Ich kenne mich nicht mit Spieltheorie aus und habe deswegen heldenhaft der Versuchung widerstanden, in der Überschrift des Artikels zu behaupten, spieltheoretisch verschiedene Aspekte der Koalitionsbildung im Herbst untersuchen zu wollen. Aber ein Tweet des Ökonomen Rudi Bachmann brachte mir innerhalb von fünf Minuten drei verschiedene Regungen hervor: "Ja, macht Sinn", "nein, totaler Blödsinn" und "hm, muss ich drüber nachdenken". Das zeigt mir, dass die Überlegung grundsätzlich erleuchtend sein kann. Hier der fragliche Tweet:
Spekulation: koennte @c_lindner @ArminLaschet eine No-Ampel Garantie gegeben haben. Das wuerde zumindest erklaeren, warum Armin Laschet und die CDU sich nicht einmal mehr bemuehen. Er weiss, dass er gewinnt, no matter what. So aehnlich wie im CDU Parteivorstand.
— Rudi Bachmann (@BachmannRudi) August 26, 2021
Schauen wir uns das Ganze einmal näher an.
Ich möchte zu Beginn einige Prämissen aufstellen, die ich für ziemlich eindeutig halte.
- Wir werden nie erfahren, ob es eine solche Absprache gab.
- Christian Lindner und Armin Laschet regieren gemeinsam in NRW und haben nach allem was man weiß professionell wie persönlich ein sehr gutes Verhältnis.
- Christian Lindner würde am liebsten eine schwarz-gelbe Koalition mit Armin Laschet anführen.
- Wenn das nicht geht, würde er am liebsten eine Jamaika-Koalition mit Armin Laschet anführen.
- Christian Lindner möchte nach Möglichkeit keine Ampel-Koalition, aber wenn, dann unter Olaf Scholz.
- Egal in welcher Koalition, Christian Lindner möchte Finanzminister werden.
- Aber nicht um jeden Preis.
Ich halte diese Prämissen für ziemlich gegeben. Strittig ist durch Bachmanns Tweet nur Punkt 5. Hier stellt der Ökonom die These auf, dass Lindner eine heimliche Zusage gegeben hätte, dies auf keinen Fall zu verfolgen.
Meine erste Reaktion war "klar, kann schon sein". Die Grundlage dafür waren Punkt 2, 3 und 4: Lindner und Laschet mögen sich, arbeiten schon lange zusammen und haben eine klare und oft und offen zu Protokoll gegebene Vorliebe für eine Koalition zusammen. Die Programmatik ihrer Parteien deckt sich in vielen Bereichen, habituell sind sie sowieso eng beeinander. Die Festlegung sorgt außerdem dafür, dass Jamaika die erste Verhandlungsoption der Grünen sein muss.
Meine zweite Reaktion war "nein, das macht keinen Sinn". Grundlage waren auch hier die Punkte 2, 3 und 4. Welchen Wert solle so eine Aussage haben, also warum sollte sie Lindner treffen? Seine Präferenz ist völlig klar. Er will, wenn möglich, mit der Union koalieren. Die Ampel ist bestenfalls eine Notlösung. Für Laschet ist diese Festlegung daher wertlos - wenn er Kanzler werden kann, scheitert es eh nicht an Lindner -, während sie für Lindner, weil sie geheim ist, keinerlei Vorteile bringt, sondern nur eine einseitige Festlegung. In Bachmanns Szenario würde ja etwa Laschet sich nicht gegen Schwarz-Grün oder Schwarz-Rot festlegen, was Lindner wenigstens die Garantie der Regierungsbeteiligung brächte - so er sie denn will, aber erneut, wenn nicht, was gewinnt er dann mit der geheimen Festlegung? All die positiven Effekte, inklusive der Festlegung auf Jamaika, kämen ja nur mit einem öffentlichen Ausschluss, nicht mit einem geheimen.
