Mittwoch, 28. Juli 2021

Merkel denkt einsam auf der europäischen Toilette über Videospiele und Entscheidungshygiene nach - Vermischtes 28.07.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Und das will Europa sein?

Das europäische Turnier macht in jedem Bild Werbung für die Wirtschaft geschlossener Gesellschaften - mehr symbolische Selbstverleugnung kann man sich kaum ausdenken. Als wäre es gleichgültig, wie sich Europa sportlich und in solchen großen Fernsehmomenten präsentiert, als wäre das, was Europa historisch ausmacht - die offene Gesellschaft, die Menschen- und Bürgerrechte, das Bemühen um eine Partnerschaft zwischen Kapital und Arbeit - bloß eine Option, und wenn jemand Werbung für das Gegenteil machen möchte, dann ist das nur eine Frage des Preises. Wenn sich Kinder und Jugendliche in diesem Sommer vor einem Bildschirm versammeln, um das europäische Turnier zu sehen, dann erfahren sie wenig von den Besonderheiten der Europäischen Union, verfolgen vielmehr eine coronavergessene Verkaufsveranstaltung, in der die Fans die Nationalhymnen der anderen ausbuhen. Wäre Europa eine Marke und die Uefa ein Franchisenehmer, müsste man die Lizenz zurückfordern. [...] Auch die andere große Show des Frühjahrs, der Eurovision Song Contest, geriet zum unfreiwilligen Zeugnis der großen europäischen Selbstverachtung. Es war ein Fernsehabend, den man sofort vergessen wollte: Die Songs wirkten wie von Algorithmen komponiert, Versatzstücke von kommerziell erfolgreichem Zeug, dass erneut zusammengerührt wurde, auf dass wieder Geld damit verdient wird. Die Idee, dass Musik und Kunst Sphären von eigenem, symbolischem Wert sind und nicht nur Produkte - das ist eine spezifisch europäische Errungenschaft. [...] Das sind keine Randbetrachtungen. Natürlich gibt es noch krassere Versäumnisse, die europäische Flüchtlingsabschreckung, die Grausamkeit an den Außengrenzen und der anhaltende Skandal der ertrinkenden Menschen im Mittelmeer. Aber wenn Europa zu sich, seinen Werten finden möchte, eines Tages, auch mit denen, die heute noch als junge Menschen am Bildschirm lernen, was das sein könnte, ein Europa des Humanismus und der Kultur, dann beginnt der Weg dorthin mit den Bildern, die Europa von sich selbst entwirft. Und umgekehrt befördert eine weiterhin nachlässige Inszenierung europäischer Events den Weg in die geopolitische Irrelevanz. Zumindest auf dem Feld der Kultur aber könnte, sollte das anders sein. (Nils Minkmar, SZ)

Kritik am ESC und seiner mangelnden künsterischen Qualität ist so alt wie der Wettbewerb selbst, da ist wenig Besonderes. Auch dass Fußball ein Business ist, in dem es um Milliarden geht und das von Werten so weit entfernt ist wie Mark Zuckerberg, ist kaum neu. Die UEFA hat die WM an Katar vergeben. Und ihr Verhalten in der Pandemie ist ohnehin unterirdisch. Mehr muss man zu dem Laden ohnehin nicht wissen. Ich denke aber, dass Minkmar Recht hat, wenn er von "europäischer Selbstverachtung" spricht. Tatsächlich ist es nicht so, als wären die Einwohner*innen der EU stolz auf den Staatenverband. Eine europäische Identität existiert immer noch praktisch nicht. Da ist es wenig hilfreich, wenn alles, was man von der EU mitbekommt, Negativnachrichten sind. Die sollten wirklich etwas mehr Wert auf Imagepflege legen. Denn eine EU, die keinerlei Legitimität bei ihren Bürger*innen besitzt, eine EU, die nicht einmal rhetorisch für ihre Werte einzustehen bereit ist (konkrete Handlungen erwartet man ja schon gar nicht mehr), die hat mittelfristig ein Problem.

