Teil 0 mit einleitenden Bemerkungen, Teil 1 mit einer Betrachtung der außenpolitischen Rolle der USA, Teil 2 mit einer Analyse der Finanzkrise 2007/2008, Teil 3 mit einer Beschreibung der Rückkehr der Realpolitik sowei Teil 4 und Teil 5 mit der Analyse der europäischen Politik gingen diesem Artikel voraus.
Selbstverständlich war dieser politische Richtungswechsel nicht.
Als in Deutschland 2004 eine Protestwelle gegen die Agenda2010 losbrach, war es die radikale Linke, die davon profitierte. Die PDS, bis dahin eine ostdeutsche Regionalpartei, die 14 Jahre lang vergeblich versucht hatte, einen Fuß in die Tür westdeutscher Wählerschaften zu bekommen, setzte sich geschickt an die Spitze der Bewegung und kooptierte die disparaten westlichen Protestgruppen (was durch Lafontaines Entscheidung, seine eigenen nicht unerheblichen politischen Talente zur Einigung dieser disparaten Strömungen einzusetzen, stark erleichtert wurde). In der zweiten Hälfte der 2000er Jahre war die LINKE ein permanenter Stachel im Fleisch der etablierten Parteien, trieb sie vor sich her und war der Schrecken des Establishments. Die Befürchtung von "sozialen Unruhen" wurde in den Leitmedien debattiert und fand ihren Weg in Interviews, Reden und Talkshowauftritte von Spitzenpolitiker*innen.
Die beginnende Finanzkrise ab 2008/2009 gab den Linken, ohnehin durch den Um- und Abbau des Sozialstaats im Aufschwung, dann scheinbar neuen Rückwind. Doch etwas Merkwürdiges geschah: nichts. In Deutschland war es das Gespann Merkel-Steinbrück, das den deutschen Teil der Finanzkrise abwickelte; die außenpolitischen Folgen beschäftigten dann die Nachfolgeregierung, die von den bürgerlichen Parteien gebildet wurde - mit einem Rekordergebnis für die FDP, die Partei, die am stärksten mit der den Agenda-Reformen zugrundeliegenden Geisteshaltung identifiziert war. Eine verbreitetes Interesse an der linken Revolution war jedenfalls nicht erkennbar; die LINKE erreichte zwar fast 12%, aber sie verlor ihr oppositionelles Alleinstellungsmerkmal. Bereits 2013 war sie praktisch auf demselben Stand wie 2005, während Angela Merkel ein triumphales Ergebnis für die CDU einfuhr und die absolute Mehrheit nur um Haaresbreite verfehlte.
Auch in anderen Nationen sah es nicht anders aus. In Italien übernahm eine Technokratenregierung die Macht. Das langsam rollende Dauerdesaster in Griechenland wurde von einem Wechselspiel der beiden klassischen sozial- und christdemokratischen Parteien verwaltet. In Spanien und Portugal bot sich das gleiche Bild. In Frankreich siegte 2007 der konservative Hardliner Sarkozy über die progressive Herausforderin Royal. In Großbritannien wurde die amtierende Labour-Regierung 2010 von den Tories (in Koalition mit den Liberalen) abgelöst. Klassisch liberale Politiker regierten in Polen und Ungarn. Kurzum: in den Jahren der beginnenden Finanzkrise waren es gerade die Vertreter*innen des liberalen Projekts, die die Zügel in der Hand behielten.
Während sich diese Lage in Deutschland nicht änderte - auf die Erschütterung des Parteiensystems durch den Aufstieg der AfD kommen wir noch zu sprechen - war der Rest Europas wesentlich stärker von den Stürmen des Antiliberalismus betroffen. Das muss nicht überraschen, denn Deutschland überstand die Krise wesentlich unproblematischer als viele seiner Nachbarn - unter anderem, weil die Struktur der Europäischen Union und der Eurozone seine Aufstellung stark begünstigten - begann im Rest Europas das Gefüge deutlich zu wacken.
Der Grund dafür liegt in den politischen Kosten der Finanzkrise. Diese gestalteten sich je nach Land unterschiedlich.