Aber dann fiel mir auf, dass natürlich die Handlungen der anderen Parteien ebenfalls relevant sind. Und hier wird es generell. Welche Szenarien stehen überhaupt zur Verfügung? Machen wir zuerst die irrelevanten Optionen:
Rot-Rot-Grün oder Grün-Rot-Rot: Das kommt nicht zustande. Selbst wenn es arithmetisch reicht, ist die Mehrheit zu schmal und die LINKE vollkommen unfähig zur Regierungsbeteiligung. Dietmar Bartsch hat jüngst einen Vorstoß gestartet - er sagte, Deutschland müsse nicht aus der NATO austreten, es reiche eine Reform und Einbeziehung Russlands - aber das ist immer noch ein Non-Starter. Mein Tipp hier: wenn die LINKE ihre Sprache ändert und etwas in die Richtung fordert, dass "Deutschland auf eine Reform hinwirken soll" oder so was in der Art, dann ist es ernsthaft. Solange es eine klare programmatische Forderung ist kann das nichts werden, schon allein, weil die NATO-Partner niemals mitmachen. Die LINKE fordert effektiv immer noch den Austritt aus der NATO, da kann Dietmar Bartsch noch so sehr Wortmassage versuchen. Und daran scheitert jede Koalition.
Schwarz-Blau-Gelb: Eine rechnerische Mehrheit des rechten Lagers scheitert aktuell daran, dass die AfD keine demokratische Partei ist. Dazu kommt, dass es eine Bande von Neonazis und anderen unangenehmen Personen ist, die schon habituell überhaupt nicht zu CDU und FDP passen, trotz programmatischer Überlappungen und ideologischer Nähe.
Rot-Grün und Schwarz-Gelb: Die klassischen "Lager-Bündnisse" sind so weit jeder Realisierbarkeit, dass wir uns mit ihnen nicht beschäftigen müssen. Sollte es aus irgendwelchen Gründen arithmetisch reichen, werden die beteiligten Parteien sie ohne Zögern eingehen.
Kommen wir damit zu den unwahrscheinlichen Optionen:
Grün-Rot-Gelb: Eine Ampel unter grüner Führung erfordert eine Platzierung der Grünen vor der SPD und die Bereitschaft Christian Lindners, seine FDP unter die Führung einer grünen Kanzlerin zu stellen. Hier hat er sich weitgehend (wenngleich nicht absolut) festgelegt, dass das nicht passieren wird. Damit diese Koalition überhaupt eine Chance hat, müsste gleichzeitig eine Mehrheit für Jamaika unmöglich sein und die SPD klarmachen, dass sie für eine Koalition mit CDU und FDP nicht zur Verfügung steht. Letzteres ist weniger das Problem, aber insgesamt ist dieses Szenario mittlerweile ein völliger Außenseiter.
Grün-Schwarz: Aktuell gibt es keine arithmetische Mehrheit für dieses Szenario. Wenn es diese gäbe, müssten die Grünen zudem an der CDU vorbeiziehen. Beide Bedingungen sehen aktuell, höflich gesagt, eher unwahrscheinlich aus, scheitern aber mehr an der Arithmetik als an der grundsätzlichen Weigerung beider Seiten zur Zusammenarbeit. Ob die CDU bereit wäre, eine Kanzlerin Baerbock zu akzeptieren, ist aktuell völlig unklar und auch schwer vorhersehbar, weil der upset durch das entsprechende Wahlergebnis so groß wäre, dass Vorhersagen eh unmöglich sind.
Schwarz-Rot-Gelb: Die so genannte Deutschland-Koalition wird rechnerisch problemlos möglich sein und stellt aus Sicht der CDU kein großes Problem dar. Allerdings ist sie wenig attraktiv für die FDP, die hier mit zwei Status-Quo-Parteien koalieren und effektiv nur als Mehrheitsbeschaffer herhalten müsste, was keine attraktive Option ist. Mindestens so unwahrscheinlich aber ist das Szenario wegen der SPD, die nach 2017 kaum ein zweites Mal eine Regierung bilden wird, in der sie nur eine moderierende Funktion einnimmt.
