Dienstag, 5. Oktober 2021

Eine erste Nachlese zur Bundestagswahl, Teil 2: FDP, Grüne, LINKE und AfD

 

Nachdem die Bundestagswahl nun eine Woche gelaufen ist und sich der Staub etwas gelegt hat, können wir nach der Blitzanalyse zum Wahlmontag auf den Bohrleuten einen etwas distanziereren Blick auf die Geschehnisse werfen. Ich habe kein übergreifendes Narrativ anzubieten und bin auch noch nicht vermessen genug, eine Rundumanalyse der Situation anbieten zu wollen; zu sehr ist alles noch im Flux und durch den „Nebel des Krieges“ verschleiert. Stattdessen werde ich nach Parteien geordnet einerseits versuchen, etwas mehr Analyse in die Ergebnisse zu bringen, den Wahlkampf noch einmal betrachten und die strategische Situation verdeutlichen. Gleichzeitig möchte ich auch versuchen, gegen einige eher dümmliche Narrative vorzugehen, die sich leider in der qualitativ nicht eben berauschenden Berichterstattung finden lassen. Und nun genug der Vorrede, in medias res.

Dieser Artikel ist eine Fortsetzung meiner Nachlese zur Bundestagswahl 2021. Teil 1 findet sich hier.

FDP

Wenn sich an der FDP diesen Wahlkampf etwas zeigt, dann, dass Erfolg und Misserfolg in dieser Wahl sich nicht (nur) an den Prozenten bemessen. Die FDP hat gemessen an ihren Umfragen etwas unter dem teilweise prognostizierten Potential abgeschnitten, aber bei keiner Partei war, abgesehen von den individuellen Mandaten, in diesem Wahlkampf so egal, ob es am Ende 9, 11 oder 13 Prozent werden. Die Stärke der FDP bemisst sich in ihrer strategischen Position als Zünglein an der Waage. (Fast) keine Koalition kann ohne sie geschlossen werden, und es war letztlich an Lindner und seiner Truppe, die Bedingungen zu stellen. Unabhängig von ihren Prozenten kämpft die FDP oberhalb ihrer eigenen Gewichtsklasse. In jeder Koalition sind sie der kleinste Partner, aber Lindner platzte bereits im Wahlkampf fast vor Selbstvertrauen - völlig zu Recht, angesichts des professionellen Wahlkampfs und eben jener strategischen Positionierung.

Auch wenn sich die Umfrageträume nicht vollständig erfüllt haben, braucht sich Lindner wahrlich nicht zu verstecken. Seine Liberalen sind stabil zweistellig, haben die AfD solide deklassiert und auf die Rolle der kleinsten "echten" Bundestagsfraktion zurechtgestutzt. Das Ergebnis der Wahl hat bei der FDP die wenigsten Überraschungen hervorgebracht, einfach weil ihre strategisch-professionelle Positionierung solche Überraschungen extrem unwahrscheinlich gemacht hat. Man darf durchaus den Hut vor den Strateg*innen der Partei ziehen.

Die einzige wirkliche Überraschung war das starke Abschneiden der Partei bei den Erstwählenden. Mit einem knappen Prozent Vorsprung raubten die Liberalen diesen Titel den Grünen, die bisher immer die natürlichsten Anwärter darauf gewesen waren und in vielen Erhebungen (und Wahlen!) jenseits der 30% bei den Erstwählenden verbuchten. Diese Gruppe ist zwar klein, aber sehr symbolträchtig, vor allem in dem, was sich gerade gerne als "Zukunftskoalition" in Szene zu setzen versucht. Die SPD präsentiert sich jung und divers. Die FDP wird von jungen Menschen gewählt. Ein feiner Unterschied möchte man meinen, aber sicher kein unbedeutender. Ob es sich dabei um ein Ausnahmeereignis gehandelt hat oder nicht, werden wir erst bei der nächsten Bundestagswahl sehen können.

Bedauerlich ist vor allem die Masse an miesen Meinungsstücken, die seit der Veröffentlichung der Zahlen zu lesen waren und die irgendwelche blödsinnigen Narrative oder persönliche Vorlieben als Analyse verkauften. Zwei Dinge stehen bezüglich der Erstwählenden fest.

