Montag, 30. August 2021

Koalitionsspielchen am grünen Tisch

 

Ich kenne mich nicht mit Spieltheorie aus und habe deswegen heldenhaft der Versuchung widerstanden, in der Überschrift des Artikels zu behaupten, spieltheoretisch verschiedene Aspekte der Koalitionsbildung im Herbst untersuchen zu wollen. Aber ein Tweet des Ökonomen Rudi Bachmann brachte mir innerhalb von fünf Minuten drei verschiedene Regungen hervor: "Ja, macht Sinn", "nein, totaler Blödsinn" und "hm, muss ich drüber nachdenken". Das zeigt mir, dass die Überlegung grundsätzlich erleuchtend sein kann. Hier der fragliche Tweet:


Schauen wir uns das Ganze einmal näher an.

Ich möchte zu Beginn einige Prämissen aufstellen, die ich für ziemlich eindeutig halte.

  1. Wir werden nie erfahren, ob es eine solche Absprache gab.
  2. Christian Lindner und Armin Laschet regieren gemeinsam in NRW und haben nach allem was man weiß professionell wie persönlich ein sehr gutes Verhältnis.
  3. Christian Lindner würde am liebsten eine schwarz-gelbe Koalition mit Armin Laschet anführen.
  4. Wenn das nicht geht, würde er am liebsten eine Jamaika-Koalition mit Armin Laschet anführen.
  5. Christian Lindner möchte nach Möglichkeit keine Ampel-Koalition, aber wenn, dann unter Olaf Scholz.
  6. Egal in welcher Koalition, Christian Lindner möchte Finanzminister werden.
  7. Aber nicht um jeden Preis.

Ich halte diese Prämissen für ziemlich gegeben. Strittig ist durch Bachmanns Tweet nur Punkt 5. Hier stellt der Ökonom die These auf, dass Lindner eine heimliche Zusage gegeben hätte, dies auf keinen Fall zu verfolgen.

Meine erste Reaktion war "klar, kann schon sein". Die Grundlage dafür waren Punkt 2, 3 und 4: Lindner und Laschet mögen sich, arbeiten schon lange zusammen und haben eine klare und oft und offen zu Protokoll gegebene Vorliebe für eine Koalition zusammen. Die Programmatik ihrer Parteien deckt sich in vielen Bereichen, habituell sind sie sowieso eng beeinander. Die Festlegung sorgt außerdem dafür, dass Jamaika die erste Verhandlungsoption der Grünen sein muss.

Meine zweite Reaktion war "nein, das macht keinen Sinn". Grundlage waren auch hier die Punkte 2, 3 und 4. Welchen Wert solle so eine Aussage haben, also warum sollte sie Lindner treffen? Seine Präferenz ist völlig klar. Er will, wenn möglich, mit der Union koalieren. Die Ampel ist bestenfalls eine Notlösung. Für Laschet ist diese Festlegung daher wertlos - wenn er Kanzler werden kann, scheitert es eh nicht an Lindner -, während sie für Lindner, weil sie geheim ist, keinerlei Vorteile bringt, sondern nur eine einseitige Festlegung. In Bachmanns Szenario würde ja etwa Laschet sich nicht gegen Schwarz-Grün oder Schwarz-Rot festlegen, was Lindner wenigstens die Garantie der Regierungsbeteiligung brächte - so er sie denn will, aber erneut, wenn nicht, was gewinnt er dann mit der geheimen Festlegung? All die positiven Effekte, inklusive der Festlegung auf Jamaika, kämen ja nur mit einem öffentlichen Ausschluss, nicht mit einem geheimen.

Aber dann fiel mir auf, dass natürlich die Handlungen der anderen Parteien ebenfalls relevant sind. Und hier wird es generell. Welche Szenarien stehen überhaupt zur Verfügung? Machen wir zuerst die irrelevanten Optionen:

Rot-Rot-Grün oder Grün-Rot-Rot: Das kommt nicht zustande. Selbst wenn es arithmetisch reicht, ist die Mehrheit zu schmal und die LINKE vollkommen unfähig zur Regierungsbeteiligung. Dietmar Bartsch hat jüngst einen Vorstoß gestartet - er sagte, Deutschland müsse nicht aus der NATO austreten, es reiche eine Reform und Einbeziehung Russlands - aber das ist immer noch ein Non-Starter. Mein Tipp hier: wenn die LINKE ihre Sprache ändert und etwas in die Richtung fordert, dass "Deutschland auf eine Reform hinwirken soll" oder so was in der Art, dann ist es ernsthaft. Solange es eine klare programmatische Forderung ist kann das nichts werden, schon allein, weil die NATO-Partner niemals mitmachen. Die LINKE fordert effektiv immer noch den Austritt aus der NATO, da kann Dietmar Bartsch noch so sehr Wortmassage versuchen. Und daran scheitert jede Koalition.

Schwarz-Blau-Gelb: Eine rechnerische Mehrheit des rechten Lagers scheitert aktuell daran, dass die AfD keine demokratische Partei ist. Dazu kommt, dass es eine Bande von Neonazis und anderen unangenehmen Personen ist, die schon habituell überhaupt nicht zu CDU und FDP passen, trotz programmatischer Überlappungen und ideologischer Nähe.

Rot-Grün und Schwarz-Gelb: Die klassischen "Lager-Bündnisse" sind so weit jeder Realisierbarkeit, dass wir uns mit ihnen nicht beschäftigen müssen. Sollte es aus irgendwelchen Gründen arithmetisch reichen, werden die beteiligten Parteien sie ohne Zögern eingehen.

Kommen wir damit zu den unwahrscheinlichen Optionen:

Grün-Rot-Gelb: Eine Ampel unter grüner Führung erfordert eine Platzierung der Grünen vor der SPD und die Bereitschaft Christian Lindners, seine FDP unter die Führung einer grünen Kanzlerin zu stellen. Hier hat er sich weitgehend (wenngleich nicht absolut) festgelegt, dass das nicht passieren wird. Damit diese Koalition überhaupt eine Chance hat, müsste gleichzeitig eine Mehrheit für Jamaika unmöglich sein und die SPD klarmachen, dass sie für eine Koalition mit CDU und FDP nicht zur Verfügung steht. Letzteres ist weniger das Problem, aber insgesamt ist dieses Szenario mittlerweile ein völliger Außenseiter.

Grün-Schwarz: Aktuell gibt es keine arithmetische Mehrheit für dieses Szenario. Wenn es diese gäbe, müssten die Grünen zudem an der CDU vorbeiziehen. Beide Bedingungen sehen aktuell, höflich gesagt, eher unwahrscheinlich aus, scheitern aber mehr an der Arithmetik als an der grundsätzlichen Weigerung beider Seiten zur Zusammenarbeit. Ob die CDU bereit wäre, eine Kanzlerin Baerbock zu akzeptieren, ist aktuell völlig unklar und auch schwer vorhersehbar, weil der upset durch das entsprechende Wahlergebnis so groß wäre, dass Vorhersagen eh unmöglich sind.

Schwarz-Rot-Gelb: Die so genannte Deutschland-Koalition wird rechnerisch problemlos möglich sein und stellt aus Sicht der CDU kein großes Problem dar. Allerdings ist sie wenig attraktiv für die FDP, die hier mit zwei Status-Quo-Parteien koalieren und effektiv nur als Mehrheitsbeschaffer herhalten müsste, was keine attraktive Option ist. Mindestens so unwahrscheinlich aber ist das Szenario wegen der SPD, die nach 2017 kaum ein zweites Mal eine Regierung bilden wird, in der sie nur eine moderierende Funktion einnimmt.

Schwarz-Rot: Auch wenn es arithmetisch reichen sollte ist extrem unwahrscheinlich, dass die SPD für eine weitere Runde der ungeliebten Koalition bereit ist. Das Trauma von 2017 wird für die SPD deutlich unterschätzt, was angesichts der Bedeutung, die es für die FDP einnimmt, eigentlich verwundert.

Damit kommen wir zu den realistischen Optionen:

Schwarz-Gelb-Grün: Das wahrscheinlichste Szenario für den Herbst ist die Bildung der ersten Jamaika-Koalition im Bund. Alle Zeichen und Gespräche deuten seit Monaten darauf hin. Die größte Frage wird hier der Einfluss der Grünen sein. Sie werden mindestens doppelt so stark wie 2017 in die Verhandlungen gehen, und Lindner reklamiert für sich das Finanzministerium - das die Grünen auch haben wollen. Ich glaube allerdings nicht, dass die Verhandlungen an diesen Fragen scheitern werden, weil die Grünen zu erpicht auf die Regierungsbeteiligung sind - und Lindner auch wesentlich mehr als 2017.

Schwarz-Grün: Wenn es arithmetisch reicht, gibt es keinen Grund, Jamaika-Verhandlungen aufzunehmen. Egal, wie gut Lindner und Laschet miteinander können, die Grünen werden das nicht akzeptieren, und die CDU wird nicht bereit sind, Ministerien und Einfluss für die FDP aus "ihrem" Kuchen herauszuschneiden. In diesem Fall steht einer Zusammenarbeit zwischen Laschet und den Grünen nichts im Wege. Die beiden Parteien können problemlos miteinander.

Rot-Gelb-Grün: Die Außenseiterperspektive der Koalitionsoptionen ist die Ampel-Koalition unter Führung der SPD. Sie ist Olaf Scholz' einzige Chance ins Kanzleramt. Die wurde von keiner Seite explizit ausgeschlossen. Die Präferenz Lindners für die Jamaika-Koalition allerdings - die, erneut, hinreichend bekannt und öffentlich gemacht wurde - macht sie zu einer trickreichen Angelegenheit.

Und hier kommen wir nun zur eigentlichen Thematik um Bachmanns These zurück. Hat Lindner die Ampel-Koalition ausgeschlossen? Es hat einen Grund, dass wir immer wieder auf Christian Lindner zurückkommen. Im Guten wie im Schlechten hat er die Partei auf sich ausgerichtet. Die FDP ist in einem Ausmaß Christian Lindner, wie keine andere Partei mit ihrer Führungsfigur identifiziert ist. Das erlaubt ihm eine beispiellose Kontrolle und Kohärenz von Wahlkampf, Programmatik und Strategie, was solange gut funktioniert, wie Lindner als Marke funktioniert. Aktuell profitiert die FDP von seinen Beliebtheitswerten und Fähigkeiten. Aber das wird nicht ewig funktionieren. Dafür kann die FDP jederzeit die CDU fragen. Die kennt das.

Keine der wahrscheinlichen Regierungsoptionen mit Ausnahme von Schwarz-Grün kommt ohne die FDP aus. Und die weiß das. Deswegen ist das Verhalten Lindners auch entscheidend. Auf der einen Seite hat er alle Optionen. Auf der anderen Seite bereitet das allerdings auch einiges strategisches Kopfzerbrechen.

Nehmen wir für einen Moment an, Bachmann hat Recht, und Lindner hat Laschet versprochen, keinesfalls eine Ampel einzugehen. Bei der Wahl liegen nun entweder SPD oder Grüne (oder beide!) vor der CDU. In diesem Fall müsste Lindner öffentlich die demokratische Regel ignorieren, dass die stärkste Partei den Anspruch auf den Regierungsbildungsversuch hat, indem er nun verkündet, dass er keinesfalls eine Koalition eingehen würde. Und das ist für mich das größte Problem an Bachmanns These: was gewinnt Lindner dabei, das JETZT zu verkünden, anstatt vorher eine klare Festlegung zu treffen? Gegenüber allen, die die FDP in Hoffnung auf eine Ampel gewählt haben, wäre es glatter Verrat (sind nicht viele, klar, aber auch die gibt es). Generell aber würde die FDP als nicht vertrauenswürdig dastehen, denn warum hat sie eine solche Festlegung nicht vorher öffentlich gemacht, wenn sie existierte? Oder anders gefragt: was hat Lindner davon?

Denn im anderen Fall, wenn die CDU stärkste Partei wird, gibt es ohnehin entweder Jamaika oder Schwarz-Grün. Ich sehe also schlicht keinen Vorteil darin für Lindner, im Geheimen die Ampel auszuschließen. Bleibt also die Frage: warum tut er es nicht öffentlich? Dass sie nicht seine bevorzugte Koalition ist, ist klar. Der Grund dafür ist das Offenhalten von Optionen. Denn wenn SPD und/oder Grüne stärker sind als die CDU, die Regierungsbildung aber an einer kategorischen Verweigerung Lindners scheitert, muss dies nicht zwingend in Jamaika-Verhandlungen enden. Die Grünen könnten dann analog zur FDP 2017 erklären, kein Vertrauen in die Liberalen zu besitzen und Neuwahlen erzwingen. Das wäre eine Premiere für Deutschland, und auch eher unwahrscheinlich (weil extrem risikoreich), aber es ist eben ein Risiko für alle. Und nach 2017 ist es unklar, ob die FDP eine weitere geplatzte Regierung verantworten kann, ohne massive Einbußen zu erleiden.

Ein letzter Gedanke zu dieser Thematik betrifft die Führung der Ampel. Lindner hat sich ziemlich früh auf Baerbock und die Grünen als Hauptgegner eingeschossen. Das war auf der einen Seite cleverer Wahlkampf, weil sich die Grünen als Gegner sehr gut eignen. Aber auf der anderen Seite könnte es sich noch als echtes Problem herausstellen, denn wenn es wirklich zu einer Ampel kommt, hat die FDP programmatisch gesehen mit der SPD in Führung ironischerweise mehr zu verlieren als mit den Grünen. Denn die Verhandlungsposition der Grünen ist schlechter als die der SPD, und sie sind der FDP programmatisch näher als die SPD.

Warum? Olaf Scholz und die SPD haben in den vergangenen Jahren einen ziemlichen Wandel hingelegt. Scholz ist deutlich nach links gerückt, die Partei sowieso. Weder für Scholz noch für die SPD ist die Schwarze Null noch eine relevante Größe. All diese Positionen sind den Grünen egal, die gehen da glücklich mit. Aber sie sind keine grünen Kernthemen. Die FDP hätte es gegenüber einer Kanzlerin Baerbock vermutlich leichter, ihre deutlich ordoliberale Finanz- und Wirtschaftspolitik in die Koalition einzubringen, als bei einem Kanzler Scholz. Insofern könnte sich das Einschießen auf Baerbock noch als problematisch herausstellen. Andererseits erlaubt es der FDP überhaupt erst die Teilnahme an einer Ampel, weswegen Lindner da auch wenig andere Optionen hatte. Dieses Beispiel zeigt, warum alle Optionen zu haben und das Zünglein an der Waage zu sein nicht immer Vorteile haben muss.

Was ist also die Konsequenz? Die Wahl ist weiterhin ziemlich offen. Es gibt so viele Optionen wie selten zuvor, und noch kann eine ganze Menge passieren. Das erfordert von den Akteur*innen ein ziemlich geschicktes Agieren und Taktieren. Jede Festlegung kann sich später als Bumerang herausstellen. Wer heute glaubt, zuversichtlich eine Koalition für den Herbst vorhersagen zu können, lügt sich in die Tasche.

