Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Have Democrats learned that fighting poverty is very easy?
Nobody benefits more from the state than the ultra-rich, who get vast oceans of tax subsidies (and pay a smaller portion of their income in tax than anyone in the country, including the poor, incidentally.) Oligarchs like Jeff Bezos would not be able to collect billions in (nearly) tax-free capital income without lifting a finger if it were not for the state's creation and protection of property rights. Fundamentally, the whole economy is structured at every point by government laws and regulations, and the rate of poverty is a policy choice. Welfare shaming is one of the principal methods that the grotesquely unequal distributions of income and wealth are politically defended in this country. Meager benefits that go to the working class and poor are smeared as immoral handouts to disgusting, lazy moochers, while the mountains of more subtle government cheese collected by people like Elon Musk (in addition to actual state contracts) are carefully ignored. [...] And it turns out people like getting free money! The survival checks, in particular, got about three-quarters approval in several polls. Leah Burgess, a part-time chaplain and student in D.C., told DeParle: "If our resources in a pandemic could change millions of people's lives, then what's stopping us from continuing to do that?" The answer is nothing but politics. Free money is great, and all Americans — not just the poor — should be demanding more of it at all times. (Ryan Cooper, The Week)
Praktisch jede Studie zum Thema kommt zu der simplen Erkenntnis, dass nichts Armut so erfolgreich bekämpft wie Geld. Gleiches gilt für Obdachlosigkeit: das beste Mittel dagegen ist, den Leuten eine Wohnung zu geben. Gleichzeitig versuchen ausgerechnet Liberale und Konservative, die sonst eigentlich für möglichst einfache und effiziente Lösungen sind, so komplexe und vielschichte Bürokratien wie möglich aufzubauen, wo es um die Bekämpfung von Armut geht, sprich: sozialstaatliche Regelungen.
In a report last year, "Made in Hollywood, Censored by Beijing," the free-speech organization PEN America accused industry decision-makers of changing "the content, casting, plot, dialogue, and settings" of films "to avoid antagonizing Chinese officials." At first, studios only tweaked their Chinese releases — for example, when censors ordered that dirty laundry be removed from Shanghai balconies in Mission: Impossible 3. But soon studios began removing potential sore points from their U.S. releases. The 2012 remake of Red Dawn originally depicted a Chinese invading army, but so as not to offend Beijing, they were digitally altered to become North Korean troops in both the U.S. and Chinese releases. China's government allows only 34 foreign films to be released each year, and studios competing for those valuable slots fear being denied access to 1.4 billion people — the world's largest box-office market. "Over time, writers and creators don't even conceive of ideas, stories, or characters that would flout the rules, because there is no point in doing so," the PEN report said. [...] Many young Chinese became acquainted with the West through pirated popular TV shows, such as Friends, How I Met Your Mother, and Game of Thrones, that volunteers dub with Chinese subtitles. But authorities are cracking down on this unapproved Western culture. Fourteen members of a large streaming firm were arrested in February, and other outfits have disbanded or disappeared since then. Internet users have reacted by sharing the Chinese term lindong jiangzhi — a poetic translation of "winter is coming." (Staff, The Week)
Für mich ist das einer der zentralen Unterschiede zum Ost-West-Konflikt zwischen USA und Sowjetunion, NATO und Warschauer Pakt, EU und RGW. Der ideologische Einfluss der Kommunisten war immer auf eine sehr kleine Gruppe am linken Rand der westlichen Staaten beschränkt, und selbst dort teilte man weniger die offizielle Moskauer Variante als vielmehr irgendwelche modischen Abarten vom Maoismus bis zu den berühmtem Che-Guevara-Shirts. Dagegen herrschte die westliche Popkultur auch im Osten als Sehnsuchtsort unangefochten ("Kulturimperialismus").
Mit China dagegen sieht das völlig anders aus. Wo Hollywood nie auf die Idee gekommen wäre, Zugeständnisse gegenüber der kommunistische Ideologie und sowjetischen Befindlichkeiten zu machen, um den dortigen Markt zu erschließen, weil es nichts zu erschließen gab, nutzt China genau die kapitalistischen Strukturen aus, um eine Infiltration der mächtigsten Waffe des Westens zu erreichen, nämlich seiner kulturellen Begehrtheit. Vorrangig geht es dabei um die Abwehr, also zu verhindern, dass die "falschen" Ideen zusammen mit dem neuesten Blockbuster im Land verbreitet werden, aber die Produkte der chinesischen Filmindustrie zeigen deutlich, dass mittelfristig auch die Ambition besteht, die Werte des chinesischen Zentralstaats umgekehrt in den Westen zu exportieren. Das kann noch heiter werden.