2) Cass Sunstein: «Mit Entscheidungs-Hygiene lassen sich bessere Resultate erzielen»

NZZ am Sonntag: Ihr Buch handelt von Fehlentscheiden, die Sie Noise oder Rauschen nennen. Um was geht es konkret?

Cass Sunstein: Stellen Sie sich vor, Sie steigen frühmorgens immer auf dieselbe Waage. Wenn die Waage jedes Mal um ein Kilo abweicht, dann ist das eine Verzerrung, ein systematischer Fehler. Wenn Sie jeden Tag auf eine andere Waage desselben Typs steigen und dabei jeweils unterschiedliche Werte erhalten, ist das Rauschen. Überall da, wo unterschiedliche Menschen Entscheidungen zum selben Sachverhalt treffen, kommt es zu solchem Rauschen: im Sport, vor Gericht, in Spitälern. Noise ist die Variabilität unterschiedlicher Experten oder Systeme, wenn es um dieselbe Entscheidung geht. Das menschliche Gehirn ist ein Messinstrument und genau wie solche nicht immer vor Fehlschlüssen gefeit.

Wieso Fehlschlüsse? Es ist doch normal, dass Einschätzungen von verschiedenen Personen sich nicht zu 100 Prozent decken.

Schon. Wir haben bei unseren Untersuchungen herausgefunden, dass der Mensch durchschnittlich mit etwa 10 Prozent Abweichung rechnet, auch wenn sich Expertengremien beraten. In der Realität gibt es allerdings mehr als 50 Prozent Abweichung. [...]

Sie zeigen in Ihrem Buch auch auf, dass Noise nicht gleich Noise ist.

Sagen wir, eine Firma hat zwei Recruiter, die jeweils bis zu zehn Leute einstellen dürfen. Beide sind gleich qualifiziert und vertrauenswürdige Experten auf dem Gebiet. Was die beiden beeinflusst, ist ihre Laune und die Situation. Wir nennen das Occasion Noise. Dieselbe Person kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten denselben Bewerber unterschiedlich beurteilen. Dazu kommt Level Noise, also Unterschiede in der Grundeinstellung der beiden. [...]

Auch die Reihenfolge der Bewertung spielt eine Rolle, oder?

Genau. Wir wissen schon lange, dass Schwarmwissen untergraben wird, wenn einzelne Gutachter von der Bewertung ihres Vorgängers erfahren. Wir beeinflussen uns gegenseitig. Fragen Sie eine Gruppe von Personen, wie gross die Distanz zwischen Berlin und München ist. Wenn die Befragten ihre Antworten gegenseitig nicht wissen, liegt der Durchschnitt gespenstisch oft richtig. Aber wenn sie voneinander wissen, orientieren sie sich an den Aussagen ihrer Vorgänger. Auch das lässt sich auf alle Berufsbereiche übertragen, die wir untersucht haben. (Martin Angler, NZZ)

Wie angesichts dieser eigentlich seit Langem bekannten Ergebnisse psychologischer Untersuchungen sich der Mythos der Meritokratie so lange halten kann, ist mir unbegreiflich. Die Vorstellung, die gerade in der Privatwirtschaft als Legende eifrig gepflegt wird, dass man irgendwie eine Bestenauslese betreibe, ist weitgehend haltlos. Dasselbe gilt für andere Eliteschmieden, von Harvard über Goldman Sachs.

Aber für meinen eigenen Arbeitsbereich sind die Ergebnisse noch viel profunder. Es ist die Lebenslüge des Schulsystems, dass die Benotungen eine faire Leistungsstandmessung und Beurteilung darstellen würden, wo sie ihn Wahrheit unglaublich arbiträr sind. Deswegen sollten wir, von den Lerneffekten einmal ganz abgesehen, auch weiter weg von den Noten. Sie sind schädlich, sowohl für den Lernerfolg der Schüler*innen und ihre Lernmotivation generell als auch für sich naiv auf sie verlassenden Personaler später.