Sonntag, 29. August 2021

Triell 1: Im Westen nichts Neues

 

Das erste Triell ist vorbei. Ich will eine kurze Nachlese bieten. Zuerst die Ausgangssituation: Die SPD führt in den Umfragen, zum ersten Mal seit 2006. Stand heute (alles im Fluss, wie wir wissen) hat Scholz eine realistische Chance, den Regierungsbildungsauftrag für sich reklamieren zu können. Seine persönlichen Umfragewerte sind noch besser. Im Gegenzug dazu stehen Baerbock und Laschet desaströs da; 70% der Wähler*innen finden beide nicht tauglich für das Spitzenamt; Laschet hat dazu noch miese Sympathiewerte (und Baerbock unterdurchschnittliche). Scholz' Wahlkampfstrategie - die ich in der zweiten Ausgabe der Bohrleute genauer analysiert habe - als Merkel 2.0 zu agieren geht voll auf. Er muss daher auch "nur" nicht scheitern. Solange er souverän über den Dingen schwebt, gewinnt er. Baerbock und Laschet dagegen mussten beide den Trend brechen, egal wie. Unter diesen Voraussetzungen ist der Gewinner des Triells klar: Scholz.

Der SPD-Kandidat wehrte alle Attacken Baerbocks (einige sanfte am Anfang) und Laschets (einige heftige vor allem in der Mitte und am Ende) souverän ab. Besonders auffällig war, wie wenig die traditionellen CDU-Angriffslinien gegen ihn funktionierten. Der Versuch, die SPD (und Grünen) als Hochsteuerparteien darzustellen, ging in die Leere. Die technischen Debatten über den Solidaritätszuschlag, in denen Laschet sich verhedderte, wurden sogar gegen ihn gedreht, was vor allem Baerbocks Verdienst war, doch dazu später mehr. Scholz gelang es wie Merkel 2013 und 2017, eher leicht genervt bis amüsiert über die Angriffe des kleinformatigen Laschet zu wirken und alles wegzulächeln. Das sagt nichts über die Substanz der Argumente aus, aber die Substanz der Argumente ist das Letzte, was bei diesen Fernsehduellen relevant ist.

Dass Scholz das so gut gelang ist, das sei erneut betont, auch eine Folge des hervorragenden SPD-Wahlkampfs. Nicht nur gab es keinerlei Vorlagen etwa Eskens oder Kühnerts, an denen sich Laschet aufhängen hätte können, sondern die Partei besitzt auch ein neues Selbstbewusstsein. In der Steuerfrage ging sie direkt zum Angriff über, worauf wir noch genauer zu sprechen kommen, und die seit 2005 stets so gut funktionierende Beschwörung der LINKEn ging völlig daneben. Sowohl Baerbock als auch Scholz schafften es, die Koalition nicht explizit auszuschließen und trotzdem die Attacke abzuwehren. Mission erfüllt.

Damit kommen wir zu Steuern. Wir haben hier etwas gesehen, das es seit Schröders Tagen nicht mehr gab: die CDU ist in der Defensive. Und das ist kein Problem Laschets, das ist ein Problem der Partei. Es passierte Söder gegen Habeck, Ziemack gegen Kühnert und nun Laschet gegen Scholz und Baerbock (die hier wie einstudiert abwechselnd rechte und linke Haken setzten). Und erneut, es geht nicht um die Inhalte. Die verstehen die meisten Wähler*innen eh nicht. Die Tatsache, dass SPD und Grüne der Union vorwerfen, nichts von Wirtschaft zu verstehen, und dass die Unionsleute darauf defensiv agieren, ist bemerkenswert. Das hatten wir 20 Jahre lang nicht (und, erneut, abseits von dem was wir sachlich davon halten mögen).

Scholz kann also als klarer Gewinner ausgemacht werden. Baerbock auf der anderen Seite erreichte ihr Ziel, irgendwie eine Trendwende herbeizuführen, klar nicht. Ihre Präsentation war solide, aber das reicht nicht, um den aktuellen Trend umzukehren. Sie war die mitreißendste der drei, aber das sagt sehr wenig. Weder Scholz noch Laschet sind mitreißend, und Schulz war auch mitreißender als Merkel. Der Komparativ leistet in diesen Sätzen eine Menge Arbeit. Letztlich gab sie, wie Alexander Clarkson schrieb, ein gutes Vorstellungsgespräch als Vizekanzlerin ab. Dem Eindruck, dass die Grünen das Kanzleramt abgeschrieben haben, kann man sich aber kaum erwehren.

Am stärksten war Baerbock, als sie in die Offensive ging. Genauso wie Scholz ließ sie sich bei den grünen Schwachstellen nicht aufs Glatteis führen. Weder bei geschlechtergerechter Sprache noch bei Steuern landeten die Angriffe, gab sie sich eine Blöße. Nur, für Scholz war das genug. Sie aber brauchte die Wende. Eine Ahnung von dem, was eine kompetentere Wahlkampfführung hätte erreichen können, sah man beim Thema Innere Sicherheit und bei der Frage der Steuern, als sie die Grünen als Partei für Familien (als sie Laschets Versuch der Instrumentalisierung der Soli-Abschaffung gegen ihn wandte und ihn als kinderfeindlich darstellte) und Frauen zu etablieren. Ihr "ich als Frau" und "ich als Mutter" öffnete eine Perspektive, die in der deutschen Politik bisher unbekannt ist. So aber ist es vor allem eine verpasste Chance; ich sehe nicht, wie die Grünen das noch etablieren wollen.

Auffällig war, dass die drei Kandidat*innen sich alle weigerten, das Spiel der Moderator*innen zu spielen und sich zu unseriösem Blödsinn hinreißen zu lassen. An mehreren Stellen verbündeten sie sich und schossen Aufforderungen zu solchem Unfug ab. Hier wurden die Lektionen von 2017 offensichtlich gut gelernt, als man es den Moderator*innen erlaubte, 45 Minuten Werbung für die AfD zu machen. Auch die Moderator*innen fielen aber für deutsche Verhältnisse positiv auf; die Themen wurden nicht überreizt und besaßen eine gute Auswahl. Eine allgemeine Schwäche entbößte sich, als die Rede auf den Gegensatz von Ost und West kam: Laschet erklärte sich als "aus dem äußersten Westen kommend" für besonders gut geeignet, Ostdeutschlands Probleme zu lösen, und auch Baerbock und Scholz hatten hier wenig zu liefern. Im Westen nichts Neues, quasi. Der Osten kommt weiterhin nur als Objekt, nicht aber als Subjekt, vor.

Und damit kommen wir zu Laschet. Er musste den Abwärtstrend der CDU drehen, und das gelang offensichtlich nicht. Laschet verlor das Triell auf mehreren Ebenen. Einerseits wegen der gescheiterten Trendwende und der Unfähigkeit, seine schlechten Beliebtheitswerte aufzubessern. Seine Persona ist furchtbar. Besonders deutlich wurde das, als die Kandidat*innen gebeten wurden, etwas positives zu den jeweiligen beiden anderen zu sagen (tolle Frage übrigens) und er sowohl bei Scholz als auch Baerbock völlig scheiterte. Aber auch seine Körpersprache war eine Katastrophe. Die Defensive, in der er sich häufig befand, wurde durch sein ständiges schief auf dem Pult Lehnen und den Oberkörper gegenüber Scholz und Baerbock Zurücknehmen noch unterstrichen. Sein Schlussstatement geriet zum Desaster. Die 25% aus der ersten Umfrage am Abend sind da noch echt großzügig gerechnet.

Das Triell wird daher vermutlich nur wenig an der aktuellen Dynamik ändern. Baerbock und Laschet haben noch zwei Versuche, das zu drehen. Aber dieser hier ist gescheitert und verschafft Scholz einige weitere Tage positiver Presse, wo die Grünen und CDU für ihre Aussichten echt darauf angewiesen sind, dass er schlechte bekommt.

Freitag, 20. August 2021

Plädoyer für ein neues Lagerdenken

 

Politik in Deutschland wird gerne in "Lagern" gedacht. In den 1990er und frühen 2000er Jahren waren das das rot-grüne gegen das schwarz-gelbe Lager. Seit der Wahl 2005 wird gerne ein "linkes Lager" aus SPD, LINKEn und Grünen aufgemacht. Konservative Politiker*innen, die zumindest auf Landesebene gerne mit der AfD zusammenarbeiten würden, sprechen gerne von einem "bürgerlichen Lager", in das sie dann einen unbestimmten Teil zumindest der AfD-Wählendenschaft, wenn nicht der Abgeordneten selbst, hinzurechnen. Aber obwohl diese Begrifflichkeiten viel verwendet werden, ist seit 2013 keine Koalition in irgendeinem dieser Lager realistisch gewesen. Stattdessen haben wir Schwarz-Rot (was man guten Gewissens nicht mehr als "Große Koalition" bezeichnen mag), Jamaika, die Ampel, Schwarz-Grün. "Lager" sind das alles nicht, eher Zweckbündnisse. Das Denken in Lagern aber erleichtert Analysen, weil es Kategorisierungen erlaubt. Ich halte nur die aktuellen Zuschreibungen für nutzlos.

Die nutzloseste der obigen Lagerkategorien ist aktuell das "linke Lager". Nicht nur besitzt R2G keine eigene Mehrheit, so dass die Koalition nicht einmal als Gedankenspiel attraktiv ist. Sie ist auf Bundesebene (wir reden nicht von Landesebene, wo es offensichtlich schon länger rot-rot-grüne und sogar rot-rote Bündnisse gibt!) auch schlicht nicht realistisch, selbst wenn die Arithmetik gegeben wäre. Das hat zwei Gründe, und beide liegen bei der LINKEn.

Grund Nummer 1 ist, dass eine potenzielle rot-rot-grüne Koalition, sofern sie arithmetisch möglich ist, wegen der strukturellen Mehrheitsverhältnisse - Deutschland ist ein "strukturkonservatives" Land - über eine ziemlich dünne Mehrheit verfügt. Daran hat sich seit 2005 nichts wesentlich geändert. Während aber eine schwarz-gelbe Koalition mit schmaler Mehrheit vorstellbar ist (oder, wenngleich mit Abstrichen, eine schwarz-grüne), so ist eine rot-rot-grüne Koalition angesichts der Natur der LINKEn-Fraktion ein absurdes Wagnis, das einzugehen weder die SPD- noch Grünen-Spitze bereit ist. Man kann sich schlicht darauf verlassen, dass die LINKE sich vollständig an die Fraktionsdisziplin halten würde, und bei einer schmalen Mehrheit in einem erstmals durchgeführten Bündnis bei dem zu erwartenden scharfen Gegenwind - R2G bleibt die unbeliebteste Koalitionsoption in Deutschland - ist das das Todesurteil.

Doch selbst wenn die LINKE zur Fraktionsdisziplin fähig wäre (und das ist sie schlicht nicht), so stünde die Außenpolitik, die auf Landesebene einfach keine Rolle spielt, als Dealbreaker stets im Raum. Die Position der LINKEn, aus der NATO austreten zu wollen (weil die ebenso geforderte Auflösung derselben außerhalb des Machtbereichs selbst einer LINKEn mit 67% der Stimmen liegt) und auf Auslandseinsätze kategorisch zu verzichten, die Bundeswehr soweit zusammenzukürzen, dass diese Einsätze auch unmöglich werden, ist völlig unmachbar, ob mit SPD oder Grünen. Sie wird jedes Sondierungsgespräch platzen lassen. Auffällig ist, dass im vergangenen Jahr eine Positionsbewegung der LINKEn erkennbar war, hin zu einer Kompromiss-Haltung. Doch in dem Moment, wo durch den SPD-Linksrutsch in diesen Fragen zum ersten Mal wirklich eine Annäherung erfolgte, radikalisierte sich die LINKE unter ihren neuen Führung sofort wieder und zog sich auf die kategorische Ablehnung von Auslandseinsätzen und NATO zurück - und die verhindern zuverlässig jede rot-rot-grüne Koalition.

Das "linke Lager" ist daher eine völlig irrelevante und die Analyse versperrende Kategorie. Trotz aller anderen Gemeinsamkeiten kann es sich nicht formieren, spielt also für die Machtfrage keine Rolle.

Ähnlich sieht es bei dem vom rechten Rand der CDU und FDP sowie der AfD gerne postulierten "bürgerlichen" Lager aus. Das ist der Versuch der Kaperung des Begriffs für das "klassische" bürgerliche Lager, die schwarz-gelbe Koalition. Schwarz-Gelb hat die größten Übereinstimmungen und ist ein natürliches Bündnis. Wo es für dieses Bündnis reicht, werden beide Parteien es eingehen. Das steht völlig außer Frage. Allein, es reicht immer seltener. Angesichts dieser Seltenheit einerseits und dem Wunsch des erwähnten rechten Randes, ihre Parteien nach rechts zu verschieben, ist ein Bündnis mit den imaginierten "vernünftigen" Teilen der AfD, quasi ein schwarz-gelb-blaues Bündnis, entstanden.

Dieses wird über absehbare Zeit auf Landesebene auf uns zukommen, da brauchen wir uns keinen Illusionen hinzugeben. Gerade die Landesverbände in Sachsen-Anhalt und Thüringen haben in den vergangenen beiden Jahren bereits massiv versucht, das Fenster des Möglichen dorthin zu verschieben. Gescheitert ist das bisher weniger am Grundsätzlichen als am Personal. Einerseits ist die AfD noch zu abstoßend, es fehlt quasi das Äquivalent einer Thüringer LINKEn unter einem rechten Bodo Ramelow, der die Partei fest im Mainstream verankert und harmlos-wählbar macht. Aber auch das Personal der etablierten bürgerlichen Parteien wie Maaßen oder Kemmerich ist nicht eben dazu angetan, hier das Tor aufzustoßen. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis die entsprechenden Personen zusammenkommen und auf Landesebene diese Koalition durchführen werden.

Allein, auf Bundesebene wird diese über längere Zeit undurchführbar bleiben, aus dem gleichen Grund wie Rot-Rot-Grün. Auch im "rechten" Lager (das als Konstruktion genauso sinnlos ist wie das "linke" Lager) sind auf den ersten Blick viele Überschneidungen. Viele Mitglieder der Union sind was Migrations- und Wirtschaftspolitik betrifft sicher näher an der AfD als an den Grünen, aber die Positionen der AfD sind in einigen Bereichen, und auch hier gerade bei der Außenpolitik, so abseits des Rahmens dessen, was in der deutschen Politik möglich ist - Stichwort ist hier vor allem die EU - dass eine Zusammenarbeit kaum möglich erscheint.

Nachdem wir also die Nutzlosigkeit der bisherigen Lagerbegriffe etabliert haben, welche Alternative schlage ich vor?

Ich sehe in Deutschland aktuell drei "Lager", in denen jeweils zwei Mitglieder sind, die in unterschiedliche Richtungen streben. Diese "Lager" sind weniger relevant, weil sie Allianzen bilden, sondern weil sie einen ähnlichen Blick auf das Land haben. Sie teilen quasi die Analyse, unterscheiden sich aber teils fundamental in ihren Schlussfolgerungen und Lösungsansätzen.