Erstens, KEINE Partei kann wirklich für sich verbuchen, "die" Erstwählenden/jungen Menschen auf ihrer Seite zu haben. Die FDP hatte 23%, die Grünen 22%. Beides liegt unter dem Wahlergebnis der SPD, und wir würden nie behaupten, dass die Sozialdemokraten für "die" Deutschen stehen. Die FDP war attraktiver als bisher für Erstwählende, und die Grünen weniger. Das ist bereits eine deutliche Verschiebung, aber sie wird gerade notorisch überspitzt - übrigens ähnlich wie vor zwei Jahren, als unter Konservativen blanke Panik ausbrach, weil scheinbar alle Menschen dieser Altersgruppe Greta zu sein schienen, was genauso übertrieben war.

Zweitens, die Gruppe der Erstwählenden ist ziemlich klein. Sie ist daher weniger für das Gesamtergebnis relevant als wegen der Signalwirkung, die von ihr ausgeht. Die grundsätzliche Tendenz haben wir bereits länger - CDU und SPD weit abgeschlagen, LINKE und AfD einsame Schlusslichter, Sonstige sehr hoch im Kurs. Diese Wahl hat auch bei der SPD einen Anstieg gesehen (15% gegenüber den 10% der CDU, wo die beiden normalerweise fast gleichauf lagen), aber das Signal zeigt ziemlich deutlich, dass eine Pluralität der Erstwählenden unter den etablierten Parteien grün oder gelb wählt.

Fragt sich, woran das liegt. Und um es deutlich zu machen: aktuell weiß das keiner so genau. Erstwählende sind weitgehend unerforscht und werden auch kaum in Umfragen besonders berücksichtigt. Aktuell klatschen alle nur ihr Lieblingsnarrativ auf das Phänomen. Da liest man, dass die Erstwählenden natürlich individueller und deswegen an Aktien interessiert sind und daher FDP wählen, oder man liest, dass sie alle doof und/oder manipuliert sind und nicht verstehen, dass die FDP ihre Zukunft zerstört. Ich erspare mir in beiden Fällen, auf den Unfug zu verlinken. Was wir aktuell haben, ist anekdotische Evidenz, bestenfalls. Die meisten Leute schreiben schlicht ihre Vorurteile runter. Da ich relativ leichten Zugang zu anekdotischer Evidenz habe (sehe ich doch fünf Tage in der Woche Erstwählende, die zudem nicht weglaufen können) habe ich meine eigenen Fragen gestellt. Zwei Faktoren wurden mir genannt:

Erstens haben wir die Bedeutung finanziellen Wohlstands für die Zukunftspläne, und natürlich ist keine Partei ideologisch so mit zukünftigem Wohlstand verknüpft wie die FDP. Hier verbindet sich also die Hoffnung auf eine gute Zukunft mit der Wahlentscheidung, und es scheint mir durchaus bemerkenswert, dass dieser Wohlstand mit Börse, Finanzanlagen und Einzelarbeitsverträgen assoziiert wird. Da haben gewisse andere gesellschaftliche Gruppierungen durchaus Werbung für Tarifverträge zu machen, wenn sie konkurrieren wollen. Dazu wurde bessere Arbeit in sozialen Netzwerken genannt. Nun sind die sozialen Medien sicherlich nicht wahlentscheidend, aber dass die 18-22jährigen diese mehr nutzen als die CDU wählenden Rentnerkohorten dürfte keine sonderlich gewagte Annahme sein, und dass die FDP besseren Wahlkampf als die Grünen machte, haben wir bereits etabliert.

Ich habe noch eine zusätzliche eigene Theorie auf diesen multikausalen Haufen zu werfen: Die Assoziation der Grünen mit Verboten schadet ihnen in dieser Altersgruppe ebenfalls massiv, vor allem das Tempolimit. Wann immer wir im Rahmen des Deutschunterrichts (Erörterung) auf dieses Thema kommen, habe ich eine SEHR lebendige Klasse vor mir, die wesentlich engagierter für ihr Recht, den elterlichen Boliden über die Autobahn zu jagen, streitet als für irgendetwas anderes (ganz besonders Klimawandel im Übrigen, der keine solche Begeisterung weckt). An und für sich ist das wenig überraschend, weil Rasen nun einmal eine Provenienz der Männer und der Jugend ist. Aber auch hier gilt - keine Ahnung ob das stimmt und wenn ja, wie viel es ausmacht. Wir werden das weiterhin beobachten müssen.

Oh, und natürlich sehe ich meine Analyse eines grün-gelben "Fortschrittslagers" angesichts dieser Ergebnisse einmal mehr bestätigt. Auch etwas, das mir anekdotisch so wiedergegeben wurde. Den selbstreferenziellen Jubler müsst ihr mir erlauben.

