Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
Das europäische Turnier macht in jedem Bild Werbung für die Wirtschaft geschlossener Gesellschaften - mehr symbolische Selbstverleugnung kann man sich kaum ausdenken. Als wäre es gleichgültig, wie sich Europa sportlich und in solchen großen Fernsehmomenten präsentiert, als wäre das, was Europa historisch ausmacht - die offene Gesellschaft, die Menschen- und Bürgerrechte, das Bemühen um eine Partnerschaft zwischen Kapital und Arbeit - bloß eine Option, und wenn jemand Werbung für das Gegenteil machen möchte, dann ist das nur eine Frage des Preises. Wenn sich Kinder und Jugendliche in diesem Sommer vor einem Bildschirm versammeln, um das europäische Turnier zu sehen, dann erfahren sie wenig von den Besonderheiten der Europäischen Union, verfolgen vielmehr eine coronavergessene Verkaufsveranstaltung, in der die Fans die Nationalhymnen der anderen ausbuhen. Wäre Europa eine Marke und die Uefa ein Franchisenehmer, müsste man die Lizenz zurückfordern. [...] Auch die andere große Show des Frühjahrs, der Eurovision Song Contest, geriet zum unfreiwilligen Zeugnis der großen europäischen Selbstverachtung. Es war ein Fernsehabend, den man sofort vergessen wollte: Die Songs wirkten wie von Algorithmen komponiert, Versatzstücke von kommerziell erfolgreichem Zeug, dass erneut zusammengerührt wurde, auf dass wieder Geld damit verdient wird. Die Idee, dass Musik und Kunst Sphären von eigenem, symbolischem Wert sind und nicht nur Produkte - das ist eine spezifisch europäische Errungenschaft. [...] Das sind keine Randbetrachtungen. Natürlich gibt es noch krassere Versäumnisse, die europäische Flüchtlingsabschreckung, die Grausamkeit an den Außengrenzen und der anhaltende Skandal der ertrinkenden Menschen im Mittelmeer. Aber wenn Europa zu sich, seinen Werten finden möchte, eines Tages, auch mit denen, die heute noch als junge Menschen am Bildschirm lernen, was das sein könnte, ein Europa des Humanismus und der Kultur, dann beginnt der Weg dorthin mit den Bildern, die Europa von sich selbst entwirft. Und umgekehrt befördert eine weiterhin nachlässige Inszenierung europäischer Events den Weg in die geopolitische Irrelevanz. Zumindest auf dem Feld der Kultur aber könnte, sollte das anders sein. (Nils Minkmar, SZ)
Kritik am ESC und seiner mangelnden künsterischen Qualität ist so alt wie der Wettbewerb selbst, da ist wenig Besonderes. Auch dass Fußball ein Business ist, in dem es um Milliarden geht und das von Werten so weit entfernt ist wie Mark Zuckerberg, ist kaum neu. Die UEFA hat die WM an Katar vergeben. Und ihr Verhalten in der Pandemie ist ohnehin unterirdisch. Mehr muss man zu dem Laden ohnehin nicht wissen. Ich denke aber, dass Minkmar Recht hat, wenn er von "europäischer Selbstverachtung" spricht. Tatsächlich ist es nicht so, als wären die Einwohner*innen der EU stolz auf den Staatenverband. Eine europäische Identität existiert immer noch praktisch nicht. Da ist es wenig hilfreich, wenn alles, was man von der EU mitbekommt, Negativnachrichten sind. Die sollten wirklich etwas mehr Wert auf Imagepflege legen. Denn eine EU, die keinerlei Legitimität bei ihren Bürger*innen besitzt, eine EU, die nicht einmal rhetorisch für ihre Werte einzustehen bereit ist (konkrete Handlungen erwartet man ja schon gar nicht mehr), die hat mittelfristig ein Problem.
2) Cass Sunstein: «Mit Entscheidungs-Hygiene lassen sich bessere Resultate erzielen»
NZZ am Sonntag: Ihr Buch handelt von Fehlentscheiden, die Sie Noise oder Rauschen nennen. Um was geht es konkret?
Cass Sunstein: Stellen Sie sich vor, Sie steigen frühmorgens immer auf dieselbe Waage. Wenn die Waage jedes Mal um ein Kilo abweicht, dann ist das eine Verzerrung, ein systematischer Fehler. Wenn Sie jeden Tag auf eine andere Waage desselben Typs steigen und dabei jeweils unterschiedliche Werte erhalten, ist das Rauschen. Überall da, wo unterschiedliche Menschen Entscheidungen zum selben Sachverhalt treffen, kommt es zu solchem Rauschen: im Sport, vor Gericht, in Spitälern. Noise ist die Variabilität unterschiedlicher Experten oder Systeme, wenn es um dieselbe Entscheidung geht. Das menschliche Gehirn ist ein Messinstrument und genau wie solche nicht immer vor Fehlschlüssen gefeit.