Schwarz-Rot: Auch wenn es arithmetisch reichen sollte ist extrem unwahrscheinlich, dass die SPD für eine weitere Runde der ungeliebten Koalition bereit ist. Das Trauma von 2017 wird für die SPD deutlich unterschätzt, was angesichts der Bedeutung, die es für die FDP einnimmt, eigentlich verwundert.
Damit kommen wir zu den realistischen Optionen:
Schwarz-Gelb-Grün: Das wahrscheinlichste Szenario für den Herbst ist die Bildung der ersten Jamaika-Koalition im Bund. Alle Zeichen und Gespräche deuten seit Monaten darauf hin. Die größte Frage wird hier der Einfluss der Grünen sein. Sie werden mindestens doppelt so stark wie 2017 in die Verhandlungen gehen, und Lindner reklamiert für sich das Finanzministerium - das die Grünen auch haben wollen. Ich glaube allerdings nicht, dass die Verhandlungen an diesen Fragen scheitern werden, weil die Grünen zu erpicht auf die Regierungsbeteiligung sind - und Lindner auch wesentlich mehr als 2017.
Schwarz-Grün: Wenn es arithmetisch reicht, gibt es keinen Grund, Jamaika-Verhandlungen aufzunehmen. Egal, wie gut Lindner und Laschet miteinander können, die Grünen werden das nicht akzeptieren, und die CDU wird nicht bereit sind, Ministerien und Einfluss für die FDP aus "ihrem" Kuchen herauszuschneiden. In diesem Fall steht einer Zusammenarbeit zwischen Laschet und den Grünen nichts im Wege. Die beiden Parteien können problemlos miteinander.
Rot-Gelb-Grün: Die Außenseiterperspektive der Koalitionsoptionen ist die Ampel-Koalition unter Führung der SPD. Sie ist Olaf Scholz' einzige Chance ins Kanzleramt. Die wurde von keiner Seite explizit ausgeschlossen. Die Präferenz Lindners für die Jamaika-Koalition allerdings - die, erneut, hinreichend bekannt und öffentlich gemacht wurde - macht sie zu einer trickreichen Angelegenheit.
Und hier kommen wir nun zur eigentlichen Thematik um Bachmanns These zurück. Hat Lindner die Ampel-Koalition ausgeschlossen? Es hat einen Grund, dass wir immer wieder auf Christian Lindner zurückkommen. Im Guten wie im Schlechten hat er die Partei auf sich ausgerichtet. Die FDP ist in einem Ausmaß Christian Lindner, wie keine andere Partei mit ihrer Führungsfigur identifiziert ist. Das erlaubt ihm eine beispiellose Kontrolle und Kohärenz von Wahlkampf, Programmatik und Strategie, was solange gut funktioniert, wie Lindner als Marke funktioniert. Aktuell profitiert die FDP von seinen Beliebtheitswerten und Fähigkeiten. Aber das wird nicht ewig funktionieren. Dafür kann die FDP jederzeit die CDU fragen. Die kennt das.
Keine der wahrscheinlichen Regierungsoptionen mit Ausnahme von Schwarz-Grün kommt ohne die FDP aus. Und die weiß das. Deswegen ist das Verhalten Lindners auch entscheidend. Auf der einen Seite hat er alle Optionen. Auf der anderen Seite bereitet das allerdings auch einiges strategisches Kopfzerbrechen.