Gerade in den Staaten Südeuropas waren die Auswirkungen besonders stark spürbar. Die etablierten Parteien waren gezwungen, radikale Austeritätsprogramme aufzulegen, mit all den schwerwiegenden Folgen, die das für die Menschen hatte. In praktisch all diesen Ländern führten diese Programme zu einer Erosion der bestehenden Parteiensysteme. Am härtesten getroffen waren die "klassischen" Linksparteien, die praktisch überall massiv an Zustimmung verloren. Dieser Prozess ging nicht von heute auf morgen, sondern fand mit Verzögerung statt. An ihre Stelle traten populistische Parteien, von Syriza in Griechenland über Podemos in Spanien zu M5S in Italien. Nicht immer handelte es sich um linkspopulistische Parteien.
In anderen Ländern kam die Herausforderung von links innerparteilich. In Großbritannien war dieser Aufstand sogar erfolgreich; 2015 übernahm Jeremy Corbyn in der Labour-Partei das Ruder, eine weite Unzufriedenheit in der Partei gegen den "New Labour"-Konsens von Blair und Brown signalisierend. In den USA erwies sich Bernie Sanders als unerwartet schwerwiegende Herausforderung.
Die Erfolgsbilanz dieser linken Aufstände gegen die Verantwortlichen der Finanzkrise und die Austeritätspolitik ist bestenfalls durchmischt. Syriza scheiterte krachend an den machtpolitischen Realitäten, wie wir bereits dargestellt haben. M5S wandelte sich mehrfach und beteiligte sich auch an der Regierung. Melenchon scheiterte 2017 im Vierkampf gegen Fillon, Macron und Le Pen. Die größten Erfolge erzielten sie in Spanien und Portugal, doch selbst hier ist ihr Halt an der Macht bestenfalls brüchig.
Doch in allen Nationen wesentlich nachhaltiger und erfolgreich war die gleichzeitige Herausforderung von rechts. Berlusconi fand seinen Weg zurück an die Macht. Le Pen geriet zur formidablen Herausforderin der Demokratie in Frankreich. UKIP begann in Großbritannien zu wachsen. In den USA war es nicht das kurzlebige und wenig ernstzunehmende Occupy Wallstreet, sondern die Tea Party, die sich als populistisches Sammelbecken inszenierte. Und die größten Erfolge verzeichneten die Rechtspopulisten in Osteuropa, wo die autoritäre Fidesz-Partei unter Orban 2010 und die ebenso autoritäre PiS unter Kaczinsky 2005 bis 2007 und dann wieder ab 2015 die Regierung übernahm. In Großbritannien gewann UKIP zwar nicht die Wahlen, aber das Votum zum Brexit, und in den USA errang mit Donald Trump der letzte große Rechtspopulist eine Wahl, die gleichzeitig als eine Art Weckruf der liberalen Demokratie fungierte - bezeichnenderweise hat seither kein weiterer solcher Umschwung stattgefunden.
Die größten Erfolge dieser rechtspopulistischen Aufstandswelle erforderten den Doppelschlag der langen Erosion durch die Finanzkrise - die heute praktisch verdrängt ist - und der Flüchtlingskrise 2015, für die das sehr emphatisch nicht gilt.
Die Katalsystorwirkung der Flüchtlingskrise für den Aufstieg der Rechtspopulist*innen dürfte unbestreitbar sein. Die Brexit-Kampagne hat sie massiv zur Schürung irrationaler Ängste genutzt, Trump versprach keine Syrer*innen ins Land zu lassen, Le Pen drosch politisches Heu mit der Beschwörung der ins Land drängenden Horden, die Goldene Morgenröte und die Lega Nord konnten bereits auf eine längere Erfahrung mit Flüchtlingen zurückblicken: spätestens seit 2011/12 hatten sie um Hilfe gerufen.