3) Politik darf keinen Spaß machen! – Über die angemaßte Unschuld von Videospielen

Erstens: Die Hintergrundgeschichte des Spiels ist, dass eine Gruppe von Öko-Terrorist:innen massenweise Dollar-Noten mit Pockenviren infiziert haben, woraufhin die Infrastruktur in Manhattan zusammenbricht. Folge ist ein Bürgerkrieg in den Straßen der Stadt, nachdem Polizei und Militär sich überfordert zurückgezogen haben. Die Stadt wird von außen abgeriegelt und es gilt fortan das Gesetz der Straße. Einziger Hoffnungsschimmer: Eine Spezialeinheit von Schläferagenten der Strategic Homeland Division, die nun vor Ort aktiviert werden und mit Waffengewalt für Gerechtigkeit sorgen. Und das soll nun also ein Unterhaltungsprodukt ohne politische Aussage sein? [...] Warum wurde überhaupt von Ubisoft über Jahre hinweg behauptet, dass ein Spiel über US-amerikanische Militäreinsätze gegen Drogenbarone in Südamerika ebenso wie ein Spiel über eine rechtsextreme Sekte im Mittleren Westen unpolitisch sei? Dafür gibt es zwei plausible Erklärungen. Erstens steckt dahinter die Befürchtung von Marketingabteilungen, Anteile am Markt zu verlieren. Das hat der Spiele-Reviewer Jesse Hennessy gut zusammengefasst: „If you come across as preaching your political agenda, you’re gonna alienate everybody who doesn’t agree with you.”. Wer sein Spiel so wie der schwedische Entwickler Machinegames dezidiert als Anti-Nazi-Spiel positioniert – so geschehen in einem Tweet anlässlich von Wolfenstein: The New Colossus: „Make America Nazi-Free Again. #NoMoreNazis #Wolf2“ – der muss in Kauf nehmen, dass Nazis sich dann über das Spiel beschweren. (Eugen Pfister, 54books)

Ich hab es in den letzten Vermischten auch immer wieder drin gehabt, aber das Thema taucht gerade verstärkt auf. Gerade bei Videospielen ist es auffällig, wie sehr die Illusion von "unpolitisch Sein" zum Selbstverständnis sowohl der Industrie als auch der Community gehört, obwohl es offensichtlich kompletter Humbug ist. Videospiele hatten schon praktisch immer Geschichten mit klarem politischen Einschlag erzählt. Das ist ja auch kein Problem. Aber wenn ich mich alleine an meine Gaming-Hochzeiten zurückerinnere, Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre, da waren Spiele wie "Counterstrike", in denen Terrorbekämpfung eine entscheidende Rolle spielte; da war "Command&Conquer Generals", wo eine arabische Terrorgruppe Pickups mit MGs und mit AK-47 bewaffnete "Angry Mobs" gegen US-Truppen hetzte; da wurden Diktatoren mit der Waffe in der Hand in so vielen Spielen bekämpft, dass man den Überblick nur verlieren kann.

Gleichzeitig leidet die Branche immer noch unter einer massiven Blickwinkelverzerrung. Diese ist 2014 in den #Gamergate-Skandal explodiert, er immer noch bei weitem nicht aufgearbeitet ist. Die häufig xenophoben und jingoistischen Grundtöne, die viele dieser Spiele unterfüttern, werden ebenfalls nur sehr ungern thematisiert. Wie kann es unpolitisch sein, dass Spielende etwa in "Call of Duty Black Ops" Gefangene foltern mussten? Wie kann es unpolitisch sein, wenn die Antwort der meisten Spiele auf große Probleme darin besteht, diese mit der Waffe in der Hand anzugehen? Letzten Endes ist die Handlung der meisten Games ein Tom-Clancy-Roman auf Drogen, und niemand würde den als unpolitisch betrachten.

Ich denke, der Grund dafür liegt mit in der mangelnden Reife des Mediums. Noch immer gelten Videospiele als junges Medium, aber das ist Unsinn. Es gab ernsthafte, breite Debatten über die Filmkunst, als der Film kaum 30 Jahre alt und der erste Blockbust kein Jahrzehnt hinter sich hatte. Blockbuster bei Videospielen gibt es seit drei Jahrzehnten, das Medium selbst könnte mittlerweile legal in Rente gehen. Es ist ein konsequentes sich-aus-der-Verantwortung-Stehlen einerseits und ein nicht-ernst-Nehmen andererseits, das auch diejenigen betrifft, die gar nicht selbst daddeln, sondern das Ganze nur von außen betrachten, ob Politik, Eltern, Lehrkräfte oder Schulen.