Das alles ist keine Frage von Meinung. Die Qualität oder den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu benennen, ist nicht einmal eine Frage von politischer Haltung, sondern von journalistischer Analyse. Viele Redaktionen begreifen sich allein als ein „Austragungsort“ politischer Debatten. Aussagen werden wiedergegeben, Gegenstimmen eingeholt und das Ganze dann möglichst „neutral“ berichtet. Populistische Strategien funktionieren in einem solchen Journalismus der „falschen Balance“ besonders gut. Das ist aus den letzten beiden US-Wahlkämpfen sowie aus der Präsidentschaft Donald Trumps bekannt. Aber auch aus der Coronapandemie. Gerade wenn fragwürdige Aussagen oder deren Inhalt direkt in Überschriften stehen, handelt es sich nicht um eine neutrale Wiedergabe dieser Aussagen, sondern um eine Verstärkung. Dasselbe gilt für scheinbar neutrale Begriffe wie „Kritik“, „Vorwurf“ oder „Provokation“. [...] Populist*innen können sich sicher sein: Wenn sie beim Sich -aus-dem-Fenster-lehnen rausfallen, werden sie auf den Formulierungen der Medien weich landen. [...] Nicht nur, aber gerade im Wahlkampf und gerade bei Nachrichten, die im Netz veröffentlicht werden, ist es deshalb wichtig, Falschinformationen gar nicht erst ohne Einordnung zu verstärken. Der journalistische Umgang mit Tatsachenbehauptungen Dritter sollte immer denselben Standards wie dem eigenen Content der Redaktionen entsprechen. (Peter Weissenburger, taz)
Ich bin hin- und hergerissen. Auf der einen Seite ist es problematisch, wenn jeder Artikel immer ein Meinungsartikel ist (des einen Analyse ist ohnehin des anderen Aktivismus, und umgekehrt). Auf der anderen Seite ist der Bothsiderismus aber eine Seuche, die zersetzend auf das demokratische Gefüge wirkt. Ich habe kein Problem damit, wenn Medien eine Position beziehen, sogar eine Seite, solange das offen geschieht. Dass etwa die taz den Grünen zuneigt, ist kein Geheimnis, und wenn man das weiß, ist das ja auch völlig okay. Ich finde es viel schlimmer, wenn gerade einige bürgerliche Medien so tun, als wären sie rein objektiv und neutral, die das ganz klar nicht sind. Da doch lieber ein Ulf Poschardt, bei dem völlig offensichtlich ist, für wen er streitet.
Was die Lügen, Falschaussagen und Verzerrungen angeht ist die Grenze ebenfalls fließend. Ist Merz schon ein Lügner, oder übertreibt er nur die Positionen des Gegners in einer Art pointierten Zuspitzung? Die Antwort auf diese Frage hängt vermutlich auch stark vom eigenen ideologischen Standpunkt ab, und genauso wie die eben kritisierten bürgerlichen Medien nicht objektiv und neutral sind, so ist die Idee, dass die Medien hier eine objektiv-neutrale "Einordnung" vornehmen könnten, wie Weissenburger das vorschlägt, völlig irrig. Denn was er als "Einordnung" sieht, dürfte für den der CDU zuneigenden Blogleser hier bereits klar jedem Journalismus hohnsprechender Aktivismus sein. Einen Weg aus diesem Dilemma sehe ich nicht.