Und das ist, wo die Lage kompliziert wird. Denn die Ressentiments, auf denen diese Erfolge erzielt wurden, haben tiefere Wurzeln als die Flüchtlingskrise. Sie reichen bis weit in die Anfänge der verdrängten Dekade zurück. Gerade für die südeuropäischen Länder ist die Flüchtlingskrise kein Phänomen vom 2015. Sie hatten bereits Jahre zuvor mit tausenden von Neuankömmlingen an ihren Stränden zu kämpfen. Ihre Hilferufe an die EU stießen auf taube Ohren. Angeführt von Deutschland stellten sich die nördlichen und östlichen Länder auf die Dublin-Konvention, nach deren Buchstaben sie jede Verantwortung von sich weisen konnten. Das war natürlich formal korrekt, aber schaffte über Jahre massive Ressentiments gegenüber dem liberalen Regime der EU.
Dieses Ressentiment kam zu dem bereits vorhandenen aus der Eurokrise hinzu, als die süd- und osteuropäischen Volkswirtschaften hart getroffen wurden und vorrangig aus Berlin moralisierend-überhebliche Ratschläge und Überlegenheitsbekundungen kamen.
Und das war, ungeachtet der wirtschaftlichen Lage - ich möchte an dieser Stelle überhaupt nicht in die Debatte gehen, wie sinnvoll die deutsche Haltung aus der nationalistischen Brille heraus war - für die Außenwirkung verheerend. Nicht nur kommunizierte die deutsche Regierung unmissverständlich, dass sie bestimmte Länder aus dem Euroraum drängen wollte, sie weigerte sich auch, überhaupt ihre eigene Rolle in dem Drama anzuerkennen und gab stattdessen die Schuld den betroffenen Nationen, denen sie moralisierende Vorwürfe machte. Nicht, dass es den Nationalstaaten je schwer gefallen wäre, für innenpolitische Probleme die EU verantwortlich zu machen, aber die deutsche Haltung servierte den Populisten die Vorlage auf dem Silbertablett.
Wir sehen diese Dynamik am deutlichsten nicht in Griechenland, wo die größte Überraschung eigentlich ist, wie lange die etablierten Parteien sich halten und eine Erfüllungspolitik gegenüber der EU durchziehen konnten, sondern in Ungarn. Budapest ist der Ground Zero des Aufstands von rechts, und nichts davon hat mit Flüchtlingen zu tun, sondern mit der Finanzkrise.
Der Grund dafür liegt in der Struktur des ungarischen Wohlfahrtsstaats. In den 1990er Jahren waren Polen, Tschechien und mit Abstrichen auch Ungarn unter den großen ehemaligen Ostblockstaaten die Musterknaben der neoliberalen Reformära gewesen. Anders als die DDR, deren Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion sowohl Regelwerk als auch Sozialstaat des westlichen Nachbarn übernahm und wegen der furchtbaren Lage der Industriesubstanz nicht wettbewerbsfähig war (mit den bekannten Folgen), was durch die großzügige Milliardentransfers des "Aufbau Ost" ausgeglichen wurde, konnten sich die osteuropäischen Staaten nicht auf Hilfen von außen verlassen. Ihre nicht minder verrottete Industrie konnte nicht durch eine Treuhand abgewickelt werden, der Absturz für die Bevölkerung nicht durch ein großzügiges Sozialsystem aufgefangen werden. Der "system shock" kam abrupt und schmerzhaft für alle außer einer kleinen Elite Gewinner.
Der Vorteil dieses abrupten Systemwechsels aber war, dass Ende der 1990er Jahre die Wachstumszahlen steil nach oben zeigten (während Ostdeutschland einer der entscheidenden Faktoren für Deutschlands Dauermalaise war). Osteuropa war wegen seiner geringen Regulierungsdichte, kaum vorhandenen Arbeitsschutzgesetze und niedrigen Löhne für Investoren attraktiv. Die vergleichsweise geringen sozialstaatlichen Sicherungen, die diese neuen liberalen Regime installierten, waren demzufolge auf maximale Marktnähe strukturiert: so wurde etwa das Rentensystem durch an den Kapitalmärkten aktive Rentenfonds aufgebaut.