4) Laschet und Schröder, eine bemerkenswerte Männerfreundschaft

Schon im Juli 2018 wollte der SPD-Veteran „nur einem“ in der CDU die Kanzlerkandidatur zutrauen – eben Laschet. Und auch, als dieser im April dieses Jahres sich bei der Kanzlerkandidatur hauchdünn gegen Markus Söder durchsetzte, lobte Schröder diese „richtige Entscheidung“. Laschet und Schröder, die Verbindung zweier Männer aus unterschiedlichen Generationen und Parteien, überrascht. Was könnte der Altkanzler davon haben, den CDU-Politiker derart entschieden zu unterstützen – ist es nur persönliche Zuneigung oder steckt womöglich mehr dahinter? Zwei Verbindungspunkte des Altkanzlers nach Nordrhein-Westfalen fallen dabei insbesondere auf: Schröders Ehefrau Soyeon Schröder-Kim arbeitet fürs Land NRW – und genießt in der Ausübung ihres Amts große Freiheiten. Und: Schröder selbst ist als Verwaltungsratspräsident für eine Tochterfirma des russischen Energiekonzerns Gazprom tätig. Laschet wiederum befürwortete schon lange dessen umstrittenes Pipeline-Projekt Nord Stream 2, das der Altkanzler hierzulande vorantreibt. Mit einem Kanzler Laschet bekäme Schröder womöglich einen direkten Draht ins Kanzleramt. Dies wirft die Frage auf, ob es ein Geben und Nehmen zwischen den beiden Männern gibt. (Hanns-Martin Tillack, Welt)

Es ist bemerkenswert, was für einen Abstieg Gerhard Schröder seit 2005 hingelegt hat. Von einem der bedeutendsten Kanzler der Republikgeschichte zu einem korrupten, schamlosen Lobbyisten, der sich bei einem Kleingeist wie Laschet Gefallen abkaufen lässt. Der keinerlei Loyalität zu seiner Partei hat, oder wenigstens seinen alten Weggefährten. Immerhin können wir uns praktisch sicher sein, dass uns das bei Merkel alles nicht blühen wird. Was auch immer sonst man über sie sagen mag, korrupt ist sie nicht.

5) Warum Fantasy so wichtig für junge Menschen ist

2019 wurde außerdem eine Studie zur Korrelation zwischen Genrevorlieben und Beziehungsansichten veröffentlicht. US-amerikanische Seiten wie Women’s Health oder Marie Claire berichteten über die Studie mit der Schlagzeile: „Harry Potter-Fans sind die besseren Partner“. So einfach ist es natürlich nicht, aber die Studienergebnisse sind dennoch interessant. Ein Team von Psycholog*innen hat 404 Fans verschiedener Genre nach ihren Ansichten zu Beziehungen befragt. Die Ergebnisse zeigten, dass unter anderem Fans von Fantasy weniger wahrscheinlich als andere toxische Ansichten unterstützen. Die befragten Harry-Potter-Fans stimmten unter anderem Aussagen wie „Meinungsverschiedenheiten können zerstörerisch sein“ oder „eine Beziehung braucht keine offene Kommunikation, man muss auch so wissen, was der andere meint“ seltener zu als Befragte, die Harry Potter nicht gelesen hatten. Manche Harry-Potter-Fans behaupten auch, durch die Reihe schon recht früh ein politisches Bewusstsein erlangt zu haben. Zum Beispiel, weil die Bücher auch immer wieder diskriminierenden Umgang beschreiben, wie zum Beispiel als Draco Malfoy Hermine Granger als „Schlammblut“ aka minderwertig bezeichnet oder aber weil Voldemort und seine Todesser*innen im Grunde Faschist*innen sind. So sehr wie Fantasy Eskapismus bedeutet, so sehr kann das Genre eben auch politisch sein. Das zeigt auch eine 2021 erschienene Studie: Darin wurden „Die Tribute von Panem“ auf marxistische Standpunkte und das dargestellte Klassenbewusstsein analysiert. Ob Harry-Potter-Fans wirklich per se die besseren Menschen sind, wage ich zwar zu bezweifeln, aber sie sind zumindest gar nicht mal so weird, wie Nicht-Fans denken. Und wie gesagt: Wenn uns Fantasy einen Raum für Kreativität, Spaß und Eskapismus bietet, dann halte ich gerne an meiner Vorliebe für zauberhafte Welten und magische Wesen fest. (Nhi Le, Jetzt)