Die Grünen

Ich weiß ehrlich gesagt nicht großartig, was ich zum Ergebnis der Grünen schreiben sollte, was ich nicht bereits vorher in Artikeln und Podcasts gesagt habe. Das Ergebnis ist gemessen an 2017 toll und gemessen am Potenzial ein Desaster, und nicht einmal die fanatischsten Anhänger*innen der Partei versuchen, es sonderlich schönzureden. Es war zu einem guten Teil das Ergebnis eines miesen Wahlkampfs, und der war zu einem guten Teil in der Verantwortung der Spitzenkandidatin und ihrer Fehltritte. Man kann nur hoffen, dass die Partei davon gelernt hat.

Einen einzigen zusätzlichen Kommentar hätte ich zu der These, dass Baerbock Opfer von Männerintrigen wurde. Sie wird aus dem progressiven Lager gerade immer wieder geäußert. Für mich ist die Situation sehr vergleichbar mit Hillary Clintons Niederlage 2016. War Baerbock Opfer von Sexismus? Unzweifelhaft. War das ausschlaggebend? Unzweifelhaft nicht. Sie wurde Opfer zahlreicher Fehler, Unterlassungen und geradezu wahnwitzigen Entscheidungen, die sie teils selbst getroffen hat, die teils von der Partei als Ganzem getroffen wurden. Da kam der Sexismus noch oben drauf, aber ich wäre überrascht, wenn er mehr als 0,5% am Wahlergebnis geändert hätte, und angesichts dessen, dass die Partei eher 5% unter ihrem Potenzial lag und 10% unter ihren Höhenflügen - sorry, doesn't fly.

Die LINKE

Die Grünen haben ja schon miesen Wahlkampf gemacht, aber wenigstens hatten sie hübsche Plakate. Die LINKE hatte nicht mal das. Marco Herack kritisiert den 1980er-Jahre Stil des LINKEn-Wahlkampfs, und das trifft den Nagel auf den Kopf. Völlig uninspirierte, inhaltslose Slogans, die eine Müdigkeit ausstrahlen, wie sie Susanne Hennig-Wellsow vermutlich persönlich erspürt, beurteilt man das von ihrem Auftritt in der "Elefantenrunde" nach dem Wahlabend. Ich muss echt sagen, ich bin froh, dass ich mich nicht mehr in den linken Filterblasen aufhalte, weil das bisschen, was ich da an Quatsch mitkriege, geht auf keine Kuhhaut. Ich will exemplarisch nur einmal Lutz Herdens Analyse im Freitag heranziehen, die sich weniger wie eine Analyse und mehr wie eine Bankrotterklärung liest:

Was ist so schwer daran zu begreifen, dass ein Wahlkampf des Anbiederns und Anbietens ein riskantes Unterfangen ist? [...] Wem das Urteilsvermögen abgeht, dies nüchtern zu analysieren und daraus den Schluss zu ziehen, mit dem Wahlkampf einer Illusion aufgesessen zu sein, schadet der Linkspartei und der Linken. Soviel steht außer Frage, für die Linke in Deutschland ist mit einer geschwächten Linkspartei nicht viel zu gewinnen. Von der Partei ist vor allem eines zu erwarten: dass sie ihre Möglichkeiten ausschöpft, statt sich an Unmögliches zu verschwenden und das Erbe Oskar Lafontaines zu verspielen. Erst sein Eingreifen 2005 hat bewirkt, dass sich relevante Milieus der westdeutschen Sozialdemokratie und Gewerkschaftsszene einem gesamtdeutschen linken Projekt öffneten. [...] Insofern konnte es für den zurückliegenden Wahlkampf nur ein Leitmotiv geben: Wir sind eine selbstbewusste und selbstständige Partei, der es gegen die Ehre geht, SPD und Grünen Mehrheitsbeschaffer oder Steigbügelhalter zu sein. Wir werden uns nicht verweigern, sollte uns Koalitionen angetragen werden, aber nur dann eintreten, wenn wir uns dabei nicht verleugnen. Warum also keinen Wahlkampf führen, der Rivalität und Gegnerschaft zu Sozialdemokraten und Grünen klar benennt? Nur wer zu sich selbst steht, kann überzeugen. Sich hier Leninscher Paradigmen zu entsinnen, als dessen SDAPR aus hoffnungsloser Unterlegenheit heraus durch Klarheit und Konsequenz vorankam, kann nicht schaden. Erst studieren, dann abwinken.