4) Why Germany’s 2021 election could be the most significant in decades
Now questions loom, some of them put off too long under Merkel, about the second chapter. What is the future of the German industrial, fiscal and social model in an age of artificial intelligence, decarbonisation and big data? How can an ageing but more diverse German society find a common identity for the next decades? What role for Germany in a conspicuously half-finished European project and in a world where its security guarantor (the US) and its main trading partner (China) are increasingly in tension? Those are questions whose implications resonate far beyond Germany’s borders. The geopolitics guru Ian Bremmer calls the vote on 26 September “the most consequential global election this year”. He is right. And with big issues comes the potential, at least, for big political upheaval. The German election, in other words, is both much less predictable and much more significant than it may look. (Jeremy Cliffe, The New Statesman)
Es ist völlig korrekt, dass Deutschland im Jahr 2021 vor Herausforderungen, Fragestellungen und Weichenstellung steht, die für die Zukunft des Landes von größter Bedeutung sind, ganz im Gegensatz zu Wahlen wie 2013 und 2017, wo das nicht in diesem Ausmaß der Fall war. Ich finde es aber schwierig zu sagen, dass die Wahl die wichtigste werden wird, denn wie ich im Podcast ja auch bereits angesprochen habe, sehe ich keine Koalition, die Deutschlands Politik grundsätzlich anders machen würde als die letzten Jahre unter Merkel. Die Wahl 2021 SOLLTE die wichtige in Jahrzehnten sein, aber sie ist es nicht. Das ist das eigentliche Problem.
5) Adam Tooze's Chartbook #29: Afghanistan's economy on the eve of the American exit.
Grasping for some perspective it makes sense to put the last twenty years of Western intervention in Afghanistan in the context of a century of contested and often violent struggle over the country's modernization. On that earlier history, Humanitarian Invasion, by Timothy Nunan is a fascinating read. The revolution of 1978 and the Soviet intervention followed by Western sponsorship of the resistance turned Afghanistan into a battlefield in the late Cold War. It was a conflict of staggering proportions. The figures from Khalidi for the Afghan-Soviet war are conservative. They cover only the period 1978-1987. They add up to a total death toll of 870,000. There are not unreasonable estimates that put overall mortality at twice that level. The scale of this violence in the 1980s dwarfs anything that followed. In 2019, 0.078 of the Afghan population were killed in clashes between government and Taliban forces. In 1984, a staggering 1.35 percent of the Afghan population fell victim to the war in a single year. In relation to population that is 19 times worse than the current casualty rate. I do not cite these figures to excuse or relativize the violence that has followed. More people were killed in Afghanistan in 2019 than at any time since the end of the Afghan-Soviet war. More than during the conquest of the country by the Taliban during the late 1990s. But, the scale of the 1980s cataclysm is staggering. The losses, at between 7 and 10 percent of total prewar population, are in the ball park of those suffered in Eastern Europe and the Balkans in World War II. Only very big wars with large civilian casualties have significant demographic impact. In the 1980s, Afghanistan’s population stopped growing. (Adam Tooze, Chartbook)
In seinem nächsten Beitrag wird Tooze noch genauer, was diese Zahlen angeht. Im übernächsten vergleicht er Haiti und Afghanistan, mit einigen Überraschungen; beide Beiträge seien zur weiteren Lektüre anempfohlen. Absolut faszinierend und erschreckend finde ich allerdings die hier im ersten Beitrag ausgebreiteten Zahlen der sowjetischen Invasion von Afghanistan. Besonders eher linksstehende Personen lieben es gerade darauf hinzuweisen, dass in den 20 Jahren Afghanistan-Einsatz zehntausende Afghanen zu Tode gekommen sind. Aber nie wird auf die Zeit des vorhergehenden Bürgerkriegs (blutiger) und den Kampf gegen sie Sowjets (sehr viel blutiger) verwiesen.
Die Zahlen, die Tooze hier ausbreitet, sind gigantisch. Wir reden hier von Dreißigjähriger Krieg, um einen deutschen Referenzrahmen zu geben, beziehungsweise Zweiter Weltkrieg, wenn wir näher dran bleiben wollen. Das ist Wahnsinn. Und anders als in Europa folgte auf diesen Aderlass nicht eine Periode des "langen Friedens", sondern erst ein blutiger Bürgerkrieg, dann die Taliban-Diktatur, dann ein neuer Bürgerkrieg. Und jetzt bekommt das Land die nächste Welle fundamentalistischer Taliban-Gewalt.
Und ja, sicher, der Kampf gegen die Sowjets wurde durch die US-Unterstützung der Mudjaheddin intensiviert. Aber glaubt jemand nach 20 Jahren NATO-Einsatz ernsthaft, die Rote Armee hätte "gewonnen" (was auch immer das heißt), wenn die USA nicht Waffen geliefert hätten? Ist ja auch nicht so, als wären die Taliban nicht von außerhalb versorgt worden. Aber relevanter in dem Zusammenhang ist die massive Gewalt, die von der Roten Armee ausging. Das ist effektiv ein Geonzid. Da darf man die NATO-Zeit gerne in Relation dazu setzen und nicht so tun, als wäre die NATO das Schlimmste, was Afghanistan in den letzten vier Dekaden passiert wäre.