Ich möchte die Frage an dieser Stelle beantworten: nein, Fantasy macht einen nicht zum besseren Menschen. Es ist eher eine Frage von Henne und Ei: ein prozentual größerer Anteil von Personen, die solchen Themen gegenüber aufgeschlossen sind, fühlt sich zu Fantasy als Genre hingezogen. Dazu kommt, dass Fantasy ein Nerd-Genre ist, und Nerds sind überdurchschnittlich gebildet. Gleichzeitig sind sie auch überdurchschnittlich sozial unterentwickelt, das ist immer die andere Seite der Medaille, und wir haben #Gamergate als die dunkle Bauchseite bereits in Fundstück 3 erwähnt.

6) »Wir brauchen einen Superlockdown« (Interview mit Helge Peuckert)

Herr Peukert, nach dem Karlsruher Urteil zum Klimaschutzgesetz hat die Bundesregierung in Rekordzeit ein neues Klimaschutzgesetz vorgelegt. Was halten Sie davon?

Nicht genug, aber die Schraube wird angezogen. Schon witzig: Vor dem Beschluss des Verfassungsgerichts hielten Regierung und Parlamentsmehrheit die Klagen für unbegründet, hinterher waren alle begeistert. Die neuen Zielformulierungen sind eine Sache, die Umsetzung eine andere. Jetzt beginnt die Balgerei, wen man wie belasten kann, und die Primärstrategie der Preiserhöhungen ist natürlich unsozial. Ich frage mich generell, ob man die doch deftigen Ziele im gegebenen Systemrahmen überhaupt hinbekommen kann.

Sie zeichnen in Ihrem neuen Buch ein düsteres Bild der ökologischen Ist-Situation. Wie sieht diese aus?

Wenn wir die Ergebnisse des IPCC-Berichtes zur 1,5-Grad-Erderwärmung ernst nehmen, dann ist nach meiner Rechnung das weltweite Restbudget an Treibhausgasemissionen schon jetzt aufgebraucht. In Deutschland sind wir bei zwei Grad plus, weltweit sind über Land gerechnet die 1,5 Grad bereits überschritten. In vielen Bereichen ist es bereits wirklich ernst: Dürren, Wasserknappheit, das Sterben der Insekten, das Schmelzen von Gletschern sowie das Auftauen des Permafrostes etc. Forschungsinstitute sagen uns, dass Kipppunkte nahe sind. Wir sind mitten drin im Ökozid. [...]

Auch mit dem Emissionshandelssystem gehen Sie ins Gericht. Warum?

Nur 57 Prozent der Zertifikate werden versteigert, der Rest wird kostenlos an die exportorientierte Industrie verteilt, die in den letzten Jahren dementsprechend nur geringe Treibhausgasminderungen vorzuweisen hat. Auch ist die festgelegte Kappungsmenge für 2020/2021 enttäuschend, da die Emissionen 2019, vor Corona, bereits unter dieser Menge lagen. Die negativen Umweltauswirkungen pro Tonne CO2 liegen laut Umweltbundesamt bei knapp unter 200 Euro. Da sind auch die gegenwärtigen 50 Euro/Tonne viel zu niedrig. Schlüge man 200 Euro auf die Produkte drauf, ginge die Wettbewerbsfähigkeit flöten oder man müsste sich vom »freien« Welthandel und den WTO-Regelungen verabschieden und hohe Importzölle einführen. Widersprüchlich ist natürlich auch der gleichzeitige Ausbau von Pipelines wie Nord Stream 2 und riesiger Reservoirs in Norddeutschland für fossile (Fracking-)Importe aus den USA. (Guido Speckmann, Neues Deutschland)