Das erste Lager würde ich als das Weiter-so-Lager zusammenfassen. Hier haben wir CDU und SPD. Beide Parteien haben die letzten drei Dekaden praktisch ununterbrochen die Regierungsverantwortung geteilt, wenngleich streckenweise nur über Bande (den Bundesrat). In Verantwortung waren sie gleichwohl stets, und nur mit sehr kurzen Ausnamen schlossen sie stets Kompromisse. Diese lange Regierungszeit macht es ihnen unmöglich, eine Analyse Deutschlands anzustellen, die grundlegenden Wandel erfordert. Wie auch? Sie sind für den Status-Quo ja verantwortlich und können daher kaum glaubhaft erklären, dass er grundsätzlich schlecht sei. Alle ihre Politikvorschläge müssen daher zwangsläufig in graduellen Verbesserungen bestehen, beziehungsweise in der graduellen Abwehr von Verschlechterungen.

Natürlich gibt es Unterschiede. Die SPD will einen höheren Mindestlohn, die CDU nicht. Aber das ist alles, nun, graduell. Ob der Mindestlohn 10,50€ oder 12€ beträgt ist für die Betroffenen sicherlich relevant, aber kaum eine entscheidende Stellschraube des Systems. Man kann dagegen oder dafür sein, aber die Republik ist danach im Großen und Ganzen dieselbe wie zuvor. Als Faustregel kann man sagen, dass die Botschaft der CDU eine der Sicherheit ist: Mit ihr kann man sicher sein, dass man von großen Veränderungen (die, klassisch konservativ, als bedrohlich empfunden werden) verschont bleibt, ob beim Klimawandel, in der Wirtschaft oder der Gesellschaft. Angela Merkel verkörperte das die letzten 16 Jahre, und ihr Erfolg zeigt, dass der Markt dafür ziemlich groß ist.

Die SPD dagegen vertritt eher die "nicht ganz so schlecht"-Seite des Weiter so. Im Großen und Ganzen wird sich nichts ändern - hier wird die gleiche Sensibilität angesprochen wie bei der CDU - aber wo die Union eher auf die Sicherheit und die Abwehr bedrohlicher Veränderungen zielt, ist das Versprechen der SPD, die kleinen Problemchen aufzuräumen - wie etwa die genaue Höhe des Mindestlohns, die Einführung einer Mütterrente und Ähnliches. Kein Wunder sind die Wahl- und Koalitionsprogramme der beiden Parteien so lange, uninspirierte Strichlisten von individuell sicherlich lobenswerten Maßnahmen, die aber kein kohärentes Ganzes ergeben, mit dem Begeisterungsstürme, Kreativität, Innovation oder Aufbruchsstimmung erzeugt würden.

Das zweite Lager sehe ich als das Veränderungs-Lager. Hier finden sich die Grünen und die FDP. Beide Parteien sind sich in der Analyse einig, dass Deutschland aktuell verkrustet ist und dringenden Nachholbedarf hat. Zwar unterscheiden sie sich ziemlich deutlich darin, was anzugehen ist, aber die grundsätzliche Stoßrichtung - nach vorne, in unerforschte Gewässer - ist ähnlich. Sie sind am ehesten bereit, die Politik an geänderte gesellschaftliche Trends anzupassen (Integration, Ehe für alle, solche Themen), sind sich einig in der Bedeutung von Zukunftstechnologien (nicht umsonst betonen diese beiden Parteien am stärksten die Notwendigkeit der Digitalisierung) und haben ihre eigene Sicht darauf, wie Deutschland "zukunftssicher" gestaltet werden kann.

Anders als CDU und SPD sind sie sich aber einig, dass Deutschland eben nicht zukunftssicher ist. Dass Herausforderungen bestehen, für die das Land nicht gewappnet ist und für die es einen zentralen Mentalitätswandel braucht, einen Paradigmenwechsel. Im Falle der Grünen ist das das ganzheitliche Denken des Klimawandels als Bedrohung, wodurch etwa Forderungen einer mehr auf den Klimawandel abzielenden Außenpolitik oder die Idee eines "Klimavorbehalts" durch ein "Klimaministerium" resultieren. Die zentrale Idee der FDP ist eher die Stärkung des Individuums und des Wettbewerbs, quasi die Entfesselung der aktuell brachliegenden revolutionären Kräfte des Freien Markts. Verbunden wird das mit einer Betonung von Technologie als Treiber, ob beim Wasserstoff oder bei der Digitalisierung.

Zuletzt haben wir das rückwärtsgewandte Lager. Hier finden sich LINKE und AfD. So unterschiedlich die beiden auch sind, sie sind sich einig darin, dass es früher besser war und dass die Ursache aller Probleme in einer falschen Weichenstellung der Vergangenheit liegt, die es zu korrigieren gilt. Für die LINKE ist das die "neoliberale" Revolution ab den 1980er Jahren, wo die SPD den großen Verrat beging, der seinen ultimativen Ausdruck in der Agenda2010 und Hartz-IV findet. Diesen Fehler gilt es aus Sicht der LINKEn zu korrigieren, so dass man zu einem Klassenbewusstsein zurückkehren kann, aus dessen Sicht die Probleme bewertet werden. Die LINKE sieht den Klimawandel als Ausfluss des Kapitalismus; wird er überwunden, ist auch der Klimawandel bekämpfbar. Armut ist eine zwingende Folge des Wirtschaftssystems. Außenpolitische Konflikte wie Terrorismus oder Fundamentalismus ebenfalls, und so weiter. Alles geht auf die Ursünde der Akzeptanz des Kapitalismus zurück.

Die AfD dagegen sieht vor allem die gesellschaftliche Modernisierung als Ursünde und Kern der Probleme unserer Zeit. Den Klimawandel leugnet sie de facto, als einzige Partei im Bundestag. Ansonsten sieht sie in der Gleichstellung von Mann und Frau eine Auflösung "natürlicher" Geschlechterrollen, lehnt die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Beziehungen ab, möchte zurück zu einer Stärkung des Nationalstaats. Ihr ideologischer Fluchtpunkt ist das patriarchalische Gesellschaftsbild, das nationalistisch unterfüttert wird. In diesem Nationalismus werden ethnisch homogene Nationen beschworen, wie sie zu einem undefinierbaren früheren Zeitpunkt einmal bestanden hätten und zu denen man zurückkehren müsse.

In diesen Haltungen haben sowohl AfD als auch LINKE viele Gemeinsamkeiten mit ihren jeweiligen Pendants in den anderen beiden Lagern, woher vermutlich auch die Tendenz kommt, ein "linkes" Lager zu konstruieren (und die Sehnsucht bei Manchen, ein "rechtes" Lager aufzubauen, wenngleich hier aus deutschlandspezifischen Gründen der Begriff "bürgerlich" vorgezogen wird). Viele SPD-Mitglieder dürften Sympathie für die sozialpolitischen Forderungen der LINKEn empfinden. Die Forderungen der Partei, ungeheure Milliardensummen in die Bekämpfung des Klimawandels zu investieren, findet sicherlich Wohlwollen bei vielen Grünen. Umgekehrt finden die Forderungen nach einer umfassenden Rentenreform der AfD sicher bei der FDP Gehör, während ihre Ablehnung von Gleichstellung bei vielen CDU-Mitgliedern offene Türen einrennen. Jedoch ist die Radikalität dieser Forderungen einerseits und ihre spezifische Verbindung mit einem rückwärtsgewandten Weltbild in beiden Fällen stets ein Dealbreaker, der dafür sorgt, dass diese Lager rein theoretisch bleiben.

Was diese Konstruktion von drei Lagern für uns ebenfalls analytisch wertvoll macht ist ihre Erklärungskraft für die aktuellen politischen Dynamiken in Deutschland. Einerseits erklären sie die Häufigkeit und Leichtigkeit von schwarz-roten Koalitionen. Sie sind mittlerweile sowohl arithmetisch als auch mentalitätstechnisch die "natürlichen" Regierungsparteien. Das liegt, und das sei noch einmal betont, nicht zwingend an ihren inhaltlichen Gemeinsamkeiten. Oft genug liegt die CDU rein beim Inhalt näher an der AfD als an der SPD, und umgekehrt die SPD näher bei der LINKEn als der CDU. Aber bei der Mentalität, beim eigentlichen Regierungshandeln, bei der Herangehensweise an Probleme, liegen die Parteien dicht beieinander und können problemlos Kompromisse finden.

In abgeschwächterem Umfang gilt das für ein schwarz-grünes oder schwarz-gelbes Bündnis (die jeweiligen SPD-Varianten scheiden aus arithemtischen Gründen aus und brauchen uns hier nicht zu beschäftigen) auch. Da die "Weiter-so"-Kraft in beiden Bündnissen die stärkere ist und sie aus ihrer Mentalität heraus die stärkere Position besitzt - sie muss Wandel verhindern, nicht ihn einfordern - sind die zu bewältigenden Fragen technischer Natur. Sie befassen sich größtenteils damit, wie viel Wandel die Veränderungs-Partei jeweils gegen die Beharrungskräfte der anderen Seite durchsetzen kann. Insgesamt ist daher zu erwarten, dass Koalitionsverhandlungen in beiden Fällen relativ problemfrei ablaufen.

Wie schwierig es sein kann, wenn lagerübergreifende Koalitionen gebildet werden müssen, konnte 2017 bei den Jamaika-Verhandlungen gesehen werden. Obwohl die drei potenziellen Partner grundsätzlich zur Koalition bereit waren, platzten die Gespräche am Ende, während die Verhandlungen mit der unwilligen SPD, die von Steinmeier geradezu an den Verhandlungstisch gezerrt werden musste, trotz Rekord-Zugeständnissen der CDU praktisch reibungslos. Ich bin ziemlich sicher, dass dies (auch) mit der lagerübergreifenden Natur von Jamaika zu tun hat. Da aber innerhalb des Veränderungslagers einerseits massive Differenzen in der Herangehensweise bestehen (wie oben beschrieben), andererseits aber diese Differenzen im Gegensatz zum Weiter-so-Lager nicht durch eine starke gemeinsame Herangehensweise relativiert werden, ist dieses Bündnis schwieriger, als das auf den ersten Blick den Anschein hat.

Dasselbe gilt voraussichtlich für die Ampel. Auch hier sind zwei Partner aus dem Veränderungs-Lager mit einem Partner aus dem Weiter-so-Lager zusammen, und die Veränderungs-Lager-Partner sind sich zudem zutiefst uneins, worin die Veränderung genau bestehen soll. Dies erschwert die Bildung einer solchen Koalition ebenfalls. Die unterschiedlichen Fliehkräfte des Veränderungslagers neutralisieren quasi den allgemeinen Veränderungstrieb, was der jeweiligen Weiter-so-Partei entgegenkommt und ihre Aufgabe sowohl erleichtert, was das Verhindern von bedrohlichen Veränderungen angeht, als auch erschwert, weil sie Äquidistanz zwischen beiden Partnern halten muss. Das mag, wie man 2017 gesehen, schnell danebengehen.

Das ist aber nichts gegen die potenziellen rot-rot-grünen und schwarz-gelb-blauen Koalitionen. Diese spannen über alle drei Lager, und genau diese Bandbreite ist es, die sie gegenüber den ideologisch wesentlich diversen Zwei-Lager-Bündnissen so schwierig macht. Ich habe öfter betont, wie nahe sich "linkes Lager" und "rechtes/bürgerliches Lager" bei vielen Punkten theoretisch ist. Eine Zusammenarbeit scheint dennoch alleine wegen der unterschiedlichen Mentalitäten ausgeschlossen.

Dieser scheinbare Widerspruch löst sich durch meine Drei-Lager-Theorie weitgehend auf. Deswegen spreche ich ihr den größeren Erklärungsgehalt als den arithmetischen Spielereien eines "linken" oder "rechten/bürgerlichen" Lagers zu. Solange diese es nicht schaffen, die tiefen Differenzen zu überbrücken, die ihre Weltsicht und Mentalität trennen, hilft die inhaltliche Nähe nichts; sie werden auf Bundesebene Hirngespinste bleiben.

Donnerstag, 19. August 2021

Beijing bekämpt die afghanische Armut durch verstärkte Einordnung deutscher Gesetzesbücher in deutsche Fahhradwege - Vermischtes 19.08.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Have Democrats learned that fighting poverty is very easy?

Nobody benefits more from the state than the ultra-rich, who get vast oceans of tax subsidies (and pay a smaller portion of their income in tax than anyone in the country, including the poor, incidentally.) Oligarchs like Jeff Bezos would not be able to collect billions in (nearly) tax-free capital income without lifting a finger if it were not for the state's creation and protection of property rights. Fundamentally, the whole economy is structured at every point by government laws and regulations, and the rate of poverty is a policy choice. Welfare shaming is one of the principal methods that the grotesquely unequal distributions of income and wealth are politically defended in this country. Meager benefits that go to the working class and poor are smeared as immoral handouts to disgusting, lazy moochers, while the mountains of more subtle government cheese collected by people like Elon Musk (in addition to actual state contracts) are carefully ignored. [...] And it turns out people like getting free money! The survival checks, in particular, got about three-quarters approval in several polls. Leah Burgess, a part-time chaplain and student in D.C., told DeParle: "If our resources in a pandemic could change millions of people's lives, then what's stopping us from continuing to do that?" The answer is nothing but politics. Free money is great, and all Americans — not just the poor — should be demanding more of it at all times. (Ryan Cooper, The Week)

Praktisch jede Studie zum Thema kommt zu der simplen Erkenntnis, dass nichts Armut so erfolgreich bekämpft wie Geld. Gleiches gilt für Obdachlosigkeit: das beste Mittel dagegen ist, den Leuten eine Wohnung zu geben. Gleichzeitig versuchen ausgerechnet Liberale und Konservative, die sonst eigentlich für möglichst einfache und effiziente Lösungen sind, so komplexe und vielschichte Bürokratien wie möglich aufzubauen, wo es um die Bekämpfung von Armut geht, sprich: sozialstaatliche Regelungen.

2) Bowing to Beijing

In a report last year, "Made in Hollywood, Censored by Beijing," the free-speech organization PEN America accused industry decision-makers of changing "the content, casting, plot, dialogue, and settings" of films "to avoid antagonizing Chinese officials." At first, studios only tweaked their Chinese releases — for example, when censors ordered that dirty laundry be removed from Shanghai balconies in Mission: Impossible 3. But soon studios began removing potential sore points from their U.S. releases. The 2012 remake of Red Dawn originally depicted a Chinese invading army, but so as not to offend Beijing, they were digitally altered to become North Korean troops in both the U.S. and Chinese releases. China's government allows only 34 foreign films to be released each year, and studios competing for those valuable slots fear being denied access to 1.4 billion people — the world's largest box-office market. "Over time, writers and creators don't even conceive of ideas, stories, or characters that would flout the rules, because there is no point in doing so," the PEN report said. [...] Many young Chinese became acquainted with the West through pirated popular TV shows, such as Friends, How I Met Your Mother, and Game of Thrones, that volunteers dub with Chinese subtitles. But authorities are cracking down on this unapproved Western culture. Fourteen members of a large streaming firm were arrested in February, and other outfits have disbanded or disappeared since then. Internet users have reacted by sharing the Chinese term lindong ­jiangzhi —  a poetic translation of "winter is coming." (Staff, The Week)

Für mich ist das einer der zentralen Unterschiede zum Ost-West-Konflikt zwischen USA und Sowjetunion, NATO und Warschauer Pakt, EU und RGW. Der ideologische Einfluss der Kommunisten war immer auf eine sehr kleine Gruppe am linken Rand der westlichen Staaten beschränkt, und selbst dort teilte man weniger die offizielle Moskauer Variante als vielmehr irgendwelche modischen Abarten vom Maoismus bis zu den berühmtem Che-Guevara-Shirts. Dagegen herrschte die westliche Popkultur auch im Osten als Sehnsuchtsort unangefochten ("Kulturimperialismus").