In der Finanzkrise gerieten diese Fonds in schweres Fahrwasser. In Ungarn sahen sich 2009/10 Millionen Menschen vom völligen Verlust ihrer Alterssicherung bedroht. Auf diese existenzielle Krise hatten die Liberalen keine befriedigende Antwort; ihr Mantra war dasselbe wie in den Staaten Südeuropas auch: es kommen harte Zeiten, wir müssen den Gürtel enger schnallen, aber irgendwann wird es wieder besser. Inspirierend war das nicht. Aber mit Fidesz stand eine Alternative bereit.
Das Versprechen Orbans war eine Absicherung der Bevölkerung. In seiner Erzählung war das Problem nicht, dass die Rentenfonds kapitalistisch waren (was die klassisch linke Kritik war), sondern dass die ausländisch waren. Orban verstand sich darauf, nationalistische, rassistische und antisemitische Ressentiments in eine respektable Hülle zu kleiden und damit durchschlagend die Wahlen zu gewinnen. Seine Grundbotschaft 2010 war dieselbe, die 2016 auch in Großbritannien und den USA widerhallen sollte: "Let's take back control."
Orban sollte in der Flüchtlingskrise zu einem der zentralen Gegenspieler Merkels werden. Seine Politik war von Anfang an eine klare Alternative zu der der liberalen EU, von der Betonung eines globalen, verflochtenen Finanzhandels (den er ablehnte und dämonisierte) zur freien Bewegung von Menschen über Grenzen (deren Dämonisierung keiner besonderen zusätzlichen Anstrengung bedurfte). Eine solche Alternative fehlte in vielen europäischen Ländern. Es ist daher wenig überraschend, dass Akteure in dieses politische Vakuum stießen.
In Deutschland war dies die AfD. Gegründet 2013 war bereits der Name eine Kampfansage gegen den liberalen Konsens, der sich in Merkels Diktum von der "Alternativlosigkeit" ihrer Politik widerspiegelte. Es ist heute kaum mehr zu glauben, aber die AfD gründete sich als eine Anti-Euro-Partei, rebellierte gegen die Europäische Union. Doch wo etwa die südeuropäischen populistischen Parteien gegen das "Diktat" der EU und ihre eigene Machtlosigkeit gegenüber der oktroyierten Austeritätspolitik anrannten, attackierte die AfD von der anderen Seite: die Befürchtung war nicht, dass die EU Deutschland ein Austeritätsprogramm aufzwingt; die Befürchtung war, dass die EU Deutschland die Kosten der Vermeidung eines solchen Programms bei anderen aufbürdet.
Die Wurzel des Erfolgs der AfD lag aber nicht nur im Aufstand gegen den Euro. Es ist etwas widersinnig, wenn man bedenkt, wer die Partei gegründet hat und was ihr Programm war - ich habe das seinerzeit analysiert - aber auch hier waren die Schockwirkungen der Finanzkrise nicht zu vernachlässigen. Diese These wird etwas klarer, wenn man den Vergleich mit dem zuvor erfolgten Aufstieg der Tea Party in den USA vergleicht.
Die Tea Party entstand aus einer radikalen Ablehnung des liberalen Konsens' 2009/10 und war ebenso wie Orbans Fidesz und später die AfD, UKIP oder Le Pen wesentlich besser in der Lage, die entsprechenden Stimmungen aufzufangen als die Linkspopulisten (erneut, die Lage ist in Südeuropa eine andere). Auch wenn sehr schnell rassistische Strömungen überhand nehmen und die Bewegung transformieren sollten - auch hier eine deutliche Parallele zur AfD - so lagen ihre Ursrpünge doch in der Unzufriedenheit über den liberalen Konsens in der Finanzkrise.