Der Emissionshandel erfüllt mittlerweile dieselbe Funktion wie die Laffer-Kurve. Er erlaubt es Konservativen und Liberalen, etwas zu sagen, das wissenschaftlich und wohl durchdacht klingt, das aber in Wahrheit keinerlei Bezug zur Realität hat. Ich sage es immer wieder: Ja, in der Theorie ist er Emissionshandel eine super Idee. In der Praxis funktioniert er aber nicht, weil das weltweite System zu seiner Durchsetzung fehlt. Effektiv bräuchte es eine ähnlich mächtige unabhängige Institution wie die von der WTO durchgesetzten Schiedsgerichte. Während diese aber sehr gerne Klima- und Umweltschutzmaßnahmen blockieren, fehlt ein ähnlich mächtiges Instrument zur Durchsetzung des Klimaschutzes. Aktuell funktioniert es nicht.

7) The Lingering Relevance of the Katyn Massacre

Historian and filmmaker Jane Rogoyska begins her book on the April-May 1940 Katyn massacre—in which the Soviet Union massacred some 22,000 Polish intellectuals and military officers who had been POWs in its custody—with a cruel yet pertinent question: Why should we care about Katyn? As Rogoyska writes, the death toll from Katyn is “a drop in the ocean compared to the millions of Soviet citizens murdered by Stalin.” Even if we are only discussing Poles, the Soviet dictator’s deportations of ethnic Poles caused the deaths of many tens of thousands more than died at Katyn. And, naturally, Hitler’s record as a murderer of Poles made Stalin look like a squeamish amateur in these matters; the Führer’s bureaucrats, slavers, and assassins in the Warthegau and the General Government killed 5 to 6 million Polish civilians (about 2 to 3 million of them non-Jewish) during the war. So why, in view of the numerically far deadlier atrocities endured by the Poles and other peoples during the war, should we especially care about Katyn? And why, 80 years later, does Katyn remain a “continuing bone of contention” between Poland and Russia? The answer, Rogoyska shows us, lies in the great deceit behind Katyn—a cover-up of extraordinary malice and discipline, in which the Soviets initially claimed they had simply lost track of the 22,000 Poles in their custody, and later, when about 4,000 of the dead officers showed up in excavated mass graves, blamed the Nazis for the massacre. (Matthew Ghobrial Cockerill, The American Conservative)

Die Sowjetunion der Stalinzeit ist eine einzige riesige Mordmaschine. Sicher, Katyn verblasst gegen die Gesamtheit des Holocaust, aber dasselbe gilt für Babi Yar. Die Zahl der Ermordeten unter der kommunistischen Diktatur erreicht in ihrer Gesamtheit sicherlich ähnliche Dimensionen wie die der Nationalsozialisten. Übertroffen werden die beiden ohnehin nur von einem weiteren kommunistischen Diktator, Mao, und der einzige, der in seiner Liga spielt, ist der kommunistische Diktator Pol Pot, der zwar nicht mengenmäßig, aber anteilig an der Bevölkerung einer der größten Killer aller Zeiten war. Seit diesen Mörderregimen ist niemand unter Diktatoren dieser Welt je auch nur annähernd an diese Zahlen herangekommen. Es bleibt die Hoffnung, dass diese Massenmorde einzigartige Artefakte des 20. Jahrhunderts bleiben werden.

8) The Singular Chancellor

With Germany’s election drawing closer, what has become of all that political capital? What will Merkel’s legacy be—and will she deserve to be called a great chancellor? [...] Merkel unquestionably transformed Germany’s post–Cold War politics, liberalized her party, presided over an extraordinary expansion of German economic and political power in Europe, and did much to defend the European political project. And yet her claims to greatness are inconclusive, perhaps because so many of the significant achievements of her tenure have come with a darker underside. [...] Merkel, meanwhile, seems increasingly frustrated and depleted, her endless patience eroded, her legendary negotiating energy spent. Germans may someday come to appreciate that Merkel was singularly lacking in the character flaws of her three great predecessors, Adenauer, Brandt, and Kohl, each of whom left office under a shadow and against his will. Her integrity and dedication are beyond question—and she will be the first of Germany’s heads of government to relinquish power of her own accord. Nonetheless, and despite her considerable achievements, the ultimate responsibility for the state of the country, and its relations with its allies and adversaries, lies with the chancellor. (Constanze Stelzenmüller, Foreign Policy)