Mit China dagegen sieht das völlig anders aus. Wo Hollywood nie auf die Idee gekommen wäre, Zugeständnisse gegenüber der kommunistische Ideologie und sowjetischen Befindlichkeiten zu machen, um den dortigen Markt zu erschließen, weil es nichts zu erschließen gab, nutzt China genau die kapitalistischen Strukturen aus, um eine Infiltration der mächtigsten Waffe des Westens zu erreichen, nämlich seiner kulturellen Begehrtheit. Vorrangig geht es dabei um die Abwehr, also zu verhindern, dass die "falschen" Ideen zusammen mit dem neuesten Blockbuster im Land verbreitet werden, aber die Produkte der chinesischen Filmindustrie zeigen deutlich, dass mittelfristig auch die Ambition besteht, die Werte des chinesischen Zentralstaats umgekehrt in den Westen zu exportieren. Das kann noch heiter werden.

3) Fehlende Analyse

Das alles ist keine Frage von Meinung. Die Qualität oder den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu benennen, ist nicht einmal eine Frage von politischer Haltung, sondern von journalistischer Analyse. Viele Redaktionen begreifen sich allein als ein „Austragungsort“ politischer Debatten. Aussagen werden wiedergegeben, Gegenstimmen eingeholt und das Ganze dann möglichst „neutral“ berichtet. Populistische Strategien funktionieren in einem solchen Journalismus der „falschen Balance“ besonders gut. Das ist aus den letzten beiden US-Wahlkämpfen sowie aus der Präsidentschaft Donald Trumps bekannt. Aber auch aus der Coronapandemie. Gerade wenn fragwürdige Aussagen oder deren Inhalt direkt in Überschriften stehen, handelt es sich nicht um eine neutrale Wiedergabe dieser Aussagen, sondern um eine Verstärkung. Dasselbe gilt für scheinbar neutrale Begriffe wie „Kritik“, „Vorwurf“ oder „Provokation“. [...] Po­pu­lis­t*in­nen können sich sicher sein: Wenn sie beim Sich -aus-dem-Fenster-lehnen rausfallen, werden sie auf den Formulierungen der Medien weich landen. [...] Nicht nur, aber gerade im Wahlkampf und gerade bei Nachrichten, die im Netz veröffentlicht werden, ist es deshalb wichtig, Falschinformationen gar nicht erst ohne Einordnung zu verstärken. Der journalistische Umgang mit Tatsachenbehauptungen Dritter sollte immer denselben Standards wie dem eigenen Content der Redaktionen entsprechen. (Peter Weissenburger, taz)

Ich bin hin- und hergerissen. Auf der einen Seite ist es problematisch, wenn jeder Artikel immer ein Meinungsartikel ist (des einen Analyse ist ohnehin des anderen Aktivismus, und umgekehrt). Auf der anderen Seite ist der Bothsiderismus aber eine Seuche, die zersetzend auf das demokratische Gefüge wirkt. Ich habe kein Problem damit, wenn Medien eine Position beziehen, sogar eine Seite, solange das offen geschieht. Dass etwa die taz den Grünen zuneigt, ist kein Geheimnis, und wenn man das weiß, ist das ja auch völlig okay. Ich finde es viel schlimmer, wenn gerade einige bürgerliche Medien so tun, als wären sie rein objektiv und neutral, die das ganz klar nicht sind. Da doch lieber ein Ulf Poschardt, bei dem völlig offensichtlich ist, für wen er streitet.

Was die Lügen, Falschaussagen und Verzerrungen angeht ist die Grenze ebenfalls fließend. Ist Merz schon ein Lügner, oder übertreibt er nur die Positionen des Gegners in einer Art pointierten Zuspitzung? Die Antwort auf diese Frage hängt vermutlich auch stark vom eigenen ideologischen Standpunkt ab, und genauso wie die eben kritisierten bürgerlichen Medien nicht objektiv und neutral sind, so ist die Idee, dass die Medien hier eine objektiv-neutrale "Einordnung" vornehmen könnten, wie Weissenburger das vorschlägt, völlig irrig. Denn was er als "Einordnung" sieht, dürfte für den der CDU zuneigenden Blogleser hier bereits klar jedem Journalismus hohnsprechender Aktivismus sein. Einen Weg aus diesem Dilemma sehe ich nicht.

4) Why Germany’s 2021 election could be the most significant in decades

 Now questions loom, some of them put off too long under Merkel, about the second chapter. What is the future of the German industrial, fiscal and social model in an age of artificial intelligence, decarbonisation and big data? How can an ageing but more diverse German society find a common identity for the next decades? What role for Germany in a conspicuously half-finished European project and in a world where its security guarantor (the US) and its main trading partner (China) are increasingly in tension? Those are questions whose implications resonate far beyond Germany’s borders. The geopolitics guru Ian Bremmer calls the vote on 26 September “the most consequential global election this year”. He is right. And with big issues comes the potential, at least, for big political upheaval.  The German election, in other words, is both much less predictable and much more significant than it may look. (Jeremy Cliffe, The New Statesman)

Es ist völlig korrekt, dass Deutschland im Jahr 2021 vor Herausforderungen, Fragestellungen und Weichenstellung steht, die für die Zukunft des Landes von größter Bedeutung sind, ganz im Gegensatz zu Wahlen wie 2013 und 2017, wo das nicht in diesem Ausmaß der Fall war. Ich finde es aber schwierig zu sagen, dass die Wahl die wichtigste werden wird, denn wie ich im Podcast ja auch bereits angesprochen habe, sehe ich keine Koalition, die Deutschlands Politik grundsätzlich anders machen würde als die letzten Jahre unter Merkel. Die Wahl 2021 SOLLTE die wichtige in Jahrzehnten sein, aber sie ist es nicht. Das ist das eigentliche Problem.

5) Adam Tooze's Chartbook #29: Afghanistan's economy on the eve of the American exit.

Grasping for some perspective it makes sense to put the last twenty years of Western intervention in Afghanistan in the context of a century of contested and often violent struggle over the country's modernization. On that earlier history, Humanitarian Invasion, by Timothy Nunan is a fascinating read. The revolution of 1978 and the Soviet intervention followed by Western sponsorship of the resistance turned Afghanistan into a battlefield in the late Cold War. It was a conflict of staggering proportions. The figures from Khalidi for the Afghan-Soviet war are conservative. They cover only the period 1978-1987. They add up to a total death toll of 870,000. There are not unreasonable estimates that put overall mortality at twice that level. The scale of this violence in the 1980s dwarfs anything that followed. In 2019, 0.078 of the Afghan population were killed in clashes between government and Taliban forces. In 1984, a staggering 1.35 percent of the Afghan population fell victim to the war in a single year. In relation to population that is 19 times worse than the current casualty rate. I do not cite these figures to excuse or relativize the violence that has followed. More people were killed in Afghanistan in 2019 than at any time since the end of the Afghan-Soviet war. More than during the conquest of the country by the Taliban during the late 1990s. But, the scale of the 1980s cataclysm is staggering. The losses, at between 7 and 10 percent of total prewar population, are in the ball park of those suffered in Eastern Europe and the Balkans in World War II. Only very big wars with large civilian casualties have significant demographic impact. In the 1980s, Afghanistan’s population stopped growing. (Adam Tooze, Chartbook)

In seinem nächsten Beitrag wird Tooze noch genauer, was diese Zahlen angeht. Im übernächsten vergleicht er Haiti und Afghanistan, mit einigen Überraschungen; beide Beiträge seien zur weiteren Lektüre anempfohlen. Absolut faszinierend und erschreckend finde ich allerdings die hier im ersten Beitrag ausgebreiteten Zahlen der sowjetischen Invasion von Afghanistan. Besonders eher linksstehende Personen lieben es gerade darauf hinzuweisen, dass in den 20 Jahren Afghanistan-Einsatz zehntausende Afghanen zu Tode gekommen sind. Aber nie wird auf die Zeit des vorhergehenden Bürgerkriegs (blutiger) und den Kampf gegen sie Sowjets (sehr viel blutiger) verwiesen.

Die Zahlen, die Tooze hier ausbreitet, sind gigantisch. Wir reden hier von Dreißigjähriger Krieg, um einen deutschen Referenzrahmen zu geben, beziehungsweise Zweiter Weltkrieg, wenn wir näher dran bleiben wollen. Das ist Wahnsinn. Und anders als in Europa folgte auf diesen Aderlass nicht eine Periode des "langen Friedens", sondern erst ein blutiger Bürgerkrieg, dann die Taliban-Diktatur, dann ein neuer Bürgerkrieg. Und jetzt bekommt das Land die nächste Welle fundamentalistischer Taliban-Gewalt.

Und ja, sicher, der Kampf gegen die Sowjets wurde durch die US-Unterstützung der Mudjaheddin intensiviert. Aber glaubt jemand nach 20 Jahren NATO-Einsatz ernsthaft, die Rote Armee hätte "gewonnen" (was auch immer das heißt), wenn die USA nicht Waffen geliefert hätten? Ist ja auch nicht so, als wären die Taliban nicht von außerhalb versorgt worden. Aber relevanter in dem Zusammenhang ist die massive Gewalt, die von der Roten Armee ausging. Das ist effektiv ein Geonzid. Da darf man die NATO-Zeit gerne in Relation dazu setzen und nicht so tun, als wäre die NATO das Schlimmste, was Afghanistan in den letzten vier Dekaden passiert wäre.

6) Inside Fox News, DeSantis is ‘the future of the party.’ And he’s taking advantage.

The details of this staged news event were captured in four months of emails between Fox and DeSantis’ office, obtained by the Tampa Bay Times through a records request. The correspondences, which totaled 1,250 pages, lay bare how DeSantis has wielded the country’s largest conservative megaphone and show a striking effort by Fox to inflate the Republican’s profile. From the week of the 2020 election through February, the network asked DeSantis to appear on its airwaves 113 times, or nearly once a day. Sometimes, the requests came in bunches — four, five, even six emails in a matter of hours from producers who punctuated their overtures with flattery. (“The governor spoke wonderfully at CPAC,” one producer wrote in March.) There are few surprises when DeSantis goes live with Fox. “Exclusive” events like Jan. 22 are carefully crafted with guidance from DeSantis’ team. Topics, talking points and even graphics are shared in advance. Once, a Fox producer offered to let DeSantis pick the subject matter if he agreed to come on. By turning to DeSantis to fill the many hours of airtime once devoted to former President Donald Trump, Fox has made Florida’s hard-charging leader one of the country’s most recognizable Republicans. That has given DeSantis a leg up on others who may seek the party’s nomination for president in 2024. A recent nationwide poll of Republican voters put DeSantis atop the field if Trump doesn’t run again. No other prospective candidate was close. [...] It is not clear which came first after Trump lost — Fox’s focus on DeSantis or his meteoric rise. But internally, Fox producers acknowledge, in no uncertain terms, just how the network views DeSantis. One producer told DeSantis’ team it was the mission of Fox’s midday host, Martha MacCallum, to “look forward and really spotlight the STARS of the GOP” and “she named Gov. DeSantis as one.” Another put it this way in an email to Beatrice: “We see him as the future of the party.” Fox News owns a significant space in DeSantis’ swift political ascent. It was through Fox that Trump discovered DeSantis — a little-known congressman from the Jacksonville suburbs who became one of the president’s fiercest allies. An endorsement for governor soon followed, paving the way for DeSantis’ takeover of Tallahassee. (Steve Contorno, Tampa Bay Times)

Zumindest zum heutigen Stand sieht es so aus, als ob deSantis der frontrunner im Rennen um die republikanische Kandidatur 2024 werden würde, jedenfalls solange Trump nicht selbst wieder antritt. Offensichtlich ist jedenfalls, dass die rechte Hetzmaschinerie der republikanischen Prawda, FOX News, sich auf ihn festgelegt hat. Nicht, dass der Laden irgendwelche Loyalität kennen würde - die lassen deSantis, genauso wie die Wählendenschaft, im Zweifel schnell fallen.

Wichtiger als die Person selbst ist der Typus, der die GOP dominiert. Es zeigt sich, dass meine Analysen richtig waren: es ist nicht (nur) Trump, es ist die Partei. Alle, die ständig gebetsmühlenartig betont haben, dass die Republicans natürlich eine demokratische Partei sind, dass es nur einige bad eggs seien und so weiter, liegen schlicht falsch. Nirgendwo wird dies klarer als am Verhalten der Republican hopefuls selbst, die sich mit extremistischen Äußerungen und clownhaften Aktionen gegenseitig zu überbieten versuchen. Es gibt keine moderaten Republicans mehr.

7) Das Erbe von Deutschlands braunen Gesetzgebern

Dennoch druckte und verbreitete der Verlag C.H. Beck nach dem Krieg den »Palandt« mit der Rechtfertigung, Palandt sei bereits 1948 in der britischen Besatzungszone entnazifiziert worden. »Entscheidend für uns ist“, so der Verlag, »dass der Name des Werkes schon früh losgelöst von der Person ein Eigenleben entwickelte und sich über mehrere Generationen hinweg in Wissenschaft und Praxis etabliert hat«. So blieb es über Jahrzehnte. Bis heute, mittlerweile in der 80. Auflage. Nun also soll der »Palandt« nicht mehr Palandt heißen. Bleibt die Frage: Warum erst jetzt? »Geschichte kann man nicht ungeschehen machen. Deshalb haben wir zunächst die historischen Namen beibehalten«, erklärt Verleger Hans Dieter Beck. Aber »um Missverständnisse auszuschließen«, so der Verleger, habe man sich nun dazu entschlossen, dieses und auch andere »Werke mit Namensgebern, die in der NS-Zeit eine aktive Rolle gespielt haben, umzubenennen«. Als Grund, warum das erst jetzt geschehe, sagt Beck: »In Zeiten zunehmenden Antisemitismus ist es mir ein Anliegen, durch unsere Maßnahmen ein Zeichen zu setzen«. [...] Die Generation der Täter und die ihrer Nachfolder schlossen gewissermaßen einen generationsübergreifenden Pakt: eine Komplizenschaft, die auf eine konsequente Ausgrenzung, Strafverfolgung und Verurteilung verzichtete. Die Ära Adenauer als der große Friede mit den Tätern, Mitläufern und Wegsehern. In Ministerien und Gerichtssälen hielten ehemalige Parteigänger und Funktionsträger wieder Einzug, auch in den juristischen Fakultäten der Universitäten. Das alles ist bekannt – und wird gerne vergessen. (Helmut Ortner, Salonkolumnisten)

Besser spät als nie, soviel ist mal sicher. Aber es gibt so viele Bereiche, in denen die Zeit des Nationalsozialismus nicht oder nur unzureichend aufgearbeitet wurde. Wir hatten das Thema erst letzthin im Vermischten. Da stecken sehr viele Sensibilitäten dahinter, die versuchen, sich sauber zu halten, und die lange durch Zeitzeug*innen verdeckt wurden. Klar ist Palandt schon lange tot, aber sehr lange gab es eben Leute, die von ihm und den entsprechenden Nachkommen geprägt waren. Und niemand will da in einer Traditionslinie stehen, da versucht man dann lieber, das wegzurelativieren. Aber dank unermüdlicher Aktivist*innen werden diese Dinge auch heute noch aufgedeckt und neu thematisiert, und man kann dann endlich von dem Mist weg.