Das wird am amerikanischen Beispiel besonders deutlich, weil die Kosten der Bankenrettung über das TARP-System von Anfang an unglaublich unbeliebt waren, bei beiden Parteien. Der Obama-Regierung war dies auch klar, sie betrachtete ihr Handeln nur als alternativlos. Aber wo die Anhängerschaft der Democrats zu einem kleinen Teil die Politik von links zu radikalerem Handeln anzutreiben versuchte - Occupy Wallstreet - und zum größten Teil ihren Frieden mit der Politik ihrer Regierung machte, fehlte der Anhängerschaft der Republicans der Trost, dass die ungeliebte Politik wenigstens von einem eigenen, beliebten Präsidenten durchgeführt wurde. Ihr Protest war genauso unorganisiert und klein wie der von Occupy Wallstreet, aber im Gegensatz zu ihrem linken Pendant besaßen sie mächtige Verbündete: die Koch Brothers steckten Milliarden in den Ausbau der Tea Party und versammelten diese mit dem wohl erfolgreichsten Astroturfing der Geschichte zu einer schlagkräftigen politischen Macht, die am Ende der Kontrolle ihrer Schöpfer entgleiten und sich in Rekordgeschwindigkeit radikalisieren sollte.
Auch in Deutschland hielt der Versuch, eine Protestbewegung unter dem Banner GRÖSSERER sozialer Einschnitte, Privatisierung und Deregulierung zu versammeln, nicht lange an. Innerhalb kürzester Zeit stellten sich Nationalismus und Rassismus als wesentlich tragfähigere Basis heraus, dieseits wie jenseits des Atlantiks. Der fruchtbare Boden, der hier vorbereitet wurde, wurde dann von der Flüchtlingskrise ab 2015 erfolgreich bestellt.
All diese populistischen Bewegungen, die zwischen 2010 und 2016/17 ihren Höhepunkt erreichten, war gemein, dass sie sich als Aufständische gegen das liberale Projekt inszenierten. Es gehört zu den großen Ironien, dass gerade die linken Parteien eng mit diesem Projekt identifiziert waren. Ob New Labour oder Schröders SPD, ob Clinton oder Obama, Pasok oder PSOE, ob PO oder Parti Socialiste, sie alle hatten die Deregulierung der Finanzmärkte, den Umbau der Sozialsysteme (meist synonym mit Leistungskürzungen) und die Bildung der zugehörigen, supranationalen Instutionen (mit-)verantwortet. Darin liegt sicherlich einer der größten Gründe für die ausbleibende "linke" Revolution.
Die allgemeine Unzufriedenheit war jedoch so groß, dass sie ein politisches Vakuum schuf. Da die Linke nicht hineinstieß, nutzte es die Rechte. In manchen Ländern führte das neben der Erosion der Sozialdemokraten auch zu einem Abstieg der Konservativen. Dies war etwa in Großbritannien und den USA der Fall, wo die Tories und Republicans effektiv von den Rechtspopulisten übernommen wurden (während die Übernahmeversuche der Linken gegenüber Labour und den Democrats beide scheiterten). In Ländern wie Frankreich, Polen oder Ungarn gelang es den Rechtspopulisten, die Konservativen zu beerben und als politischen Faktor deutlich zu reduzieren. Doch in vielen Ländern bewiesen die konservativen Parteien eine erstaunliche Beharrungskraft, die ihren linken Konkurrenten völlig abging.
Wir sollten zuletzt die Rolle der Eliten nicht vergessen. Das liberale Projekt, wie es in den 1990er Jahren vorangetrieben worden war und das um 2004 seinen Höhepunkt erreicht hatte, war von einer globalen Elite aufgestezt worden. Global meint hier nicht im Sinne einer weltweiten Verschwörung, wie es der linke und rechte Rand gleichermaßen gerne insinuieren, sondern in ihrer Haltung und Ausrichtung. Quinn Slobodian bezeichnete sie als "Globalisten", Anhänger einer weltweiten Herrschaft von Regeln und Gesetzen, die Nationalstaaten bewusst entmachtete, um die liberale Agenda zu sichern. Ihre Biographien sind sich zum Verwechseln ähnlich, bis hin zur Arbeit bei Goldman Sachs, die ein geradezu absurd großer Anteil von ihnen in ihrer CV stehen hat.