Nehmen wir für einen Moment an, Bachmann hat Recht, und Lindner hat Laschet versprochen, keinesfalls eine Ampel einzugehen. Bei der Wahl liegen nun entweder SPD oder Grüne (oder beide!) vor der CDU. In diesem Fall müsste Lindner öffentlich die demokratische Regel ignorieren, dass die stärkste Partei den Anspruch auf den Regierungsbildungsversuch hat, indem er nun verkündet, dass er keinesfalls eine Koalition eingehen würde. Und das ist für mich das größte Problem an Bachmanns These: was gewinnt Lindner dabei, das JETZT zu verkünden, anstatt vorher eine klare Festlegung zu treffen? Gegenüber allen, die die FDP in Hoffnung auf eine Ampel gewählt haben, wäre es glatter Verrat (sind nicht viele, klar, aber auch die gibt es). Generell aber würde die FDP als nicht vertrauenswürdig dastehen, denn warum hat sie eine solche Festlegung nicht vorher öffentlich gemacht, wenn sie existierte? Oder anders gefragt: was hat Lindner davon?
Denn im anderen Fall, wenn die CDU stärkste Partei wird, gibt es ohnehin entweder Jamaika oder Schwarz-Grün. Ich sehe also schlicht keinen Vorteil darin für Lindner, im Geheimen die Ampel auszuschließen. Bleibt also die Frage: warum tut er es nicht öffentlich? Dass sie nicht seine bevorzugte Koalition ist, ist klar. Der Grund dafür ist das Offenhalten von Optionen. Denn wenn SPD und/oder Grüne stärker sind als die CDU, die Regierungsbildung aber an einer kategorischen Verweigerung Lindners scheitert, muss dies nicht zwingend in Jamaika-Verhandlungen enden. Die Grünen könnten dann analog zur FDP 2017 erklären, kein Vertrauen in die Liberalen zu besitzen und Neuwahlen erzwingen. Das wäre eine Premiere für Deutschland, und auch eher unwahrscheinlich (weil extrem risikoreich), aber es ist eben ein Risiko für alle. Und nach 2017 ist es unklar, ob die FDP eine weitere geplatzte Regierung verantworten kann, ohne massive Einbußen zu erleiden.
Ein letzter Gedanke zu dieser Thematik betrifft die Führung der Ampel. Lindner hat sich ziemlich früh auf Baerbock und die Grünen als Hauptgegner eingeschossen. Das war auf der einen Seite cleverer Wahlkampf, weil sich die Grünen als Gegner sehr gut eignen. Aber auf der anderen Seite könnte es sich noch als echtes Problem herausstellen, denn wenn es wirklich zu einer Ampel kommt, hat die FDP programmatisch gesehen mit der SPD in Führung ironischerweise mehr zu verlieren als mit den Grünen. Denn die Verhandlungsposition der Grünen ist schlechter als die der SPD, und sie sind der FDP programmatisch näher als die SPD.
Warum? Olaf Scholz und die SPD haben in den vergangenen Jahren einen ziemlichen Wandel hingelegt. Scholz ist deutlich nach links gerückt, die Partei sowieso. Weder für Scholz noch für die SPD ist die Schwarze Null noch eine relevante Größe. All diese Positionen sind den Grünen egal, die gehen da glücklich mit. Aber sie sind keine grünen Kernthemen. Die FDP hätte es gegenüber einer Kanzlerin Baerbock vermutlich leichter, ihre deutlich ordoliberale Finanz- und Wirtschaftspolitik in die Koalition einzubringen, als bei einem Kanzler Scholz. Insofern könnte sich das Einschießen auf Baerbock noch als problematisch herausstellen. Andererseits erlaubt es der FDP überhaupt erst die Teilnahme an einer Ampel, weswegen Lindner da auch wenig andere Optionen hatte. Dieses Beispiel zeigt, warum alle Optionen zu haben und das Zünglein an der Waage zu sein nicht immer Vorteile haben muss.
Was ist also die Konsequenz? Die Wahl ist weiterhin ziemlich offen. Es gibt so viele Optionen wie selten zuvor, und noch kann eine ganze Menge passieren. Das erfordert von den Akteur*innen ein ziemlich geschicktes Agieren und Taktieren. Jede Festlegung kann sich später als Bumerang herausstellen. Wer heute glaubt, zuversichtlich eine Koalition für den Herbst vorhersagen zu können, lügt sich in die Tasche.
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