Wenn die Rede auf das so genannte Nation Building kommt - also der Versuch, als Besatzungsmacht einen demokratischen Staat aufzubauen - wird gerne auf die positiven Beispiele der Bundesrepublik Deutschland nach 1945/49 und Japan 1945/46 verwiesen. Länder, die die Welt mit Krieg überzogen und mörderische Regime hervorgebracht hatten, verwandelten sich in stabile Demokratien, die eine tiefe pazifistische Grundeinstellung hegten und den Pazifismus sogar in der Verfassung verankerten, nachdem sie beide zuvor als Inkarnationen des Militarismus gegolten hatten: hier das Erbe des preußischen Militärstaats, dort das Erbe von bushido und den Samurai. Gerne wird dann darauf verwiesen, dass die Besatzungstruppen hier Jahrzehnte im Land blieben beziehungsweise immer noch da sind, um auf den großen Zeithorizont des Nation Building zu verweisen. Dieser Vergleich führt aber aus mehreren Gründen in die Irre und ist wenig dazu angetan, irgendwelche Lektionen für Mali, Afghanistan, Irak oder andere solche Staaten zu bieten.
Das beginnt bereits direkt bei den Fakten. Die Besatzungszeit war jeweils nicht besonders lang: in Japan endete sie bereits 1952, in Deutschland vor allem aus außenpolitischen Gründen 1955 (ohne die französischen innenpolitischen Hindernisse wäre das Ende ansonsten eher 1953/54 erfolgt). Die Vorbehaltsrechte der Alliierten, die ein Eingreifen gegen einen möglichen rechten oder linken Putschversuch gestatteten, endeten 1968 mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze und waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit über einem Jahrzehnt ein Relikt, auf dessen Abschaffung die Alliierten selbst wesentlich energischer drängten als die Deutschen, die im innenpolitischen Streit die Verabschiedung von Notstandsgesetzen über zehn Jahre verzögerten.
Seither sind die alliierten Truppen - und das bedeutet, abgesehen von kleinen Pro-Forma-Kontingenten, sowohl im deutschen als auch im japanischen Fall vorrangig US-Truppen - als Freunde im Land. Die Basen, die sie nutzen, wurden ihnen in bilateralen Verträgen überlassen, in denen alle Details von der Einfuhr der Amazon.com-Bestellung bis hin zur Nutzung des Luftraums geregelt wurden. Deutschland wie Japan sind zentrale Drehscheiben und Standorte für die US-Armee; so ist Japan für die US-Flottenpräsenz in Pazifik unverzichtbar und fungiert als "unsinkbarer Flugzeugträger" und Sicherheitsanker für die ganze Region (ohne Japan könnten die USA etwa Südkoreas Sicherheit bei weitem nicht im selben Ausmaß garantieren, mit unabsehbaren Folgen für die Region); Deutschland enthält neben dem Flughafen Rammstein, der größten US-Basis außerhalb des Kernlands, das Afrika-Kommando und diverse Drohnensteuerungseinheiten. Man muss nur sehen, wie wenig Begeisterung im US-Militär für Trumps Truppenabzugspläne aus Deutschland bestand, um seine Wichtigkeit feststellen zu können.
Das macht Deutschland und Japan zu Partnern der USA, nicht zu Reparaturprojekten. Die USA haben ein konkretes Interesse an Deutschland und Japan, das perspektivisch über Jahrzehnte reicht. Ein Land wie Afghanistan dagegen hat nichts, das die USA interessiert. Die Anwesenheit hier war ein rein politisches Projekt, definiert einerseits durch das negative Bestreben, Afghanistan als Terrorbasis auszuschalten als auch andererseits durch den politischen Druck, nicht der Präsident zu sein, der den Abzug zu verantworten hat. Aber praktischen Nutzen und die damit einhergehende vertrauensvolle Zusammenarbeit gibt es nicht.
Doch das sind vergleichsweise unbedeutende, externale Gründe. Sie könnten durch genügend Engagement der USA theoretisch gesehen ausgeglichen werden. Aber Deutschland und Japan sind aus wesentlich tiefgreifenderen Gründen keine guten Vergleichsmaßstäbe.
Das liegt daran, dass beide Länder eine sehr lang zurückreichende liberale und demokratische Tradition besitzen. Der offensichtlichere Fall hier ist Deutschland. Seit spätestens 1813 können wir hier ein national und liberal orientiertes Bürgertum ausmachen. Demokratie, Nationalstaat und Rechtsstaat gehörten damals noch untrennbar zusammen (und sollten erst nach 1848 durch die Spaltung der Liberalen getrennt werden). Zwar scheiterten die Liberalen und Demokraten mit der Umsetzung ihrer Ideale sowohl 1814/15 als auch 1848 und 1871. Aber sie waren stets eine starke Kraft in Deutschland. Ab den 1870er Jahren wurden sie noch durch die ebenfalls unzweifelhaft demokratische Sozialdemokratie ergänzt, die spätestens mit dem Gothaer Parteitag auch den bürgerlichen Rechtsstaat bejahte.
