankheiten verschlimmern.  (Susanne Götze/Annika Joeres, ZEIT)

Passend zu Fundstück 1 haben wir eine niedrig hängende Frucht, die sich grundsätzlich angehen ließe. Wie so oft ist es intensives Lobbying, das die Ernte hier verhindert. Deswegen wäre ein Framingwechsel auch so nützlich: müssten Regierungen permanent vorlegen, wie sie konkret (!) Emissionen einsparen, wären solche Maßnahmen plötzlich von politischen Verlierern - interessiert keinen, kostet aber eine Menge politisches Kapital - zu Gewinnern gewandelt, weil sie auf die Art einige Monate Ruhe erkaufen könnten. Genauso wie man die Wirtschaft bei ihrem Eigeninteresse packen muss, um den Klimawandel anzugehen, so muss man das auch bei der Politik. Das sollte doch eigentlich gerade für die FDP ein guter Ansatz sein, weil es eben nicht auf idealistischen Großentwürfen basiert, die man ostentativ abzulehnen behauptet.

11) Im Land der Kleinmütigen

In sozialwissenschaftlichen Fragen regiert meist der gesunde Menschenverstand, der – bei allem Respekt – so gesund oft nicht ist. Entscheidungsträger folgen häufig "starken Intuitionen", gehen fehlerhaft mit Wahrscheinlichkeiten um, verwechseln Korrelation mit Kausalität oder vernachlässigen Folgewirkungen und Ausweichreaktionen. Der Mangel an Evidenz oder ein falscher Umgang mit Daten führen deshalb regelmäßig zu Fehlschlüssen, die noch verstärkt werden durch politischen Druck, Stimmungen und Umfragen und die Tatsache, dass gerade Entscheidungsträger in ihrem Urteil häufig zu selbstsicher sind. [...] Das bringt uns zur Situation in Deutschland. Hier herrschen Skepsis, Trägheit und Kleinmut, sowohl gegenüber sozialen Experimenten als auch bei der Bereitstellung administrativer Datensätze. Die Folge: Deutschland ist notorisch untererforscht. Ein enormer Standortnachteil! Während es anderswo durch die Verknüpfung von Daten beispielsweise möglich ist, zu identifizieren, welche Berufsgruppen besonders gefährdet sind, sich mit Corona zu infizieren (also etwa Busfahrer oder Lehrkräfte), war und ist dies in Deutschland leider nicht machbar. Was Deutschland dringend braucht, ist eine Kultur evidenzbasierter Politik. Die hierfür vielleicht wichtigste politische Voraussetzung ist das selbstkritische Denken. Wer sich einem wissenschaftlichen Test stellt, setzt die Möglichkeit des eigenen Irrtums voraus. Das ist kein Scheitern, sondern Kennzeichen einer rationalen Fehler- und Wissenschaftskultur. (Armin Falk, ZEIT)

Ich teile Falks Meinung völlig. Für das von ihm an anderer Stelle in seinem Artikel beschriebene Nudging plädiere ich ja etwa hier im Blog seit 2013 (siehe hier). Gleiches gilt für die bescheuert eng gefassten deutschen Regeln etwa beim Datenschutz, die verlässlich dafür Sorge tragen helfen, dass wir digitiales Schlusslicht der industrialisierten Welt sind. Leider ist bei keiner der im Bundestag vertretenen Parteien eine Neigung zu evidenzbasierter Politik auszumachen. Sie ist, fairerweise gesagt, auch nicht eben populär. Wahlkampf gemacht wird mit Gefühlen. Die evidenzbasiertest arbeitende Regierung war die von Obama, und deren Probleme, ihre Politik zu verkaufen, sind legendär. "Build the Wall" ist da halt schon eingängiger, egal wie dumm es ist.

Aber es sei auch gesagt, dass es manchen Punkten einfach keine Evidenz geben kann. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist das BGE. Die Befürworter*innen bringen in ihren Appellen zur Einführung gerne Studie um Studie und Experiment nach Experiment, aber letztlich sind die alle nutzlos. Die einzige Möglichkeit herauszufinden, ob ein BGE funktioniert, ist, es in einer großen, entwickelten Volkswirtschaft einzuführen. Nicht eben ein Experiment, das man unternehmen will (neben all den anderen Gründen, die gegen das BGE sprechen).

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