Wieso Fehlschlüsse? Es ist doch normal, dass Einschätzungen von verschiedenen Personen sich nicht zu 100 Prozent decken.
Schon. Wir haben bei unseren Untersuchungen herausgefunden, dass der Mensch durchschnittlich mit etwa 10 Prozent Abweichung rechnet, auch wenn sich Expertengremien beraten. In der Realität gibt es allerdings mehr als 50 Prozent Abweichung. [...]
Sie zeigen in Ihrem Buch auch auf, dass Noise nicht gleich Noise ist.
Sagen wir, eine Firma hat zwei Recruiter, die jeweils bis zu zehn Leute einstellen dürfen. Beide sind gleich qualifiziert und vertrauenswürdige Experten auf dem Gebiet. Was die beiden beeinflusst, ist ihre Laune und die Situation. Wir nennen das Occasion Noise. Dieselbe Person kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten denselben Bewerber unterschiedlich beurteilen. Dazu kommt Level Noise, also Unterschiede in der Grundeinstellung der beiden. [...]
Auch die Reihenfolge der Bewertung spielt eine Rolle, oder?
Genau. Wir wissen schon lange, dass Schwarmwissen untergraben wird, wenn einzelne Gutachter von der Bewertung ihres Vorgängers erfahren. Wir beeinflussen uns gegenseitig. Fragen Sie eine Gruppe von Personen, wie gross die Distanz zwischen Berlin und München ist. Wenn die Befragten ihre Antworten gegenseitig nicht wissen, liegt der Durchschnitt gespenstisch oft richtig. Aber wenn sie voneinander wissen, orientieren sie sich an den Aussagen ihrer Vorgänger. Auch das lässt sich auf alle Berufsbereiche übertragen, die wir untersucht haben. (Martin Angler, NZZ)
Wie angesichts dieser eigentlich seit Langem bekannten Ergebnisse psychologischer Untersuchungen sich der Mythos der Meritokratie so lange halten kann, ist mir unbegreiflich. Die Vorstellung, die gerade in der Privatwirtschaft als Legende eifrig gepflegt wird, dass man irgendwie eine Bestenauslese betreibe, ist weitgehend haltlos. Dasselbe gilt für andere Eliteschmieden, von Harvard über Goldman Sachs.
Aber für meinen eigenen Arbeitsbereich sind die Ergebnisse noch viel profunder. Es ist die Lebenslüge des Schulsystems, dass die Benotungen eine faire Leistungsstandmessung und Beurteilung darstellen würden, wo sie ihn Wahrheit unglaublich arbiträr sind. Deswegen sollten wir, von den Lerneffekten einmal ganz abgesehen, auch weiter weg von den Noten. Sie sind schädlich, sowohl für den Lernerfolg der Schüler*innen und ihre Lernmotivation generell als auch für sich naiv auf sie verlassenden Personaler später.
3) Politik darf keinen Spaß machen! – Über die angemaßte Unschuld von Videospielen
Erstens: Die Hintergrundgeschichte des Spiels ist, dass eine Gruppe von Öko-Terrorist:innen massenweise Dollar-Noten mit Pockenviren infiziert haben, woraufhin die Infrastruktur in Manhattan zusammenbricht. Folge ist ein Bürgerkrieg in den Straßen der Stadt, nachdem Polizei und Militär sich überfordert zurückgezogen haben. Die Stadt wird von außen abgeriegelt und es gilt fortan das Gesetz der Straße. Einziger Hoffnungsschimmer: Eine Spezialeinheit von Schläferagenten der Strategic Homeland Division, die nun vor Ort aktiviert werden und mit Waffengewalt für Gerechtigkeit sorgen. Und das soll nun also ein Unterhaltungsprodukt ohne politische Aussage sein? [...] Warum wurde überhaupt von Ubisoft über Jahre hinweg behauptet, dass ein Spiel über US-amerikanische Militäreinsätze gegen Drogenbarone in Südamerika ebenso wie ein Spiel über eine rechtsextreme Sekte im Mittleren Westen unpolitisch sei? Dafür gibt es zwei plausible Erklärungen. Erstens steckt dahinter die Befürchtung von Marketingabteilungen, Anteile am Markt zu verlieren. Das hat der Spiele-Reviewer Jesse Hennessy gut zusammengefasst: „If you come across as preaching your political agenda, you’re gonna alienate everybody who doesn’t agree with you.”. Wer sein Spiel so wie der schwedische Entwickler Machinegames dezidiert als Anti-Nazi-Spiel positioniert – so geschehen in einem Tweet anlässlich von Wolfenstein: The New Colossus: „Make America Nazi-Free Again. #NoMoreNazis #Wolf2“ – der muss in Kauf nehmen, dass Nazis sich dann über das Spiel beschweren. (Eugen Pfister, 54books)
Ich hab es in den letzten Vermischten auch immer wieder drin gehabt, aber das Thema taucht gerade verstärkt auf. Gerade bei Videospielen ist es auffällig, wie sehr die Illusion von "unpolitisch Sein" zum Selbstverständnis sowohl der Industrie als auch der Community gehört, obwohl es offensichtlich kompletter Humbug ist. Videospiele hatten schon praktisch immer Geschichten mit klarem politischen Einschlag erzählt. Das ist ja auch kein Problem. Aber wenn ich mich alleine an meine Gaming-Hochzeiten zurückerinnere, Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre, da waren Spiele wie "Counterstrike", in denen Terrorbekämpfung eine entscheidende Rolle spielte; da war "Command&Conquer Generals", wo eine arabische Terrorgruppe Pickups mit MGs und mit AK-47 bewaffnete "Angry Mobs" gegen US-Truppen hetzte; da wurden Diktatoren mit der Waffe in der Hand in so vielen Spielen bekämpft, dass man den Überblick nur verlieren kann.