8) No Party Ever Tried What the Democrats Are Trying Now

After President Barack Obama enacted his roughly $800 billion stimulus package (about $1 trillion in today’s dollars), Michael Grunwald wrote a book christening it The New New Deal. “In constant dollars,” Grunwald calculated, “it was more than 50 percent bigger than the entire New Deal, twice as big as the Louisiana Purchase and Marshall Plan combined.” The proposal from today’s Democrats is 3.5 times bigger than that. Grunwald argued that Obama’s stimulus went beyond short-term crisis measures, citing a wide range of visionary investments, from genome sequencing to electronic health care recordkeeping to advanced battery development. In retrospect, though, it was largely incrementalism, albeit incrementalism on steroids. Biden is trying to lock down huge new programs that would directly alter daily life, which is more like the Old New Deal than the New New Deal. Not even FDR tried to wrap Social Security, the National Labor Relations Act, the Banking Acts, the Securities Act, the National Industrial Recovery Act, and the Relief Appropriation Act into a single bill. Nor did LBJ did try to bundle the Civil Rights Act, the Fair Housing Act, the Voting Rights Act, the Economic Opportunity Act, the Elementary and Secondary Education Act, the Food Stamp Act, the Urban Mass Transportation Act and the creation of Medicare and Medicaid. Look at what Biden is trying to do in one fell swoop: free preschool; free community college; long-term eldercare through Medicaid; new dental, hearing and vision benefits in Medicare; lower drug costs from new Medicare bargaining power; quasi-permanent extension of the recently expanded child tax credit; major green energy and climate mitigation investments; a pathway to citizenship for undocumented immigrants; and a tax code revamp to extract more revenue from the wealthy and corporations. This is not an exhaustive list. (Bill Scher, Washington Monthly)

Worüber Scher in seinem Artikel völlig hinwegweht, ist der Grund, warum die Democrats, anders als etwa Obama 2009/2010 oder Roosevelt in den frühen 1930er Jahren alle ihre Vorhaben in ein einziges, monumentales Gesetzeswerk gießen, mit all den Gefahren und Problemen, die das mit sich bringt: durch die Obstruktionshaltung der Republicans und die völlig aus dem Ruder gelaufene Anwendung des fillibuster ist es mittlerweile die ungeschriebene Regel des Politikbetriebs, dass ein demokratischer Präsident exakt ein Gesetz pro Jahr verabschieden lassen kann - über den Prozess der budget reconciliation, bei der eine einfache Mehrheit genügt. Dass es gelungen ist, einige Republicans für die infrastructure bill zu gewinnen, ist bemerkenswert genug. Aber da waren die Anreize für die eigenen Wahlkreise dann doch unwiderstehlich.

9) American government is heading for a climate-induced legitimacy crisis

Traditionally, when a government fails to address a giant, looming threat, it raises the chance of revolution. Now, such an event is quite scary, and both conservative and moderate forces have spent generations whipping up fear of Jacobins and guillotines. This leads to a common misconception, though — that revolutions are the result of people deciding to overthrow the government. As listeners of historian Mike Duncan's excellent Revolutions podcast can tell you, this gets the causality (mostly) backwards. Actions from revolutionaries of course do matter, but the primary causal factor in virtually every revolution in history has been the rottenness and incompetence of the status quo political regime. If a government can ensure a modicum of economic prosperity and keep a solid grip on the armed forces, revolutions almost never have a chance. [...] It follows that if one fears revolution, then by far the most important thing to do is to make the extant political system function. This was one of Franklin Roosevelt's main motivations for the New Deal — as historian Eric Rauchway writes in his book Winter War, FDR worried that if the Great Depression was not cured somehow, then either fascists or communists might topple the government. "The millions who are in want will not stand by silently forever while the things to satisfy their needs are within easy reach," he said in a 1932 campaign speech. (Ryan Cooper, The Week)

Das ist bei weitem kein amerikanisches Problem. Ich erwarte in näherer Zukunft keine Revolution, weder in den USA noch hier in Deutschland (oder Europa), aber der Legitimationsverlust der Regierungen ist erschreckend hoch. Das betrifft ja nicht nur die Klimakrise; wir haben es im Verlauf der Corona-Pandemie auch gesehen. Der Ursachenmix dafür ist vielfältig, aber sehr ähnlich in allen westlichen Demokratien. Die große Gefahr ist, dass wenn sich aus dem unambitionierten Mix von Un-Zumutungen (siehe Fundstück 10) dann doch mal jemand mit der nötigen Verve erhebt, die Problem anzugehen, die Legitimation dafür fehlt. Winter War habe ich übrigens hier besprochen.

10) Wie zerbrechlich ist die Demokratie?

An Laschets Strategie der Zumutungslosigkeit haben sich alle anderen Parteien angepasst, auch die Grünen. Die sind bei der Klimapolitik zwar notgedrungen ehrlicher als andere. Aber auch sie sagen nicht, was wirklich auf die Menschen zukommt. Wann immer sie ein halbwegs offenes Wort gesprochen haben, waren denn auch Geschrei und Empörung auf der politischen Gegenseite groß. [...] Am Ursprung der Demokratie lag häufig der Wille der Regierenden, die Bürger in die Pflicht zu nehmen. Denn die Mächtigen wussten spätestens seit der Französischen Revolution und den erfolgreichen Feldzügen des napoleonischen Heeres: Ein moderner Staat lässt sich nicht mehr ohne die Bevölkerung machen; die Menschen sollten loyal sein, zuverlässig ihre Steuern bezahlen, Solidarität entwickeln, treue Soldaten werden. Zumutung um Zumutung. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts der pommersche Aufklärer Gustav von Schlabrendorf dem preußischen Reformer Freiherr vom Stein herausfordernd erklärte, kein Staat käme mehr ohne republikanische Gesinnung aus, stimmte dieser gelassen zu und ergänzte: "Wir nennen’s Gemeinsinn." Die Republik erfordert es, über den eigenen Kreis hinauszudenken, das "Gemeinwohl" im Blick zu haben – eine anspruchsvolle, eine anstrengende Übung. [...] Der Parlamentarismus schließlich ist das Gehäuse all dieser Zumutungen. Er entlastet zwar die Bürgerinnen und Bürger, indem die Abgeordneten die zahlreich anstehenden politischen Entscheidungen übernehmen, doch zugleich muss die Bevölkerung diese Entscheidungen akzeptieren. Denn im repräsentativen System können die vom Volk gewählten Abgeordneten Entscheidungen gegen das Volk treffen. Auch schroffe Belastungen. Das ist sogar ihre Pflicht. So wie das Volk berechtigt ist, sich über diejenigen zu beklagen, die es gerade erst gewählt hat, so sehr ist es das Recht und die Aufgabe der Gewählten, auf Zeit auch gegen die Mehrheitsstimmung zu regieren. Dieses Verfahren befördert strukturell Veränderungen. Innerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens müssen die Abgeordneten die Welt gestalten, mutig sein, Korrekturen und Reformen angehen und der Bevölkerung die Mühen plausibel machen. (Hedwig Richter/Bernd Ulrich, ZEIT)

Ich empfehle unbedingt, den ganzen Artikel zu lesen, er ist es in meinen Augen absolut wert. Ich konnte hier nur Auszüge dokumentieren. Die Betonung von "Gemeinwohl" und "Gemeinsinn", über die Richter und Ulrich hier schreiben, ist ja tatsächlich seit Längerem außer Mode, selbst bei den linken Parteien (bei den Liberalen seit jeher; "no such thing as society" und so weiter, und bei der CDU auch).

Der Vergleich mit der Wehrpflicht als Bedingung beziehungsweise Ursache für Demokratie ist eine These, die Hedwig Richter in mehreren ihrer jüngsten Werke aufgemacht hat, wohl nicht zu Unrecht, historisch betrachtet. Ich frage mich, was das zeitgenössische Äquivalent wäre. Ich halte ja wenig von der Einführung eines allgemeinen Pflichtdiensts (da bin ich zu liberal für), und dem stünden ja, anders als im 19. Jahrhundert, auch keine Ausweitungen der Bürgerrechte entgegen. Wenn da jemand Ideen hat, bin ich gespannt.

Der letzte von mir zitierte Absatz hier über die Zumutung, dass die gewählten Repräsentant*innen eben Politik machen, die man nicht immer gut findet, gehört in das Gebiet meines "pet peeve" (kenne keine deutsche Entsprechung), dass die Leute alle nicht wissen, wie Demokratie funktioniert. Es wäre echt viel geholfen, wenn da nicht immer derselbe Bullshit verbreitet würde, aber ich fürchte, das können sowohl Menschen wie ich als auch qualifiziertere und promintere Personen wie Richter noch so oft sagen, das kommt einfach nicht an.

11) E-Bikers Ride Much Farther and More Frequently Than Regular Bikers

I have tried to make the case that e-bikes are often used differently than regular bikes, that people use them more often and go much farther, and have quoted a study which finds that e-bike riders get as much exercise as riders of regular bikes because they ride farther. Now a new study, "Do people who buy e-bikes cycle more?" gives us real numbers, and they are huge. Not only that, but the e-bikes are replacing cars more than they are replacing bikes. [...] The people who bought e-bikes increased their bicycle use from 2.1 kilometers (1.3 miles) to 9.2 kilometers (5.7 miles) on average per day; a 340% increase. The e-bike's share of all their transportation increased dramatically too; from 17% to 49%, where they e-biked instead of walking, taking public transit, and driving. The researchers call this the "e-bike effect," but worried that people might be riding so much because they just bought the bike and there is the novelty of it, so they are using it a lot, similar to what happens when people buy fancy gym equipment. They discounted this because in fact, people rode their e-bikes more the longer they had them; "it confirms previous findings indicating that people tend to go through a learning process where they discover new trip purposes for where to use the e-bike." (Lloyd Alter, Treehugger)

Inhaltlich besteht hier eine gewisse Verwandtschadt zu Fundstück 1: Obwohl es wissenschaftlich völlig klar ist und noch dazu rein von der Kohärenz zu der sonstigen Linie von CDU und FDP passen würde - das Angebot bestimmt die Nachfrage - weigert man sich beharrlich, die Fakten anzuerkennen. Stattdessen bleibt es die nicht nur wirklichkeitsfremde, sondern aktiv schädliche Forderung der CDU aus dem Wahlprogramm, einfach mehr Straßen zu bauen, was angesichts der jüngsten Katastrophen - Stichwort Flächenversiegelung - und der Notwendigkeit zur Eindämmung des Individualverkehrs völlig absurd ist. Es braucht Fahrradwege und Fahrradinfrastruktur, und wenn die existiert, werden mehr Menschen auf den Drahtesel umsatteln. Ich sage das mit besonderem Schmerz als jemand, der nahe an Stuttgart wohnt, eine besonders fahrradunfreundliche Stadt, deren sprichwörtliche Hässlichkeit durch die täglichen Blechlawinen nicht eben verbessert wird.

Mittwoch, 18. August 2021

(K)ein erfolgreiches Nation-Building: Deutschland und Japan nach 1945

 

Wenn die Rede auf das so genannte Nation Building kommt - also der Versuch, als Besatzungsmacht einen demokratischen Staat aufzubauen - wird gerne auf die positiven Beispiele der Bundesrepublik Deutschland nach 1945/49 und Japan 1945/46 verwiesen. Länder, die die Welt mit Krieg überzogen und mörderische Regime hervorgebracht hatten, verwandelten sich in stabile Demokratien, die eine tiefe pazifistische Grundeinstellung hegten und den Pazifismus sogar in der Verfassung verankerten, nachdem sie beide zuvor als Inkarnationen des Militarismus gegolten hatten: hier das Erbe des preußischen Militärstaats, dort das Erbe von bushido und den Samurai. Gerne wird dann darauf verwiesen, dass die Besatzungstruppen hier Jahrzehnte im Land blieben beziehungsweise immer noch da sind, um auf den großen Zeithorizont des Nation Building zu verweisen. Dieser Vergleich führt aber aus mehreren Gründen in die Irre und ist wenig dazu angetan, irgendwelche Lektionen für Mali, Afghanistan, Irak oder andere solche Staaten zu bieten.

Das beginnt bereits direkt bei den Fakten. Die Besatzungszeit war jeweils nicht besonders lang: in Japan endete sie bereits 1952, in Deutschland vor allem aus außenpolitischen Gründen 1955 (ohne die französischen innenpolitischen Hindernisse wäre das Ende ansonsten eher 1953/54 erfolgt). Die Vorbehaltsrechte der Alliierten, die ein Eingreifen gegen einen möglichen rechten oder linken Putschversuch gestatteten, endeten 1968 mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze und waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit über einem Jahrzehnt ein Relikt, auf dessen Abschaffung die Alliierten selbst wesentlich energischer drängten als die Deutschen, die im innenpolitischen Streit die Verabschiedung von Notstandsgesetzen über zehn Jahre verzögerten.

Seither sind die alliierten Truppen - und das bedeutet, abgesehen von kleinen Pro-Forma-Kontingenten, sowohl im deutschen als auch im japanischen Fall vorrangig US-Truppen - als Freunde im Land. Die Basen, die sie nutzen, wurden ihnen in bilateralen Verträgen überlassen, in denen alle Details von der Einfuhr der Amazon.com-Bestellung bis hin zur Nutzung des Luftraums geregelt wurden. Deutschland wie Japan sind zentrale Drehscheiben und Standorte für die US-Armee; so ist Japan für die US-Flottenpräsenz in Pazifik unverzichtbar und fungiert als "unsinkbarer Flugzeugträger" und Sicherheitsanker für die ganze Region (ohne Japan könnten die USA etwa Südkoreas Sicherheit bei weitem nicht im selben Ausmaß garantieren, mit unabsehbaren Folgen für die Region); Deutschland enthält neben dem Flughafen Rammstein, der größten US-Basis außerhalb des Kernlands, das Afrika-Kommando und diverse Drohnensteuerungseinheiten. Man muss nur sehen, wie wenig Begeisterung im US-Militär für Trumps Truppenabzugspläne aus Deutschland bestand, um seine Wichtigkeit feststellen zu können.

Das macht Deutschland und Japan zu Partnern der USA, nicht zu Reparaturprojekten. Die USA haben ein konkretes Interesse an Deutschland und Japan, das perspektivisch über Jahrzehnte reicht. Ein Land wie Afghanistan dagegen hat nichts, das die USA interessiert. Die Anwesenheit hier war ein rein politisches Projekt, definiert einerseits durch das negative Bestreben, Afghanistan als Terrorbasis auszuschalten als auch andererseits durch den politischen Druck, nicht der Präsident zu sein, der den Abzug zu verantworten hat. Aber praktischen Nutzen und die damit einhergehende vertrauensvolle Zusammenarbeit gibt es nicht.