6) Inside Fox News, DeSantis is ‘the future of the party.’ And he’s taking advantage.
The details of this staged news event were captured in four months of emails between Fox and DeSantis’ office, obtained by the Tampa Bay Times through a records request. The correspondences, which totaled 1,250 pages, lay bare how DeSantis has wielded the country’s largest conservative megaphone and show a striking effort by Fox to inflate the Republican’s profile. From the week of the 2020 election through February, the network asked DeSantis to appear on its airwaves 113 times, or nearly once a day. Sometimes, the requests came in bunches — four, five, even six emails in a matter of hours from producers who punctuated their overtures with flattery. (“The governor spoke wonderfully at CPAC,” one producer wrote in March.) There are few surprises when DeSantis goes live with Fox. “Exclusive” events like Jan. 22 are carefully crafted with guidance from DeSantis’ team. Topics, talking points and even graphics are shared in advance. Once, a Fox producer offered to let DeSantis pick the subject matter if he agreed to come on. By turning to DeSantis to fill the many hours of airtime once devoted to former President Donald Trump, Fox has made Florida’s hard-charging leader one of the country’s most recognizable Republicans. That has given DeSantis a leg up on others who may seek the party’s nomination for president in 2024. A recent nationwide poll of Republican voters put DeSantis atop the field if Trump doesn’t run again. No other prospective candidate was close. [...] It is not clear which came first after Trump lost — Fox’s focus on DeSantis or his meteoric rise. But internally, Fox producers acknowledge, in no uncertain terms, just how the network views DeSantis. One producer told DeSantis’ team it was the mission of Fox’s midday host, Martha MacCallum, to “look forward and really spotlight the STARS of the GOP” and “she named Gov. DeSantis as one.” Another put it this way in an email to Beatrice: “We see him as the future of the party.” Fox News owns a significant space in DeSantis’ swift political ascent. It was through Fox that Trump discovered DeSantis — a little-known congressman from the Jacksonville suburbs who became one of the president’s fiercest allies. An endorsement for governor soon followed, paving the way for DeSantis’ takeover of Tallahassee. (Steve Contorno, Tampa Bay Times)
Zumindest zum heutigen Stand sieht es so aus, als ob deSantis der frontrunner im Rennen um die republikanische Kandidatur 2024 werden würde, jedenfalls solange Trump nicht selbst wieder antritt. Offensichtlich ist jedenfalls, dass die rechte Hetzmaschinerie der republikanischen Prawda, FOX News, sich auf ihn festgelegt hat. Nicht, dass der Laden irgendwelche Loyalität kennen würde - die lassen deSantis, genauso wie die Wählendenschaft, im Zweifel schnell fallen.
Wichtiger als die Person selbst ist der Typus, der die GOP dominiert. Es zeigt sich, dass meine Analysen richtig waren: es ist nicht (nur) Trump, es ist die Partei. Alle, die ständig gebetsmühlenartig betont haben, dass die Republicans natürlich eine demokratische Partei sind, dass es nur einige bad eggs seien und so weiter, liegen schlicht falsch. Nirgendwo wird dies klarer als am Verhalten der Republican hopefuls selbst, die sich mit extremistischen Äußerungen und clownhaften Aktionen gegenseitig zu überbieten versuchen. Es gibt keine moderaten Republicans mehr.