Gleichzeitig leidet die Branche immer noch unter einer massiven Blickwinkelverzerrung. Diese ist 2014 in den #Gamergate-Skandal explodiert, er immer noch bei weitem nicht aufgearbeitet ist. Die häufig xenophoben und jingoistischen Grundtöne, die viele dieser Spiele unterfüttern, werden ebenfalls nur sehr ungern thematisiert. Wie kann es unpolitisch sein, dass Spielende etwa in "Call of Duty Black Ops" Gefangene foltern mussten? Wie kann es unpolitisch sein, wenn die Antwort der meisten Spiele auf große Probleme darin besteht, diese mit der Waffe in der Hand anzugehen? Letzten Endes ist die Handlung der meisten Games ein Tom-Clancy-Roman auf Drogen, und niemand würde den als unpolitisch betrachten.
Ich denke, der Grund dafür liegt mit in der mangelnden Reife des Mediums. Noch immer gelten Videospiele als junges Medium, aber das ist Unsinn. Es gab ernsthafte, breite Debatten über die Filmkunst, als der Film kaum 30 Jahre alt und der erste Blockbust kein Jahrzehnt hinter sich hatte. Blockbuster bei Videospielen gibt es seit drei Jahrzehnten, das Medium selbst könnte mittlerweile legal in Rente gehen. Es ist ein konsequentes sich-aus-der-Verantwortung-Stehlen einerseits und ein nicht-ernst-Nehmen andererseits, das auch diejenigen betrifft, die gar nicht selbst daddeln, sondern das Ganze nur von außen betrachten, ob Politik, Eltern, Lehrkräfte oder Schulen.
4) Laschet und Schröder, eine bemerkenswerte Männerfreundschaft
Schon im Juli 2018 wollte der SPD-Veteran „nur einem“ in der CDU die Kanzlerkandidatur zutrauen – eben Laschet. Und auch, als dieser im April dieses Jahres sich bei der Kanzlerkandidatur hauchdünn gegen Markus Söder durchsetzte, lobte Schröder diese „richtige Entscheidung“. Laschet und Schröder, die Verbindung zweier Männer aus unterschiedlichen Generationen und Parteien, überrascht. Was könnte der Altkanzler davon haben, den CDU-Politiker derart entschieden zu unterstützen – ist es nur persönliche Zuneigung oder steckt womöglich mehr dahinter? Zwei Verbindungspunkte des Altkanzlers nach Nordrhein-Westfalen fallen dabei insbesondere auf: Schröders Ehefrau Soyeon Schröder-Kim arbeitet fürs Land NRW – und genießt in der Ausübung ihres Amts große Freiheiten. Und: Schröder selbst ist als Verwaltungsratspräsident für eine Tochterfirma des russischen Energiekonzerns Gazprom tätig. Laschet wiederum befürwortete schon lange dessen umstrittenes Pipeline-Projekt Nord Stream 2, das der Altkanzler hierzulande vorantreibt. Mit einem Kanzler Laschet bekäme Schröder womöglich einen direkten Draht ins Kanzleramt. Dies wirft die Frage auf, ob es ein Geben und Nehmen zwischen den beiden Männern gibt. (Hanns-Martin Tillack, Welt)
Es ist bemerkenswert, was für einen Abstieg Gerhard Schröder seit 2005 hingelegt hat. Von einem der bedeutendsten Kanzler der Republikgeschichte zu einem korrupten, schamlosen Lobbyisten, der sich bei einem Kleingeist wie Laschet Gefallen abkaufen lässt. Der keinerlei Loyalität zu seiner Partei hat, oder wenigstens seinen alten Weggefährten. Immerhin können wir uns praktisch sicher sein, dass uns das bei Merkel alles nicht blühen wird. Was auch immer sonst man über sie sagen mag, korrupt ist sie nicht.
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