Genau hiergegen regte sich der Widerstand der Rechtspopulisten. Nur Orban inszenierte sich bewusst als antiliberal, sprach ja von einer "illiberalen Demokratie", die er in Ungarn errichte, aber inhaltlich waren das Aussagen, die von Gauland über Le Pen zu Salvini, Trump und Farage wohl alle unterschrieben hätten. Die Finanzkrise legte die Grundlage, ohne dass die Ablehnung, Enttäuschung und Frustration über den liberalen Konsens ein Ventil gefunden hätten. Es fehlte gewissermaßen eine Master-Erzählung. Einzig Syriza gelang es, eine solche zu entwickeln, aber sie war zum einen Griechenland-spezifisch - das kleine Hellas, unterdrückt vom übermächtigen Deutschland, das die EU als Waffe nutzte - und zum einen nicht tragfähig, weil sie einen Konflikt heraufbeschwor, der zu einer Auflösung führen musste - einer Auflösung, die Griechenland nicht gewinnen konnte.
Es war die Flüchtlingskrise, die den Rechtspopulisten mit Verschwörungstheorien wie dem "Großen Austausch" das notwendige narrative Werkzeug an die Hand gab, um die in der Finanzkrise ausgesäten und in der Flüchtlingskrise aufgeblühten Ressentiments zu vereinen und in einen Quell elektoralen Erfolgs zu verschmelzen. Ironischerweise konnten auch die Konservativen - und im Fall Dänemarks selbst die Sozialdemokraten - an diese Erzählung andocken, indem sie gerade die supranationale, den Staat entmachtende Regelwut, die sie in den 1990er und 2000er Jahren mit Verve durchgedrückt hatten, nun plötzlich als Gegner ausmachten. Es ist schon ein wenig heuchlerisch, gerade die CDU sich darüber beklagen zu sehen, dass die EU die nationale Souveränität beeinträchtige, nachdem man die Entmachtung des Staates zugunsten des (liberalen) internationalen Regimes der Finanzmärkte drei Jahrzehnte mit Macht befördert hat. Wirksam allerdings ist es allemal.
Fazit
Ich habe die Zeit zwischen 2004 und 2015/16 als "verdrängte Dekade" bezeichnet. Ich denke ich konnte klarmachen warum: Die Finanzkrise und ihre Erschütterung sowohl der internationalen Ordnung als auch des weltweiten liberalen Konsens' ist gegenüber der frischeren und narrativ eingängigeren, einschneideren Flüchtlingskrise in den Hintergrund geraten. Beide aber bilden ein Amalgam. Ohne die Ereignisse 2005 bis 2014 ist es unmöglich zu verstehen, was seit 2015 geschehen ist und wie es die Welt, in der wir heute leben, prägen - und warum die Demokratie so stark gefährdet ist wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
Die Liberalen haben ihre einstige Vormachtstellung verloren. Der Nachfolgekampf tobt erbittert. Die antiliberale Rechte ist die erste Gruppierung, die eine klare neue Ordnungsvorstellung entworfen und als Alternative etabliert hat. Ob es den grünen Parteien gelingen wird, ihre Erfolge der letzten Jahre in eine dauerhafte und kohärnte Vision zu verwandeln, bleibt abzuwarten; bislang sind diese Erfolge zu flüchtig und regional begrenzt. Die Linke hat ihre Bewältigungsprozesse des harten Absturzes seit 2005 noch immer nicht abgeschlossen, aber der Linkspopulismus scheint von der Wählerschaft der meisten Nationen abgelehnt worden zu sein und taugt nicht als Gegenentwurf. Größte Nutznießer dieser Stasis und unsicheren Verhältnisse sind die Konservativen, die in den meisten Ländern einen zwar wenig inspirierenden, aber sicher scheinenden Anker in einer rapide unsicher und unübersichtlich werdenden Welt bieten.
Es ist meine Überzeugung, dass wir in einem Sortierungsprozess stecken, an dessen Ende neue, miteinander wetteifernde Visionen für die Gestaltung der Welt stehen werden. Welche das sein werden, ist aktuell nicht absehbar. Die Hoffnung wäre, dass diese Visionen allesamt demokratisch, rechtsstaatlich und im weitesten Sinne liberal sind. Aktuell aber muss man befürchten, dass es auf einen grundsätzlicheren Kampf zwischen Freiheit und Autoritarismus hinausläuft. Hoffen wir, dass es nicht so kommen wird.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.