Doch das sind vergleichsweise unbedeutende, externale Gründe. Sie könnten durch genügend Engagement der USA theoretisch gesehen ausgeglichen werden. Aber Deutschland und Japan sind aus wesentlich tiefgreifenderen Gründen keine guten Vergleichsmaßstäbe.

Das liegt daran, dass beide Länder eine sehr lang zurückreichende liberale und demokratische Tradition besitzen. Der offensichtlichere Fall hier ist Deutschland. Seit spätestens 1813 können wir hier ein national und liberal orientiertes Bürgertum ausmachen. Demokratie, Nationalstaat und Rechtsstaat gehörten damals noch untrennbar zusammen (und sollten erst nach 1848 durch die Spaltung der Liberalen getrennt werden). Zwar scheiterten die Liberalen und Demokraten mit der Umsetzung ihrer Ideale sowohl 1814/15 als auch 1848 und 1871. Aber sie waren stets eine starke Kraft in Deutschland. Ab den 1870er Jahren wurden sie noch durch die ebenfalls unzweifelhaft demokratische Sozialdemokratie ergänzt, die spätestens mit dem Gothaer Parteitag auch den bürgerlichen Rechtsstaat bejahte.

Zwischen 1917 und 1930 wurde das Land zudem parlamentarisch regiert. Eine komplette Generation wurde demokratisch sozialisiert (auch wenn leider viele sich wieder von der Demokratie abwandten). Als die Alliierten 1945 einmarschierten, standen diese Leute bereits in den Startlöchern. Sie hatten sich teilweise bereits aktiv auf den Tag X vorbereitet, ihn teilweise auch nur herbeigesehnt. Aber kaum war die Naziherrschaft beseitigt, gründeten sich Ortsgruppen der alten Parteien: SPD, Liberale, Bürgerliche. Die Alliierten mussten diese Demokraten, die mit ihnen zusammen ein neues Deutschland aufbauen wollten, bremsen (und im sowjetischen Fall unterdrücken), um ihre eigenen Ziele umzusetzen. Der Kalte Krieg entfesselte dieses Potenzial dann vollständig.

Das heißt nicht, dass die Mehrheit der Deutschen 1945 demokratisch gewesen wäre. Aber ihre Zahl geht in die Millionen, und was noch viel wichtiger ist, sie konnten auf eine tiefe Kaderstruktur zurückgreifen, die nicht nur bis in die Weimarer Republik, sondern sogar bis ins Kaiserreich zurückreichte. Adenauer schließlich hatte seine politische Karriere noch in der Wilhelminischen Glanzzeit begonnen und war zwei Jahre älter als Gustav Stresemann, das Urgestein der Weimarer Republik! Selbst die Sowjets konnten auf eine recht große Zahl überzeugter Kommunisten und Sozialisten zurückgreifen, die bereit waren, das neue Deutschland unter sozialistischen Vorzeichen zu errichten (wenngleich wesentlich weniger breit verankert und erfolgreich als ihre demokratischen Gegenstücke im Westen).

In Afghanistan, um bei diesem Beispiel zu bleiben, fanden weder die Sowjets 1979 noch die NATO 2001 auch nur im Ansatz vergleichbare Strukturen vor.

In Japan ist der Fall etwas komplizierter. Das Land war nie vollständig demokratisch, wie es die Weimarer Republik gewesen war, es war allerdings sehr wohl ein liberales, parlamentarisches Staatssystem. Die auf dem britischen Westminster-Modell basierende Meiji-Verfassung stammt aus dem Jahr 1889 und ist damit nur rund 25 Jahre jünger als die Reichsverfassung. In den 1920er Jahren war Japan ein liberaler Musterstaat (wie ich hier ausführlicher thematisiert habe). Erst die Antwort auf die Weltwirtschaftskrise, bei der Japan, ähnlich wie Deutschland, sein Heil in territorialer Expansion zu finden glaubte, sorgten in den 1930er Jahren für eine starke Erosion des parlamentarischen Systems, die aber erst zu Beginn der 1940er Jahre durch einen Putsch abgeschlossen wurde. Fünf Jahre später stießen die Besatzungstruppen daher problemlos auf Kader, die zum Aufbau eines modernen Japan nicht nur fähig, sondern auch nur allzugerne bereit waren (es gehört zu den Perversionen der autokratischen Militärdiktatur, dass sie genau jene Kader identifizierten und bevorzugt als Kamikaze-Piloten rekrutierten, um genau diesen Aufbau zu verhindern).

Das einzig wirklich erfolgreiche Nation Building findet sich daher eigentlich in Südkorea. Und dieses war eher unbeabsichtigt. Der erste, parlamentarisch legitimierte Präsident Rhee Syng-Man war ein Autokrat, der die zarte Pflanze des Parlamentarismus beinahe zusammenstampfte. Nach seinem Rücktritt 1960 regierte für ein knappes Jahr die ersten und einzige parlamentarische Regierung jener Jahre, bevor 1961 Park Chung-Hee an die Macht putschte, der bis zu seiner Ermordung 1979 das Land als Diktatur führte. Weitere Diktatoren folgten bis 1987, als Roh Tae-Woo anbot, eine demokratische Verfassungsreform durchzuführen. Die USA hatten nie ein Problem, dass Südkorea eine Diktatur war; es diente als Bollwerk gegen den kommunistischen Nachbarstaat. Die südkoreanische Erfolgsstory als demokratischer "Tigerstaat" begann erst Ende der 1980er Jahre und eher als Zufallsprodukt, sicherlich nicht als Resultat der bis dahin bereits vier Jahrzehnte andauernden Stationierung von US-Truppen.

Es ist daher schwierig, diese drei Fälle als Vergleiche anzubringen, um Nation Building als aussichtslos oder erfolgversprechend (beides sind ironischerweise Lesarten dieses Vergleichs) abzuqualifizieren. So interessant die Nachkriegsgeschichte aller drei Staaten auch ist, um Umgang mit Mali, Afghanistan oder Libyen bieten sie praktisch keine Lektionen, die wir nutzen könnten. Hier steht ein erfolgversprechender Ansatz noch aus. Das bedeutet nicht, dass Nation Building und die Verbreitung westlicher Werte automatisch eine dumme Idee sind, und dass man die oft furchtbaren Zustände dieser Länder quasi als natürliche Lebensform dieser Menschen annehmen sollte. Aber es hilft eben wenig, auf die Bonner Republik zu verweisen, wo die Ausgangsbedingungen so offensichtlich andere waren.

Sonntag, 15. August 2021

Der große Verrat

 

Die Taliban stehen nur noch Tage vor der kompletten Eroberung Afghanistans. Seit dem Abzug der letzten NATO-Truppen im Juni haben sie einen unaufhaltsamen Vormarsch hingelegt. In rascher Folge fielen die Außenposten wie Mazar-el-Sharif und Kandahar, die die letzten zwanzig Jahre, wenn Afghanistan in den Nachrichten auftauchte, im Zentrum standen. Die afghanische Armee, zwanzig Jahre lang mit unzähligen Milliarden und unter großem Beratungsaufwand aufgebaut, fiel zusammen wie ein Kartenhaus, noch schneller als die irakische Armee angesichts des Vormarsch des IS anno 2014. Der afghanische "Präsident", Aschraf Ghani, verkündete bereits am 14.08.2021, er wolle keine Schritte unternehmen, die "nutzlos Leben fordern", was einer Kapitulationserklärung gleichkommt. Das Spektakel überraschte in seiner Geschwindigkeit, aber nicht in seinem Ablauf. Niemand rechnete ernsthaft damit, dass die Taliban nicht zumindest einen Großteil des Landes erobern würden. Schon unter der NATO-Militärpräsenz war es nie gelungen, das Land auch nur ansatzweise der Kontrolle der Regierung in Kabul zu unterwerfen; nun war bestenfalls darauf zu hoffen, dass einige urbane Zentren längerfristig standhalten würden, während der Großteil der ländlichen Regionen in der Düsternis der fundamentalistischen Taliban-Herrschaft versinken würde.

Entsprechende Voraussagen waren kein Geheimnis. So wurde in der amerikanischen Debatte über den Abzug viel darüber debattiert, dass die afghanische Luftwaffe - ausgestattet und trainiert von der US Air Force - keine sechs Monate flugfähig bleiben konnte, weil mit dem Abzug der Amerikaner auch die contractors das Land verließen, die für die Wartung der Maschinen zuständig und notwendig waren. Dieses spezifische Problem stellt sich nun als irrelevant heraus. Ein Zeitraum von sechs Monaten ist wesentlich zu großzügig gerechnet. Dies überrascht offensichtlich die Planer*innen in allen westlichen Ländern (und, man darf vermuten, auch die Beobachtenden in anderen Nationen und vermutlich die Taliban selbst).

Die Gründe dafür sind Legion. Letztlich aber sind sie gerade in ihrer Vielzahl die eigentliche Botschaft. Kevin Drum hat einige Analysen der führenden Zeitungen zusammengetragen und kam auf die folgende Liste an Gründen:

  • Hubristic nation building.
  • Starry-eyed constitution writing.
  • Wildly unrealistic military training.
  • Vast corruption.
  • Lack of food and weapons for Afghan soldiers.
  • Bad negotiating from the Trump administration.
  • Afghan leadership void.

I'm glad everyone is finally able to admit this now that the war is over, but it sure sounds like it's been common knowledge for at least a decade. This is why I think it's folly to suggest that things would have been any different if we'd waited another six months before withdrawing.

Das kann man wohl unterschreiben. Tatsächlich ist mir niemand persönlich bekannt, der daran geglaubt hätte, dass der Afghanistan-Einsatz zu einer dauerhaften Stabilisierung des Landes führen würde. Dass das Land nach dem Abzug der NATO-Truppen wieder an die Taliban fallen würde, zumindest zu großen Teilen, galt als ausgemacht und gehörte ja mit zum Repertoire der ständigen Rechtfertigungen der Verlängerung des Einsatzes: wenn man ginge, entstünde eine Katastrophe, also müsse man bleiben. Das Schlimme ist, dass das ja offensichtlich stimmte. Es ist müßig darüber zu sinnieren, wann der "richtige Moment" für den Abzug kam. Die Neocons argumentieren bereits eine neue Dolchstoßlegende herbei, etwa der Erz-Neocon Robert Kagan am 13.08.2021 in der New York Times, der sich nicht entblödete, unter der Überschrift "Joe Biden could have stopped the Taliban. He chose not to" dem Präsidenten die Schuld an den Geschehnissen zu geben und zu erklären, dass sechs weitere Monate der Stationierung ganz bestimmt die Wende gebracht hätten. Einen "richtigen Moment" für den Abzug gab es nie und hat es nie geben können.

Ich würde an der Stelle gerne darauf verweisen, dass die Lektionen des Afghanistan-Einsatzes Politik und Medien sicherlich noch lange beschäftigen werden, aber das ist eher unwahrscheinlich. Stattdessen ist offensichtlich, dass die westlichen Gesellschaften ihre Hände so schnell wie möglich in Unschuld waschen und diese 20 Jahre verdrängen wollen. Letztlich ist es das, was wir die letzten zwei Dekaden auch gemacht haben. Afghanistan spielte in der Innenpolitik, abgesehen von einigen wenigen Momenten, in denen es kaum zu ignorieren war - etwa beim Karfreitagsgefecht 2010 - keine Rolle. Die Verlängerungen des Afghanistan-Mandats waren rituell, sowohl weil es keine echte Alternative gab als auch, weil das Heft des Handelns ohnehin nicht bei Deutschland lag, wie man ja auch beim Abzug gesehen hat. Sowohl die Entscheidung zum Abzug als auch der Zeitplan waren komplett von den USA diktiert, und die Bundeswehr hätte nicht länger bleiben können, selbst wenn sie es gewollt hätte (noch früher abziehen).

Und was für ein Abzugsplan das war! Noch unter Trump war die geschmacklose Entscheidung getroffen worden, den Abzug spätestens zum Datum des 11. September 2021, dem zwanzigsen Jahrestags der Anschläge auf das World Trade Center, abgeschlossen zu haben. Die Signalwirkung war deutlich; es handelte sich um eine komplette Interpretation des Einsatzes um die Eigenperspektive der USA, von Anfang bis Ende, in der Afghanistan und das afghanische Volk keinerlei Rolle spielten. Joe Biden gelang es, diese Geschmacklosigkeit noch zu überbieten, indem er den Abzug beschleunigte und auf "vor den 4. Juli 2021" legte, der als amerikanischer Unabhänigkeitstag keinerlei Bezug zu Afghanistan hat, aber einen amerikanischen Triumph insinuiert.

Die USA immerhin haben sich nicht in die Tasche gelogen, was das Schicksal Afghanistans anging, und die mit ihnen verbündeten Ortskräfte vergleichsweise großzügig evakuiert. Sicherlich hätten sie mehr tun können, aber sie retteten eine fünfstellige Zahl von Menschen zusammen mit ihren eigenen Truppen. Demgegenüber verhielten sich die europäischen Verbündeten wesentlich schlechter. Großbritannien etwa weigert sich, Ortskräfte zu evakuieren, die nicht direkt von der Regierung, sondern von contractors angeheuert wurden, weil man mit denen ja nichts zu tun habe. Die ohnehin bedenkliche Privatisierung des Krieges zeigt sich hier von ihrer zynischsten Seite.

Aber auch das Verhalten des Vereinigten Königreichs verblasst gegenüber dem massiven Verrat, den Deutschland an seinen Ortskräften begeht. Man versinkt vor Scham im Boden gegenüber dem, was unsere Regierung fabriziert. Noch vergangene Woche (!) bestand etwa Innenminister Seehofer darauf, afghanische Flüchtlinge in ihr Heimatland abzuschieben und fabulierte von "sicheren Zonen", die dies ermöglichten. Nun, nur Tage später, sind sowohl Mazar-el-Sharif als auch Kabul selbst gefallen, der afghanische Präsident und sein Vize geflüchtet und die zurückgelassenen Ortskräfte verstecken sich in Todesangst in den Häusern von Freunden und Verwandten und schreiben verzweifelte Nachrichten an ihre ehemaligen deutschen Kolleg*innen.

Dieses bedenkenloses Zurücklassen von Ortskräften hat System. Anders als die meisten anderen NATO-Länder weigerte sich die Bundesregierung, Vorkehrungen für die Rettung und Aufnahme von Ortskräften zu treffen. Obwohl der Bundestag bereits 2012 (!) erstmals die Regierung dazu aufforderte, wurde dies nicht getan; gleichwohl behaupteten die entsprechenden Stellen, diese Vorkehrungen getroffen zu haben - eine glatte Lüge. Noch am 23. Juni beschloss der Bundestag mit den Stimmen von CDU, SPD und AfD, keine afghanischen Ortskräfte aufzunehmen. Das Kalkül scheint gewesen zu sein, dass die Taliban langsam vorrücken und bis zum Jahreswechsel brauchen würden, um das Land zu erobern, so dass das Thema aus dem Bundestagswahlkampf herausgehalten und zum Problem der nächsten Regierung gemacht werden konnte, eine widerwärtige Verantwortungslosigkeit sondersgleichen, die aber zum Charakter gerade Horst Seehofers passt.