Na klar, Freunde, euer Problem war, dass ihr nicht entschlossen genug bekräftigt habt, nie Verantwortung in diesem Laden übernehmen zu wollen. Klar. Das ist inzwischen der Job von der AfD, und wenn jemand bei der LINKEn glaubt, mit Bekenntnissen zum Sozialismus die werktätigen Massen wieder begeistern zu können habe ich irgendwo noch eine Studierausgabe "Karl Marx Gesammelte Werke" rumliegen. Das hat nie funktioniert und wird nie funktionieren. Eine LINKE, die "ihre Gegnerschaft zu SPD und Grünen klar benennt" ist unnötig. Eine LINKE, die in SPD und Grünen ihre Hauptgegner sieht, ist einfach nur Gift, die kann weg.

Gregor Gysi sieht das etwas klarer und redet davon, die "Ostidentität wiederzufinden". Denn das ist die wahre Geschichte hier. Die LINKE hat ihre Machtbasis im Osten verloren, und im Westen war sie immer so schwach, dass es da nicht viel zu verlieren gab. Nicht, dass Sahra Wagenknecht das nicht auch geschafft hätte; nach zwei vergeblichen Versuchen, die Partei zu spalten, hat sie immerhin 3,7% der Stimmen in ihem Wahlkreis bekommen. Aber der Grund dafür, dass die Partei beinahe aus dem Bundestag geflogen wäre (und es leider dank dreier Direktmandate doch knapp geschafft hat) liegt in dem Bedeutungsverlust im Osten. Darauf hat sie nur teilweise Einfluss, denn die Faktoren, die diesen Bedeutungsverlust mit bedingen, entziehen sich ihrer Kontrolle (wir reden gleich bei der AfD genauer darüber).

Aber die LINKE hat die Bedingungen dafür mit geschaffen. 30 Jahre lang hat sie beharrlich die Botschaft transportiert, Anwältin der Klagen, des Kummers und des Grolls der Ostdeutschen zu sein, die vom bösen Westen ausgeplündert und liegengelassen wurden. Diese Saat hat Früchte getragen, und eine komplette Generation nach dem Mauerfall ist zumindest MDR-Land eine einzige Parallelgesellschaft (es ist bemerkenswert, wie sehr die Wahlergebnisse der AfD und das Sendegebiet des MDR korrelieren). Nun erntet jemand anderes, und die LINKE hat keine Ahnung, wie sie darauf reagieren soll.

AfD

Die AfD war durch den gesamten Wahlkampf hindurch bombenstabil und fuhr eine für die generelle Dynamik weitgehend irrelevante Kampagne, wie ich ja bereits im Vorfeld analysiert hatte. Dass sie gegenüber 2017 Verluste machen würde war von Anfang an klar, schon allein, weil das mediale Umfeld nicht halb so günstig für die Partei war. Die größte Geschichte ist die Bedeutungsverschiebung, denn die Gewinne und Verluste der Partei sind regional unglaublich stark konzentriert. Die größten Verluste erlitt die Partei im Westen, wo sie stabil in den einstelligen Bereich zurückgerutscht ist, während sie in MDR-Land weitgehend zur stärksten Partei aufgerückt ist.

Das ging zu einem Gutteil auf Kosten der LINKEn, aber die zweite Verliererin ist die CDU, die ebenfalls keine Machtbasis mehr hat. Ein besonders krasser Fall ist Sachsen, wo einst König Kurt uneingeschränkt regiert und die CDU heute der Juniorpartner einer blau-schwarzen Koalition wäre, so man den Ekel hinunterschlucken könnte, mit Neonazis ins Bett zu steigen. Hört man den CDU-Landesverbänden Thüringens, Sachsens und Sachsen-Anhalts zu ist das nur noch eine Zeitfrage, und eine, deren Horizont noch in 202X beantwortet werden muss.

Ansonsten gibt es zur AfD wenig zu sagen. Als einzige Partei trat sie explizit nicht mit Regierungsanspruch an und ist zufrieden damit, Komplettblockade und Demokratievergifterin zu sein. Deswegen stinkt auch die LINKE so ab - wer dem Establishment den Mittelfinger zeigen will, bekommt in der AfD eine wesentlich aufregendere Alternative, als dies die LINKE je sein könnte, die im Kern eine demokratische Partei ist, ganz im Gegensatz zu den blau-braunen Horden. Der einzige Hoffnungsschimmer den wir gerade haben ist, dass die demokratischen Brandmauern halten. Und aktuell wenigstens tun sie das.

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