7) Das Erbe von Deutschlands braunen Gesetzgebern
Dennoch druckte und verbreitete der Verlag C.H. Beck nach dem Krieg den »Palandt« mit der Rechtfertigung, Palandt sei bereits 1948 in der britischen Besatzungszone entnazifiziert worden. »Entscheidend für uns ist“, so der Verlag, »dass der Name des Werkes schon früh losgelöst von der Person ein Eigenleben entwickelte und sich über mehrere Generationen hinweg in Wissenschaft und Praxis etabliert hat«. So blieb es über Jahrzehnte. Bis heute, mittlerweile in der 80. Auflage. Nun also soll der »Palandt« nicht mehr Palandt heißen. Bleibt die Frage: Warum erst jetzt? »Geschichte kann man nicht ungeschehen machen. Deshalb haben wir zunächst die historischen Namen beibehalten«, erklärt Verleger Hans Dieter Beck. Aber »um Missverständnisse auszuschließen«, so der Verleger, habe man sich nun dazu entschlossen, dieses und auch andere »Werke mit Namensgebern, die in der NS-Zeit eine aktive Rolle gespielt haben, umzubenennen«. Als Grund, warum das erst jetzt geschehe, sagt Beck: »In Zeiten zunehmenden Antisemitismus ist es mir ein Anliegen, durch unsere Maßnahmen ein Zeichen zu setzen«. [...] Die Generation der Täter und die ihrer Nachfolder schlossen gewissermaßen einen generationsübergreifenden Pakt: eine Komplizenschaft, die auf eine konsequente Ausgrenzung, Strafverfolgung und Verurteilung verzichtete. Die Ära Adenauer als der große Friede mit den Tätern, Mitläufern und Wegsehern. In Ministerien und Gerichtssälen hielten ehemalige Parteigänger und Funktionsträger wieder Einzug, auch in den juristischen Fakultäten der Universitäten. Das alles ist bekannt – und wird gerne vergessen. (Helmut Ortner, Salonkolumnisten)
Besser spät als nie, soviel ist mal sicher. Aber es gibt so viele Bereiche, in denen die Zeit des Nationalsozialismus nicht oder nur unzureichend aufgearbeitet wurde. Wir hatten das Thema erst letzthin im Vermischten. Da stecken sehr viele Sensibilitäten dahinter, die versuchen, sich sauber zu halten, und die lange durch Zeitzeug*innen verdeckt wurden. Klar ist Palandt schon lange tot, aber sehr lange gab es eben Leute, die von ihm und den entsprechenden Nachkommen geprägt waren. Und niemand will da in einer Traditionslinie stehen, da versucht man dann lieber, das wegzurelativieren. Aber dank unermüdlicher Aktivist*innen werden diese Dinge auch heute noch aufgedeckt und neu thematisiert, und man kann dann endlich von dem Mist weg.
8) No Party Ever Tried What the Democrats Are Trying Now
After President Barack Obama enacted his roughly $800 billion stimulus package (about $1 trillion in today’s dollars), Michael Grunwald wrote a book christening it The New New Deal. “In constant dollars,” Grunwald calculated, “it was more than 50 percent bigger than the entire New Deal, twice as big as the Louisiana Purchase and Marshall Plan combined.” The proposal from today’s Democrats is 3.5 times bigger than that. Grunwald argued that Obama’s stimulus went beyond short-term crisis measures, citing a wide range of visionary investments, from genome sequencing to electronic health care recordkeeping to advanced battery development. In retrospect, though, it was largely incrementalism, albeit incrementalism on steroids. Biden is trying to lock down huge new programs that would directly alter daily life, which is more like the Old New Deal than the New New Deal. Not even FDR tried to wrap Social Security, the National Labor Relations Act, the Banking Acts, the Securities Act, the National Industrial Recovery Act, and the Relief Appropriation Act into a single bill. Nor did LBJ did try to bundle the Civil Rights Act, the Fair Housing Act, the Voting Rights Act, the Economic Opportunity Act, the Elementary and Secondary Education Act, the Food Stamp Act, the Urban Mass Transportation Act and the creation of Medicare and Medicaid. Look at what Biden is trying to do in one fell swoop: free preschool; free community college; long-term eldercare through Medicaid; new dental, hearing and vision benefits in Medicare; lower drug costs from new Medicare bargaining power; quasi-permanent extension of the recently expanded child tax credit; major green energy and climate mitigation investments; a pathway to citizenship for undocumented immigrants; and a tax code revamp to extract more revenue from the wealthy and corporations. This is not an exhaustive list. (Bill Scher, Washington Monthly)
Worüber Scher in seinem Artikel völlig hinwegweht, ist der Grund, warum die Democrats, anders als etwa Obama 2009/2010 oder Roosevelt in den frühen 1930er Jahren alle ihre Vorhaben in ein einziges, monumentales Gesetzeswerk gießen, mit all den Gefahren und Problemen, die das mit sich bringt: durch die Obstruktionshaltung der Republicans und die völlig aus dem Ruder gelaufene Anwendung des fillibuster ist es mittlerweile die ungeschriebene Regel des Politikbetriebs, dass ein demokratischer Präsident exakt ein Gesetz pro Jahr verabschieden lassen kann - über den Prozess der budget reconciliation, bei der eine einfache Mehrheit genügt. Dass es gelungen ist, einige Republicans für die infrastructure bill zu gewinnen, ist bemerkenswert genug. Aber da waren die Anreize für die eigenen Wahlkreise dann doch unwiderstehlich.