Zwischen 1917 und 1930 wurde das Land zudem parlamentarisch regiert. Eine komplette Generation wurde demokratisch sozialisiert (auch wenn leider viele sich wieder von der Demokratie abwandten). Als die Alliierten 1945 einmarschierten, standen diese Leute bereits in den Startlöchern. Sie hatten sich teilweise bereits aktiv auf den Tag X vorbereitet, ihn teilweise auch nur herbeigesehnt. Aber kaum war die Naziherrschaft beseitigt, gründeten sich Ortsgruppen der alten Parteien: SPD, Liberale, Bürgerliche. Die Alliierten mussten diese Demokraten, die mit ihnen zusammen ein neues Deutschland aufbauen wollten, bremsen (und im sowjetischen Fall unterdrücken), um ihre eigenen Ziele umzusetzen. Der Kalte Krieg entfesselte dieses Potenzial dann vollständig.
Das heißt nicht, dass die Mehrheit der Deutschen 1945 demokratisch gewesen wäre. Aber ihre Zahl geht in die Millionen, und was noch viel wichtiger ist, sie konnten auf eine tiefe Kaderstruktur zurückgreifen, die nicht nur bis in die Weimarer Republik, sondern sogar bis ins Kaiserreich zurückreichte. Adenauer schließlich hatte seine politische Karriere noch in der Wilhelminischen Glanzzeit begonnen und war zwei Jahre älter als Gustav Stresemann, das Urgestein der Weimarer Republik! Selbst die Sowjets konnten auf eine recht große Zahl überzeugter Kommunisten und Sozialisten zurückgreifen, die bereit waren, das neue Deutschland unter sozialistischen Vorzeichen zu errichten (wenngleich wesentlich weniger breit verankert und erfolgreich als ihre demokratischen Gegenstücke im Westen).
In Afghanistan, um bei diesem Beispiel zu bleiben, fanden weder die Sowjets 1979 noch die NATO 2001 auch nur im Ansatz vergleichbare Strukturen vor.
In Japan ist der Fall etwas komplizierter. Das Land war nie vollständig demokratisch, wie es die Weimarer Republik gewesen war, es war allerdings sehr wohl ein liberales, parlamentarisches Staatssystem. Die auf dem britischen Westminster-Modell basierende Meiji-Verfassung stammt aus dem Jahr 1889 und ist damit nur rund 25 Jahre jünger als die Reichsverfassung. In den 1920er Jahren war Japan ein liberaler Musterstaat (wie ich hier ausführlicher thematisiert habe). Erst die Antwort auf die Weltwirtschaftskrise, bei der Japan, ähnlich wie Deutschland, sein Heil in territorialer Expansion zu finden glaubte, sorgten in den 1930er Jahren für eine starke Erosion des parlamentarischen Systems, die aber erst zu Beginn der 1940er Jahre durch einen Putsch abgeschlossen wurde. Fünf Jahre später stießen die Besatzungstruppen daher problemlos auf Kader, die zum Aufbau eines modernen Japan nicht nur fähig, sondern auch nur allzugerne bereit waren (es gehört zu den Perversionen der autokratischen Militärdiktatur, dass sie genau jene Kader identifizierten und bevorzugt als Kamikaze-Piloten rekrutierten, um genau diesen Aufbau zu verhindern).
Das einzig wirklich erfolgreiche Nation Building findet sich daher eigentlich in Südkorea. Und dieses war eher unbeabsichtigt. Der erste, parlamentarisch legitimierte Präsident Rhee Syng-Man war ein Autokrat, der die zarte Pflanze des Parlamentarismus beinahe zusammenstampfte. Nach seinem Rücktritt 1960 regierte für ein knappes Jahr die ersten und einzige parlamentarische Regierung jener Jahre, bevor 1961 Park Chung-Hee an die Macht putschte, der bis zu seiner Ermordung 1979 das Land als Diktatur führte. Weitere Diktatoren folgten bis 1987, als Roh Tae-Woo anbot, eine demokratische Verfassungsreform durchzuführen. Die USA hatten nie ein Problem, dass Südkorea eine Diktatur war; es diente als Bollwerk gegen den kommunistischen Nachbarstaat. Die südkoreanische Erfolgsstory als demokratischer "Tigerstaat" begann erst Ende der 1980er Jahre und eher als Zufallsprodukt, sicherlich nicht als Resultat der bis dahin bereits vier Jahrzehnte andauernden Stationierung von US-Truppen.
Es ist daher schwierig, diese drei Fälle als Vergleiche anzubringen, um Nation Building als aussichtslos oder erfolgversprechend (beides sind ironischerweise Lesarten dieses Vergleichs) abzuqualifizieren. So interessant die Nachkriegsgeschichte aller drei Staaten auch ist, um Umgang mit Mali, Afghanistan oder Libyen bieten sie praktisch keine Lektionen, die wir nutzen könnten. Hier steht ein erfolgversprechender Ansatz noch aus. Das bedeutet nicht, dass Nation Building und die Verbreitung westlicher Werte automatisch eine dumme Idee sind, und dass man die oft furchtbaren Zustände dieser Länder quasi als natürliche Lebensform dieser Menschen annehmen sollte. Aber es hilft eben wenig, auf die Bonner Republik zu verweisen, wo die Ausgangsbedingungen so offensichtlich andere waren.
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