Die Verantwortung für das Afghanistan-Debakel ist aber eine überparteiliche. Der Krieg begann unter einer rot-grünen Regierung, die die Weichen für die Dauer-Anwesenheit stellte (wenngleich der Wandel des Mandats in Richtung nation building erst in die Regierungszeiten Angela Merkels fiel). Er wurde auf Autopilot unter Schwarz-Gelb weitergeführt, während deren Regierungszeit das größte militärische Debakel, das Karfreitagsgefecht, stattfand, und er wurde unter Schwarz-Rot ebenso auf Autopilot ständig weiterbetrieben und abgenickt. Es ist äußerst unglaubwürdig zu behaupten, dass irgendeine deutsche Regierung der vier etablierten Parteien diese Politik irgendwie anders gestaltet hätte; zu groß waren wie gesagt die Pfadabhängigkeiten einerseits und die technisch-logistischen Abhängigkeiten von den USA andererseits. Nicht mit Ruhm bekleckert hat sich aber auch die LINKE, die zwar beständig ablehnte, die Mandate zu verlängern und den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan forderte, aber nie eine Antwort dafür parat hatte, wie das mit den Verbündeten bewerkstelligt werden sollte (wobei fairerweise die dadurch ablaufende Sabotage der deutschen NATO-Mitgliedschaft im Interesse der Partei wäre...) oder was danach mit Afghanistan geschehen sollte. Und die AfD forderte zwar auch gerne populistisch ein Ende des Einsatzes, beschränkte sich aber ansonsten gerne darauf, so hart wie möglich mit den Flüchtlingen umzugehen.

Nein, Deutschland hat sich unglaublich schlecht verhalten, als ganze politische Einheit. Das Geschrei der letzten Tage, die Bundeswehr möge mit Shuttle-Flügen rund 20.000 Ortskräfte evakuieren, ist bestenfalls naiv, schlimmstenfalls zynisch. Die Bundeswehr hat dazu überhaupt nicht die Mittel. Und mit dem Fall Kabuls und der offiziellen Kapitulation der aghanischen Regierung ist ohnehin jede Basis dafür zerstört. Die Bundesregierung hat im Juni, im Juli und im August sehenden Auges beschlossen, diese Menschen einem grauenhaften Tod in den Händen der Taliban zu überlassen. Mögen Maas und Seehofer dafür in der Hölle schmoren.

Donnerstag, 5. August 2021

Friedrich Merz kauft chinesische Häfen und geht mit Baseler Appelationsrichtern durchs Humboldtforum - Vermischtes 05.08.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Merkels Eingeständnis: Klimapolitik wider besseres Wissen

Was heute passiert, ist aber harmlos gegen das, was kommt. Die Hitzesommer von heute sind die kühlen Sommer von morgen. Die dürren Jahre werden als wasserreich in Erinnerung sein. Alles, was uns heute extrem vorkommt, wird sich zu einer brutalen “Normalität” verwandeln, der viele Menschen, Tiere, die Pflanzen auf den Feldern, ganze Städte, Infrastrukturen und Ökosysteme nicht gewachsen sein werden. Aus der Klimakrise wird die Klimakatastrophe, sofern nicht endlich das Nötige geschieht: Die weltweiten Emissionen innerhalb der Budgetgrenzen zu halten, die die besten und schlauesten Klimaexpertinnen und -experten definiert haben. [...] Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Berechnungen, wie viel CO2 die Erde noch verträgt, mit ihrer hohen Intelligenz und naturwissenschaftlichen Ausbildung immer schon intuitiv verstanden, mit einer ähnlichen Präzision, mit der sie im Herbst 2020 den Anstieg der Corona-Infektionen vorhergesagt hat. Schon 2007 thematisierte sie bei der Jahrestagung des Rats für Nachhaltige Entwicklung den entscheidenden Messwert: Wie viel CO2 darf rechnerisch jeder einzelne Mensch auf der Erde pro Jahr bis 2050 noch verursachen, damit wir unter der kritischen Temperaturschwelle von 1,5 Grad Celsius Erhitzung oder wenigstens unter 2 Grad Celsius Erhitzung bleiben? [...] Als Physikerin hat Merkel das verstanden – aber nicht ausreichend danach gehandelt. [...] Für eine Kanzlerin, die nicht nur auf ihre Glaubwürdigkeit beim Klima pocht, sondern in der Diskussion um Euro-Rettung und Schuldenpolitik mit dem Titel der “schwäbischen Hausfrau” kokettiert hat, ist dies kein guter Wert. Angela Merkel, der die “schwarze Null” immer so wichtig war, hinterlässt ein Deutschland mit einer CO2-Überschuldung riesigen Ausmaßes. Das kann nur ausgeglichen werden, wenn das Budget in den kommenden Jahren radikal weniger beansprucht wird. Es hat schon immer zwei Angela Merkels gegeben: Die eine Angela Merkel ist eine Physikerin, die alle diese Berechnungen der Klimaforscher versteht, die sich erste klimapolitische Meriten schon in den 1990ern bei den Weltklimagipfel von Berlin (1995) und Kyoto (1997) verdient hat, die zum Ortstermin in die Arktis reiste, die vor dem Klimagipfel von Kopenhagen gegen die versammelten Blockierer ihr ganzes politisches Gewicht in die Waage warf. Es ist die Merkel, die mehrfach Greta Thunberg traf und die viele nachdenkliche Reden hielt. Die andere Angela Merkel ist Machtpolitikerin, deren Position davon abhing, im Netzwerk der Mächtigen Interessen zu bedienen. Diese zweite Merkel hat das Verkehrs- und Infrastrukturministerium ebenso wie das Landwirtschafts- und Wirtschaftsministerium durchgängig Politikern anvertraut, die Politik fast ausschließlich für große Autos, große Konzerne und große Bauernhöfe gemacht haben und für die Klimaschutz eine lästige Sache war, ein Feld des politischen Gegners, das man eben nicht ganz ignorieren durfte. (Christian Schwägerl, Riffreporter)

Merkel konnte sich stets in einem ganzen Netz an Ausreden verstecken, das von zig verschiedenen Stellen gesponnen wurde und wird. Dabei ist es eigentlich hinreichend widerlegt. Nur Mythos ist der geringe Anteil Deutschlands/des Westens am Klimaschutz. Auch der beständige Versuch, Wetter und Klima miteinander zu verwechseln, wie er gerade massiv von der Obernebelkerze Laschet gefahren wird, ist u.a. durch eine Bestätigung des Umweltministeriums selbst (!) widerlegt.

Was Merkels krasse Untätigkeit auf so vielen Feldern so viel schwieriger zu ertragen macht ist das "wider besseren Wissens". Eine Gurke wie Armin Laschet, die ständig blockiert und nicht handelt, ist ja eine Sache. Dem traue ich nicht mal zu, dass er es grundsätzlich besser weiß. Aber Merkel? Die weiß es absolut besser. Aber ihr fehlt jeder Wille dazu, das anzugehen. Der wird leider auch Laschet fehlen. Wir steuern auf vier weitere verlorene Jahre zu, was umso schlimmer ist, als dass es nach 16 Jahren Merkel mutwillig verloren sein wird.

2) Die bürokratische Verhöhnung des 21. Jahrhunderts

3) Tschentscher plädiert für Deal mit Chinesen

Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher ist der Kritik an einer Beteiligung des chinesischen Terminalbetreibers Cosco Shipping Ports am Hamburger Containerterminal Tollerort (CTT) entgegengetreten. "Es gibt dazu keine politischen Vorgaben, aber was unternehmerisch sinnvoll ist, muss auch praktisch möglich sein und gemacht werden", sagte der SPD-Politiker auf Anfrage. Hamburg müsse bei der Wettbewerbsfähigkeit der nordeuropäischen Seehäfen auf der Höhe der Zeit bleiben. China ist für den drittgrößten europäischen Seehafen als mit Abstand wichtigster Handelspartner Hamburgs eminent wichtig. Schiffe der Reederei Cosco Shipping laufen bereits seit fast 40 Jahren das HHLA-Terminal Tollerort an. Kritiker fürchten durch den Einstieg von Cosco jedoch einen zu großen Einfluss Chinas auf den Hamburger Hafen. "Es hat gute Gründe, weswegen Cosco und andere Reedereien Interesse haben an einer Terminalbeteiligung", sagte Tschentscher. Stimmten die Konditionen, könnten Terminalbeteiligungen wirtschaftlich für beide Partner sinnvoll sein. "Die Terminalbetreiber können ihre Auslastung verbessern, die Reedereien sichern sich zuverlässige Anlaufpunkte und nehmen über den Seeweg hinaus an der gesamten Wertschöpfungskette teil." (dpa, NTV)

Ein weiteres Beispiel für die Blödheit deutscher Außenpolitik. Es ist so erschreckend zu sehen, wie wenig strategische Weitsicht hier existiert. Klar bringen die chinesischen Anleger ordentlich Geld in den Hafen. Und wenn man seine ganze strategische Infrastruktur den Rivalen ausliefern will, dann sollte man genauso weitermachen. Die EU genauso wie Deutschland hat keinerlei Konzept dafür, wie sie der chinesischen Herausforderung - die explizit ausgesprochen ist - gegenübertreten sollen. Das Schlimme ist, dass man immer noch in einer Verleugnungshaltung feststeckt, dass es überhaupt eine Notwendigkeit dafür gibt. Man tut einfach weiter so, als wäre noch 2004 und die ganze Welt weiterhin auf dem Weg zu einer immer engeren ökonomischen Integration, Liberalisierung und Globalisierung.

4) Tweets


Mal wieder zwei hervorragende Beispiele dafür, wie lächerlich es ist, diese Leute von CDU und FDP Wirtschaftsexperten zu sehen. Auf die Art, wie Friedrich Merz da Analysen raushaut, könnte ich auch grandiose Wirtschaftspolitik machen. Mir einem angenommenen Wachstum von 3-4% kann ich ne ganze Menge Schuldenaufnahme rechtfertigen. Nur würde niemand einem Linken so was durchgehen lassen. Aber Merz ist ja "Wirtschaftsexperte", da geht so was problemlos.

Das Gleiche gilt für den Unsinn, den Jörg Hoffmann erzählt. Er ist natürlich nicht so repräsentativ für seine Partei wie Merz das ist - der wurde immerhin zweimal fast Parteivorsitzender - aber als Professor der Betriebswirtschaftslehre steht er recht repräsentiv für den vebreiteten Realitätsverlust dieser Zunft. Keine "normalverdienende" Person hätte auch nur die geringsten Aussichten, einen Kredit für dieses Projekt zu bekommen.

Natürlich, wenn man entsprechende Anlagen hat und Vermögenswerte, die als Sicherheit dienen können - wie das bei Hoffmann sicherlich der Fall ist - dann kann man niemals einen Kredit bekommen, der nicht bis zur Rente abbezahlt ist. Das weiß Hoffmann natürlich nicht, weil er von der Alltagsrealität der Menschen so weit entfernt ist, wie man das als professoraler FDP-Stadtrat nur sein kann.

5) Warum das Humboldt-Forum ein steingewordener Schlussstrich ist

Die Schlossattrappe steht symbolisch für eine neue Meistererzählung, die eigentlich eine rückwärtsgewandte und alte ist: Deutschland als Volk der Dichter und Denker, mit Berlin als borussisch-deutscher Kultur- und Wissenschaftsmetropole von Weltgeltung. Es ist die Umkehrung der hart erkämpften Perspektive, die deutsche(n) Nachkriegsidentität(en) von den Verbrechen des 20. Jahrhunderts aus zu betrachten. Radikaler könnte der erinnerungspolitische Schnitt kaum sein. Seinen ursprünglichen Zweck hat das Humboldt-Forum damit bereits erfüllt: Der Ost-Berliner Palast der Republik ist verschwunden, die Brache in der Mitte der Stadt, die auch ein Mahnmal für die deutsche Teilung und den sie verursachenden Weltkrieg war, ist gefüllt. Die Fassade glänzt – ganz so, als hätte es Weltkrieg, Holocaust und Teilung nie gegeben. [...] An diesem Punkt geriet die Debatte über Deutschlands koloniales Erbe in Konflikt mit dem neuen Narrativ, der über die Frage des Umgangs mit kolonialen Sammlungsgütern weit hinausgeht. Es ist bezeichnend, dass keiner der Verantwortlichen an das koloniale Erbe auch nur ansatzweise gedacht hat, als beschlossen wurde, das rekonstruierte Stadtschloss mit den Objekten des ehemaligen Ethnologischen Museums zu füllen. Nach all der Mühe, ein weltoffenes Berlin und Deutschland zu zeichnen – ein Zentrum der Wissenschaft und der Weltaneignung –, schuf man in Berlin ein Denkmal der Engstirnigkeit. [...] Die Politik, kalt erwischt von der Debatte um Deutschlands koloniales Erbe, reklamiert diesen intensivierten Diskurs mittlerweile für sich. Wenn man jedoch, wie Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Eröffnung sagte, in Anspruch nimmt, das Humboldt-Forum habe „schon vor seiner Eröffnung ganz wichtige Debatten über den Umgang zum Beispiel mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten angestoßen“, dann ist das ungefähr so, wie wenn man darauf hinwiese, Tschernobyl hätte die Debatte um Reaktorsicherheit vorangebracht. Es stimmt, war aber keineswegs beabsichtigt. Die Opfer und Kollateralschäden waren in beiden Fällen enorm. (Jürgen Zimmerer, Berliner Zeitung)

Unzweifelhaft hat die Debatte über das Humboldt-Forum tatsächlich einen fruchtbaren Historiker*innenstreit über das koloniale Erbe Deutschlands gestartet, genauso wie das 150jährige Jubiläum der Reichsgründung dieses Jahr (und besonders die Beiträge zur Debatte von Christoph Nonn, Hedwig Richter und Oliver Haardt). Aber die Zimmerer hier zurecht moniert hätte man diese Debatte vermutlich auch ohne das viele zerschlagene Porzellan haben können, das von einer unsensiblen und fehlgeleiteten Erinnerungspolitik ausging. Das "Hohenzollern-Disneyland" war sicherlich nicht der beste Wurf, der diesbezüglich je getätigt wurde.