9) American government is heading for a climate-induced legitimacy crisis
Traditionally, when a government fails to address a giant, looming threat, it raises the chance of revolution. Now, such an event is quite scary, and both conservative and moderate forces have spent generations whipping up fear of Jacobins and guillotines. This leads to a common misconception, though — that revolutions are the result of people deciding to overthrow the government. As listeners of historian Mike Duncan's excellent Revolutions podcast can tell you, this gets the causality (mostly) backwards. Actions from revolutionaries of course do matter, but the primary causal factor in virtually every revolution in history has been the rottenness and incompetence of the status quo political regime. If a government can ensure a modicum of economic prosperity and keep a solid grip on the armed forces, revolutions almost never have a chance. [...] It follows that if one fears revolution, then by far the most important thing to do is to make the extant political system function. This was one of Franklin Roosevelt's main motivations for the New Deal — as historian Eric Rauchway writes in his book Winter War, FDR worried that if the Great Depression was not cured somehow, then either fascists or communists might topple the government. "The millions who are in want will not stand by silently forever while the things to satisfy their needs are within easy reach," he said in a 1932 campaign speech. (Ryan Cooper, The Week)
Das ist bei weitem kein amerikanisches Problem. Ich erwarte in näherer Zukunft keine Revolution, weder in den USA noch hier in Deutschland (oder Europa), aber der Legitimationsverlust der Regierungen ist erschreckend hoch. Das betrifft ja nicht nur die Klimakrise; wir haben es im Verlauf der Corona-Pandemie auch gesehen. Der Ursachenmix dafür ist vielfältig, aber sehr ähnlich in allen westlichen Demokratien. Die große Gefahr ist, dass wenn sich aus dem unambitionierten Mix von Un-Zumutungen (siehe Fundstück 10) dann doch mal jemand mit der nötigen Verve erhebt, die Problem anzugehen, die Legitimation dafür fehlt. Winter War habe ich übrigens hier besprochen.
10) Wie zerbrechlich ist die Demokratie?
An Laschets Strategie der Zumutungslosigkeit haben sich alle anderen Parteien angepasst, auch die Grünen. Die sind bei der Klimapolitik zwar notgedrungen ehrlicher als andere. Aber auch sie sagen nicht, was wirklich auf die Menschen zukommt. Wann immer sie ein halbwegs offenes Wort gesprochen haben, waren denn auch Geschrei und Empörung auf der politischen Gegenseite groß. [...] Am Ursprung der Demokratie lag häufig der Wille der Regierenden, die Bürger in die Pflicht zu nehmen. Denn die Mächtigen wussten spätestens seit der Französischen Revolution und den erfolgreichen Feldzügen des napoleonischen Heeres: Ein moderner Staat lässt sich nicht mehr ohne die Bevölkerung machen; die Menschen sollten loyal sein, zuverlässig ihre Steuern bezahlen, Solidarität entwickeln, treue Soldaten werden. Zumutung um Zumutung. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts der pommersche Aufklärer Gustav von Schlabrendorf dem preußischen Reformer Freiherr vom Stein herausfordernd erklärte, kein Staat käme mehr ohne republikanische Gesinnung aus, stimmte dieser gelassen zu und ergänzte: "Wir nennen’s Gemeinsinn." Die Republik erfordert es, über den eigenen Kreis hinauszudenken, das "Gemeinwohl" im Blick zu haben – eine anspruchsvolle, eine anstrengende Übung. [...] Der Parlamentarismus schließlich ist das Gehäuse all dieser Zumutungen. Er entlastet zwar die Bürgerinnen und Bürger, indem die Abgeordneten die zahlreich anstehenden politischen Entscheidungen übernehmen, doch zugleich muss die Bevölkerung diese Entscheidungen akzeptieren. Denn im repräsentativen System können die vom Volk gewählten Abgeordneten Entscheidungen gegen das Volk treffen. Auch schroffe Belastungen. Das ist sogar ihre Pflicht. So wie das Volk berechtigt ist, sich über diejenigen zu beklagen, die es gerade erst gewählt hat, so sehr ist es das Recht und die Aufgabe der Gewählten, auf Zeit auch gegen die Mehrheitsstimmung zu regieren. Dieses Verfahren befördert strukturell Veränderungen. Innerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens müssen die Abgeordneten die Welt gestalten, mutig sein, Korrekturen und Reformen angehen und der Bevölkerung die Mühen plausibel machen. (Hedwig Richter/Bernd Ulrich, ZEIT)
Ich empfehle unbedingt, den ganzen Artikel zu lesen, er ist es in meinen Augen absolut wert. Ich konnte hier nur Auszüge dokumentieren. Die Betonung von "Gemeinwohl" und "Gemeinsinn", über die Richter und Ulrich hier schreiben, ist ja tatsächlich seit Längerem außer Mode, selbst bei den linken Parteien (bei den Liberalen seit jeher; "no such thing as society" und so weiter, und bei der CDU auch).