Bedeutend? Sicher. Groß? Nein. Angela Merkels Kanzlerschaft ist vor allem in ihrer Obstruktionswirkung relevant. Merkel hat es geschafft, 16 Jahre lang einen gesamtdeutschen Konsens herzustellen, der eigentlich nur einmal wirklich ins Wackeln kam, im Backlash gegen die Flüchtlingspolitik. Zwar warf Merkel ihre Politik auch hier angesichts der sich wandelnden Stimmungslage sofort über Bord warf, blieb es im Gegensatz zu ihren sonstigen Wenden an ihr hängen.

Aber zurück zur Konsensherstellung. Merkel schliff im Endeffekt alle Ecken und Kanten ihrer Politik ab, was ihr gewaltige Zustimmungsraten und der CDU Wahlsiege verschaffte. Aber der Preis dafür war 16 Jahre kleinster gemeinsamer Nenner, was in manchen Fällen durchaus positive Ergebnisse hatte, weil es auf kalten, schmerzlosem Weg Problemthemen abräumte, die früher Kulturkriege ausgeläst hätten - Stichwort gleichgeschlechtliche Ehe. Aber auf anderen Gebieten - Digitialisierung, Klimawandel, nur um zwei zentrale zu nennen - dürfte Merkel vor allem wegen dem in Erinnerung bleiben, was sie alles verhinderte und nicht leistete.

9) The politics of loneliness is totalitarian

Human beings are social, communal creatures. We seek out connection with others of our kind and especially enjoy engaging in common enterprises and the emotional intimacy that can follow from such experiences. The standard way for people to have these kinds of collective experiences is out in the world — in extended family, local community, religious organizations, work, unions, clubs, and politics. The fact that friendlessness is on the rise seems to be a function, in part, of the wasting away of these intermediary institutions in civil society. Families are smaller than they used to be, and fewer people marry in the first place. Communities are fraying under economic pressures and as a result of social shifts. Fewer people go to church. Work more often involves analysis of symbols (ideas and numbers) and takes place mostly within our own heads, mediated by technology, with remote work also becoming more common in recent years. Unions are a shadow of what they once were. We've been bowling alone for decades. All of this can make it harder to forge friendships. At least in the real world. The rise of the internet, and especially social media, has opened up other possibilities for social interaction, if not exactly friendships. [...] Online relationships are different. A modicum of that closeness might be achieved by some, taking the edge off the pain and loneliness of a life without friends. But for most the interaction will tend to remain topic-specific — and for nearly all, the interaction will be entirely mental. A friendship (or love affair, for that matter) conducted completely online takes place wholly within the minds of the participants, with imagination playing a vastly greater role than it would in the real world. (Damon Linker, The Week)

Ich halte wenig von Linkers Bezug dieser Thesen auf die Radikalisierung und Polarisierung der Politik. Das Internet ist global, und die Polarisierung à la USA ist es dezidiert nicht. Natürlich ist Einsamkeit ein Faktor, der eine große Rolle spielt. Aber nicht alle Menschen, die einsam sind, radikalisieren sich. Die meisten werden das nicht tun. Und diese kulturpessimistischen Ansichten von wegen "die Moderne ist ganz schrecklich und unsere sozialen Beziehungen gehen kaputt" kann ich ohnehin nicht leiden; die sind so alt wie die Menschheit und noch nie richtig.

10) Will progressives really reject the biggest half a loaf in history?