6) Das Parlament darf gendern

Das bedeutet in aller Kürze: Wer das Gendern der Sprache als Tool ansieht, Gleichberechtigung voranzutreiben, kann sich auf die Verfassung und die europäischen Grundrechte berufen. Und so haben sich die Bundesministerien grundsätzlich verpflichtet, die Gleichstellung von Männern und Frauen in Gesetzesentwürfen auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Gender-Mainstreaming ist auch in der Normsetzung erlaubt. Ist der Gesetzgeber dazu vielleicht sogar verpflichtet? Das ist eine andere Frage. [...] Gesetze, die ungewöhnlich, unklar oder irritierend sind, kommen allerdings in der Praxis immer wieder vor. In diesen Fällen hilft die juristische Methode der Auslegung, den wirklichen Inhalt des Gesetzes zu ermitteln. Das hätte auch hier geholfen. Eine realitätsnahe Auslegung ergibt, dass das Insolvenz- und Sanierungsgesetz für alle Betroffenen gelten soll, unabhängig vom Geschlecht. Welchen Sinn hätte ein Insolvenzgesetz nur für Frauen? Vor diesem Hintergrund wirkt das Argument des Innenministeriums doch vorgeschoben. Nicht alles, was man politisch nicht will, ist auch verfassungswidrig. Der langen Rede kurzer Sinn: Ob Gesetze gegendert werden sollen oder nicht, ist keine Frage des Verfassungsrechts. Es ist eine politische Entscheidung. (Volker Boehme-Neßler, ZEIT)

Abseits der konservativen Medienblase dürfte ziemlich klar sein, dass geschlechtergerechte Sprache grundgesetzkonfom ist. Ich finde Boehme-Neßlers Hinweis deswegen so wichtig: es ist eine rein politische Frage. Ich habe schon öfter in diesem Forum die deutsche Neigung beklagt, ständig politische Konflikte über die Bande des Verfassungsrechts lösen zu wollen. Dasselbe gilt auch hier, wie übrigens auch bei der Klimapolitik. Wir können nicht ständig das BVerfG bemühen, um Entscheidungen zu erzwingen, die politisch herbeizuführen wegen ihrer Schwierigkeiten und Erfordernisse an das politische Kapital nicht getätigt werden.

7) Klimakrise: Verantwortung nicht auf den Einzelnen abschieben

Nicht zufällig hat die Bewegung rund um Bernie Sanders in den USA ein radikales Programm für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen mit einem radikalen Programm für Klimapolitik verbunden. Denn diese Fragen gehören zusammen, und nur wenn der Kampf gegen die Klimakrise auch ein Kampf für soziale Gerechtigkeit ist, wird er Erfolg haben. [...] Um unsere Gesellschaft Richtung Ressourcenschonung zu bewegen, brauchen wir aber einen gesamtwirtschaftlichen Plan, einen "Green New Deal", der unsere Klimaziele mit der Schaffung von guter Arbeit für alle verbindet; der eine Kreislaufwirtschaft mit regionaler Produktion statt CO2-belasteter Importe forciert; es braucht ein Ende der industriellen Landwirtschaft und Viehzucht, für die der Regenwald brennt, und ein Ende der industriellen Fischerei, die unsere Ozeane regelrecht zerstört und dadurch unseren größten CO2-Speicher attackiert. Statt Scheindiskussionen in der Regierung zu führen, mit denen die Grünen und die ÖVP ihre jeweilige Klientel motivieren wollen, und statt individueller Konsumkritik brauchen wir einen kollektiven, staatlich vorangetriebenen Transformationsprozess. Nur wenn wir klimapolitische Maßnahmen mit einem Kampf für soziale Gerechtigkeit und mit einer grundlegenden Änderung unseres Wirtschaftssystems verbinden, haben wir eine reale Chance: einerseits um die enormen CO2-Einsparziele zu erreichen und andererseits um Mehrheiten für eine Politik zu schaffen, die Klimapolitik nicht in das Gewand eines moralischen Vorwurfs kleidet, sondern als Versprechen für ein gutes Leben für alle versteht. (Julia Herr, Standart)

Die Idee persönlichen Verzichts und persönlicher Konsumumstellungen als Mittel gegen die Klimakrise ist ein Irrweg, der leider von praktisch allen Seiten aus betrieben wurde. Er erlaubte es der ökologisch-progressiven Gruppe, sich gut zu fühlen und in dem Bewusstsein moralischer Überlegenheit zu sonnen, das sie so unnachahmlich beliebt bei allen anderen macht. Gleichzeitig erlaubte es Konservativen und Liberalen, mit ihrer ohnehin eingespielten Rhetorik von persönlicher Verantwortung und freien Konsumentscheidungen jede Tätigkeit abzulehnen und die Verantwortung von sich abzuladen.

Insgesamt spielen die Konsumentscheidungen eine viel zu geringe Rolle; die Problematik ist die Produktionsweise selbst. Erst, wenn die sich ändert, werden wir massiv etwas am CO2-Ausstoß ändern, und wenn das passiert, dann wird sich notwendigerweise auch der Konsum der Menschen ändern - aller Menschen, nicht nur des BIO-Markt-Jetsets. Das heißt nicht, dass es falsch wäre, entsprechend zu leben und solche Entscheidungen zu treffen; jedes bisschen hilft, und man ist besser vorbereitet auf die notwendigen Umstellungen, die die Klimakrise so oder so erzwingen wird. Aber die Umstellung muss an der Wurzel beginnen, nicht in den Knospen der Wirtschaftspflanze.

8) Basler Appellationsgericht reduziert Strafe für Vergewaltiger wegen der «Signale, die das Opfer auf Männer aussendet»

Allerdings stufte das Appellationsgericht das Verschulden des Verurteilten nicht derart gravierend ein wie die Vorinstanz. Gerichtspräsidentin Liselotte Henz (FDP) sprach von einem «mittleren Verschulden» im Rahmen von Sexualstrafdelikten und führte mehrere Punkte an, weshalb das Strafmass des Strafgerichts zu hoch angesetzt war: So seien die Übergriffe relativ kurz gewesen und hätten zu keinen bleibenden physischen Verletzungen bei der Frau geführt. Juristisch heikel einzustufen ist dann ein weiterer Punkt der Urteilsbegründung: Das Vergehen werde relativiert durch «die Signale, die das Opfer auf Männer aussendet», so die Gerichtspräsidentin. Dabei bezog sie sich vor allem auf das «Verhalten im Club», wo die Frau offenbar im Laufe des Abends auf der Toilette ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem weiteren Mann hatte. «Man muss feststellen, dass sie mit dem Feuer spielt», so Henz. Auch sei unklar, wie sehr das Opfer heute noch unter den Übergriffen leide, da keine aktuellen Arztberichte vorlägen. In Therapie sei die Frau offenbar nicht. Für den Täter belastend zu werten sei, dass das Opfer es mit zwei Männern zu tun hatte und Gegenwehr so keinen Sinn gemacht habe. (Jonas Hoskyn, BZ)

Es ist immer wieder erschreckend, was für Bastionen alten patriarchalisch-mysogynen Denkens sich halten, besonders natürlich in eher konservativen Institutionen wie der Juristerei. Wie kommt jemand darau, dass ungeschützter Geschlechtsverkehr mit einer Person eine Aufforderung zur Vergewaltigung sein könnte? Das ist, als ob jemand sein Auto nicht abschließt und das mildernde Umstände beim Dieb bedeutet, weil man ja "mit dem Feuer gespielt" habe. Oder akzeptiert ein Gericht mildernde Umstände, wenn ich jemanden zusammenschlage, nur weil der vorher eine Runde Handball gespielt und dadurch offensichtliche Gewaltbereitschaft ausgedrückt hat? Meine Güte. Hoffentlich geht das in noch eine Appellationsinstanz.

9) Von Natur aus Mutter?

Die Ergebnisse sind bemerkenswert – sie widersprechen der „Mutter-Natur-These“ diametral. Zwar entwickelten sich die Einkommen von Adoptivmüttern kurzfristig etwas besser als die von leiblichen Müttern, doch die langfristigen Auswirkungen sind den Forschern zufolge praktisch identisch. Die Einkommenseinbuße dänischer Adoptivmütter habe 18,1 Prozent betragen, was sich statistisch nicht von den 17 Prozent bei den leiblichen Müttern unterscheiden lasse.  [...] „Unsere Ergebnisse sprechen gegen die Bedeutung der biologischen Verbindung zwischen Mutter und Kind zur Erklärung der Einkommensverluste“, schlussfolgern die drei Wissenschaftler. [...] Eine interessante Nebenerkenntnis der Studie besteht darin, dass die Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau mit Kindern auch nichts mit einer ökonomisch rationalen Spezialisierung innerhalb der Familie zu tun hatte. Oder anders gesagt: Frauen mit höheren Einkommen und besseren Berufsaussichten reduzierten Arbeitszeit und Einkommen genauso wie Frauen, die ohnehin schlechtere Aussichten auf dem Arbeitsmarkt hatten. [...] Bei der Ursachenforschung müsse man sich stärker darauf konzentrieren, wie die Wünsche von Müttern nach weniger Karriere entstehen, welche sozialen Normen vorherrschen und welche kulturellen Hintergründe es gibt, schreibt der Ökonom am Ende. In Deutschland scheinen diese weichen, aber dennoch nicht zu unterschätzenden Faktoren besonders ausgeprägt. Denn nach den Berechnungen des Forschers ist der Lohnrückstand von Müttern hierzulande etwa doppelt so groß wie in den Vereinigten Staaten und bis zu dreimal so groß wie in skandinavischen Ländern. (Johannes Pennenkamp, FAZ)

Bemerkenswert an dem Artikel ist weniger die Erkenntnis - es gibt natürlich kein Gen oder Hormon, das die wirtschaftliche Position der Frauen in der spätbürgerlichen Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts bestimmt - sondern wie sehr er um die offensichtliche Lösung des Konflikts herumhüpft. Es wird quasi jeder Aspekt der betreffenden Studie diskutiert, außer dem offensichtlichen: dass auch Frauen in besser bezahlten Jobs höheren Status Kinder üblicherweise in einer ehelichen Beziehung mit einem Mann bekommen (sogar mehr als in unteren Schichten), und dass diese Männer ja auch üblicherweise gut verdienend sind - die fragile männliche Psyche erlaubt nur sehr schwer, in einer Beziehung mit einer besser verdienenden Frau zu leben, das bestätigen ebenfalls zahlreiche Studien zur Genüge. Dafür können sie danach umso besser über deren persönlichen Entscheidungen schwadronieren.

Und genau das haben wir eben nicht; Frauen wählen nicht "natürlich" die Reduktion ihrer eigenen Karrierechancen, sondern sie werden dazu getrieben, weil die Erwartungen der Gesellschaft und bestehende Rollenmuster sie in diese Richtung drängen. Natürlich tun sie das überwiegend freiwillig, aber das hat soviel mit "Natur" zu tun wie die Vorliebe von Jurastudenten für rosa Hemden und braune Aktenkoffer.

10) How to Introduce a Wealth Tax

A wealth tax could follow this same concept. Every year, each person would have to disclose their assets and list a price at which they value each asset. They would have to specify private company holdings and their price-per-share, art, real estate, etc., all in one national registry, and then anyone could—at some interval—buy that asset at the listed price if they wanted—forcing the owner to sell at the price they indicated. This would force each person to accurately value the things they care about. If you like the home you live in, for instance, you would have to fully state its value for the purposes of taxes—lest someone else might buy it from you. [...] The upshot: The problem currently with any wealth tax concept is that most assets don’t have a clearly established market value. The incentive is to understate the value of assets, unless people are forced by some procedure to think fully about how much different things are worth to them. If you want to have a wealth tax, then basically everything has to be listed and put into the market in order to establish a price with which to calculate wealth. If the market is thin (which it will be for most assets), the owner will have a strong incentive to price the asset fully versus. under-marking it. [...] It is very difficult to set the rules of disclosure for such an open-ended market. Markets are information machines, and if you are creating some sort of market pricing mechanism for all assets, then the pressure falls to the information systems that support the markets. [...] But the reality we have to digest is that if people have an interest in moving toward a wealth tax, we have a very large information problem. The solution can either be introducing market forces and a public registry of all assets, or giving a central authority the power to value all assets rather than just objective income. (Sam Lessin, The Information)

Ich wäre interessiert an der Einschätzung von Leuten mit mehr Fachkenntnis als mir, inwiefern das ein Muster für eine Einführung der Vermögenssteuer sein könnte, vor allem vor dem Hintergrund, dass die letzte in Deutschland ja verfassungswidrig war (im Gegensatz zum Konzept einer Vermögenssteuer per se, auch wenn CDU und FDP es lieben, diesen zentralen Unterschied zu verwischen). Macht das Sinn? Ich finde das Konzept, zum Verkauf meines Besitzes gezwungen zu sein, ziemlich merkwürdig, aber ich sehe, dass es die Bepreisung deutlich transparenter und weniger von der Willkür einer riesigen Bürokratie abhängig machen und stattdessen dem Marktmechanismus übergeben würde. Aber ich bin gespannt, was die Experten hier im Blog dazu beitragen können.

11) Tucker Carlson Has Seen the Future, and It Is Fascist

The right’s entrancement with Orban has emerged fitfully over the last decade. One could find defenses of the Hungarian regime in places like the New York Post, the Federalist, the Heritage Foundation, and National Review. Yet, until recently, open support for Orban’s Hungary was an idiosyncratic minority position on the American right. [...] Hungary’s democratic backsliding was slow and gradual, without a single dramatic moment when its character flipped from democracy to dictatorship. Even now, it retains the surface trappings of a democracy without the liberal characteristics that make those processes meaningful. If America ceases to be a democracy, it will likely follow a path similar to Orban’s. The broad lesson of Trump’s presidency is that clumsy, violent efforts to seize power — such as the January 6 insurrection — will meet with intra-party resistance, but subtler power grabs will not. Republicans decided to shrug at abuses like Trump using American diplomacy as a lever to coerce Ukraine to smear his opponent, refusing to accept the election outcome, or using the presidency to line his own pockets. They have enthusiastically joined in state laws to restrict voting and hand power over elections to party hacks. What they seem to want is a leader who shares Trump’s contempt for democracy, but possesses a subtler touch. That is the vision Orban offers. (Jonathan Chait, New York Magazine)

Auch in Deutschland ist offene Begeisterung für Orbans Regime noch wenig verbreitet. Zu schlecht ist zum Glück der Ruf des autoritären Herrschers, zu offen seine Verachtung für die Demokratie, als dass er in Deutschland damit reüssieren könnte - oder die AfD, Hans-Georg Maaßen, Gabor Steingart oder Friedrich Merz, die pars pro toto die Zielgruppe für so etwas repräsentieren würden, es als Folie nutzen könnten.

Ich halte es aber für zentral, was Chait oben eher nebenbei erwähnt: der Verfall der ungarischen Demokratie kennt keinen entscheidenden Entscheidungsmoment. Stattdessen ist es ein kontinuierlicher Verfall. Deswegen ist die ständige Meckerei von Mitte-Rechts, man übertreibe es mit seinen Warnungen, auch so verfehlt: es gibt nicht den einen Moment, der so herausragend ist, dass er die "apokalyptischen" Warnungen rechtfertigen würde. Stattdessen wird, Maßnahme um Maßnahme, der Maßstab verrückt. Man muss den Anfängen wehren.

In den USA ist es inzwischen so weit, dass die Rechte dort völlig problemlos Orban verherrlichen und eine solche Zerstörung der Demokratie fordern kann - unter anderem, weil die Warnungen vor diesem Trend der amerikanischen Rechten seit 2010 beständig als überzogen abgetan wurden. Dieses ständige In-Schutz-Nehmen der Demokratieverächter ist umso bemerkenswerter, als das mit einer an Hysterie grenzenden Apokalypsesucht der Untergang der Demokratie durch geschlechtergerechte Sprache oder ein neues Klimaministerium an die Wand gemalt wird, wie man es letzthin in Stefan Pietschs Fantasien lesen durfte.