Der Vergleich mit der Wehrpflicht als Bedingung beziehungsweise Ursache für Demokratie ist eine These, die Hedwig Richter in mehreren ihrer jüngsten Werke aufgemacht hat, wohl nicht zu Unrecht, historisch betrachtet. Ich frage mich, was das zeitgenössische Äquivalent wäre. Ich halte ja wenig von der Einführung eines allgemeinen Pflichtdiensts (da bin ich zu liberal für), und dem stünden ja, anders als im 19. Jahrhundert, auch keine Ausweitungen der Bürgerrechte entgegen. Wenn da jemand Ideen hat, bin ich gespannt.
Der letzte von mir zitierte Absatz hier über die Zumutung, dass die gewählten Repräsentant*innen eben Politik machen, die man nicht immer gut findet, gehört in das Gebiet meines "pet peeve" (kenne keine deutsche Entsprechung), dass die Leute alle nicht wissen, wie Demokratie funktioniert. Es wäre echt viel geholfen, wenn da nicht immer derselbe Bullshit verbreitet würde, aber ich fürchte, das können sowohl Menschen wie ich als auch qualifiziertere und promintere Personen wie Richter noch so oft sagen, das kommt einfach nicht an.
11) E-Bikers Ride Much Farther and More Frequently Than Regular Bikers
I have tried to make the case that e-bikes are often used differently than regular bikes, that people use them more often and go much farther, and have quoted a study which finds that e-bike riders get as much exercise as riders of regular bikes because they ride farther. Now a new study, "Do people who buy e-bikes cycle more?" gives us real numbers, and they are huge. Not only that, but the e-bikes are replacing cars more than they are replacing bikes. [...] The people who bought e-bikes increased their bicycle use from 2.1 kilometers (1.3 miles) to 9.2 kilometers (5.7 miles) on average per day; a 340% increase. The e-bike's share of all their transportation increased dramatically too; from 17% to 49%, where they e-biked instead of walking, taking public transit, and driving. The researchers call this the "e-bike effect," but worried that people might be riding so much because they just bought the bike and there is the novelty of it, so they are using it a lot, similar to what happens when people buy fancy gym equipment. They discounted this because in fact, people rode their e-bikes more the longer they had them; "it confirms previous findings indicating that people tend to go through a learning process where they discover new trip purposes for where to use the e-bike." (Lloyd Alter, Treehugger)
Inhaltlich besteht hier eine gewisse Verwandtschadt zu Fundstück 1: Obwohl es wissenschaftlich völlig klar ist und noch dazu rein von der Kohärenz zu der sonstigen Linie von CDU und FDP passen würde - das Angebot bestimmt die Nachfrage - weigert man sich beharrlich, die Fakten anzuerkennen. Stattdessen bleibt es die nicht nur wirklichkeitsfremde, sondern aktiv schädliche Forderung der CDU aus dem Wahlprogramm, einfach mehr Straßen zu bauen, was angesichts der jüngsten Katastrophen - Stichwort Flächenversiegelung - und der Notwendigkeit zur Eindämmung des Individualverkehrs völlig absurd ist. Es braucht Fahrradwege und Fahrradinfrastruktur, und wenn die existiert, werden mehr Menschen auf den Drahtesel umsatteln. Ich sage das mit besonderem Schmerz als jemand, der nahe an Stuttgart wohnt, eine besonders fahrradunfreundliche Stadt, deren sprichwörtliche Hässlichkeit durch die täglichen Blechlawinen nicht eben verbessert wird.
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