"Many in the Squad and Squad-adjacent will vote no," an anonymous "progressive lawmaker" told CNN after the package was announced. The lawmaker called the proposal a "capitulation by progressives" who started out the process aiming for a whopping $6 trillion plan. Now this might be a negotiating tactic — a ploy to make moderate Democrats like Sen. Joe Manchin (D-W.Va.) more comfortable that a bill negotiated with the help of Sen. Bernie Sanders (I-Vt.) is actually the "middle ground," or an effort to bump up the bottom line number just a little bit more. But it's worth taking the lawmaker seriously: Democrats have a thin margin of advantage in the House of Representatives. If only a few members peel off, the bill would be doomed. And that would suggest that progressives aren't up to the task of governance. A study last year by researchers at Northwestern University suggests many legislators are inclined to reject "half-a-loaf" compromises that move policy closer to their preferred outcome. Why? Because they're afraid of being punished by primary voters for not getting the whole loaf. They rarely get the whole loaf, however — the result is usually gridlock, and no loaf at all. That would be an unacceptable outcome in this case. Biden-era Democrats have operated on the theory that they must aggressively govern in a way that improves the material well-being of voters. That won't happen if progressives decide to hold out on the budget proposal. They should take the deal, then work to get more next year, and the year after that. (Joel Mathis, The Week)

Es war schon immer das Prärogativ der jeweiligen radikalen Elemente der eigenen Partei, jeden "half loaf" abzulehnen, ganz egal, wie groß und toll er war. Die Linken waren darin schon immer besonders gut. Sie schießen gegen Obamacare (zu viel Marktwirtschaft), gegen den Stimulus (zu klein), gegen das Pariser Abkommen (zu unzureichend) und jetzt gegen Coronahilfen und Infrastrukturpaket.

Dahinter steht die völlig fehlgeleitete Annahme, dass das Scheitern eines schwierig ausgehandelten Kompromisses bedeute, dass der Weg frei würde für die wahre, unverfälschte Version, die nach Ansicht der radikalen Linken dann die jeweilige Erlösung bringen wird. Dabei ist alles, was das Scheitern des Kompromisses bedeutet, dass gar nichts kommt. Es ist der halbe Laib oder keiner, und das nicht zu erkennen und für realistische Ziele zu kämpfen ist Ursache der ewigen Schwäche der Linken.

11) Fox News is the real source of right-wing vaccination paranoia

The Republican Party has always had a dozen or three looney bins on their extreme end, people who are willing to say just about anything as long as it's stupid enough. But they're not the problem. The problem is that Fox News has taken their schtick and nationalized it. As recently as 20 years ago, Massie and Roy and their ilk wouldn't even have gotten a page A23 blurb in the national media. Today, Fox News blasts out this kind of idiocy to the entire country several times a day and it soon becomes all but a part of the GOP platform. It's one thing to be anti-Trump. But if we really want sanity back in our politics, conservatives need to become anti-Fox News. That's a lot harder since it's not clear if Republicans can win elections reliably without them, but it's the only answer. As long as Fox remains the primary source of news on the right, our country will continue to slide downhill. (Kevin Drum, Jabberwocky)

Das ist ein ziemlich zentraler Gedanke. Auch in Deutschland gibt es in jeder Partei Spinner; die AfD ist sogar eine komplette Partei voll mit ihnen. Aber die sind bei uns nur relevant, wenn die Medien - wie im Wahlkampf 2017 oder während der Hochphase der Querdenker 2020 - ihnen ein Forum bieten. Tun sie das nicht, brüllen sie in ihre Blase. Aber FOX News in the USA oder Zeitungen wie die Daily Mail im Vereinigten Königreich haben die Spinner konstant ins Hauptprogramm gepackt. Das Resultat davon kann man aktuell begutachten. Es ist nicht "die Polarisierung", die nicht vom Himmel fällt, es ist die völlig verzerrte und unverantwortliche Medienlandschaft. Und man kann über Springer sagen was man will - Murdoch, it ain't.

Ich glaube, das ist in Deutschland auch deswegen besser, weil bei uns die Öffentlich-Rechtlichen immer noch eine dominante Stellung haben, wenngleich diese deutlich schwächer ist als ehedem. Deswegen ist es auch so gefährlich, wenn die ÖR von rechts diffamiert und deligitimiert werden. So hat es auch in den USA angefangen, wo NBC und Konsorten zunehmend angegriffen wurden und den Raum dafür schufen, dass erst die lokalen Hetzmedien und dann die republikanische Prawda den Markt erobern konnten. Da wird mit dem Feuer gespielt.

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