Montag, 4. Oktober 2021

Eine erste Nachlese zur Bundestagswahl, Teil 1: CDU und SPD

 

Nachdem die Bundestagswahl nun eine Woche gelaufen ist und sich der Staub etwas gelegt hat, können wir nach der Blitzanalyse zum Wahlmontag auf den Bohrleuten einen etwas distanziereren Blick auf die Geschehnisse werfen. Ich habe kein übergreifendes Narrativ anzubieten und bin auch noch nicht vermessen genug, eine Rundumanalyse der Situation anbieten zu wollen; zu sehr ist alles noch im Flux und durch den "Nebel des Krieges" verschleiert. Stattdessen werde ich nach Parteien geordnet einerseits versuchen, etwas mehr Analyse in die Ergebnisse zu bringen, den Wahlkampf noch einmal betrachten und die strategische Situation verdeutlichen. Gleichzeitig möchte ich auch versuchen, gegen einige eher dümmliche Narrative vorzugehen, die sich leider in der qualitativ nicht eben berauschenden Berichterstattung finden lassen. Und nun genug der Vorrede, in medias res.

SPD

Am erklärungsbedürftigsten bleibt sicher das Ergebnis der SPD. Gemessen an den Umfragen vor einem halben Jahr hat die SPD fast zehn Prozent gewonnen, die Grünen dagegen fast zehn Prozent verloren. Diese Wählendenwanderung war aber nicht identisch; wir wissen, dass die SPD viele Wählende von der CDU gewonnen hat. Wie in allen Fällen ist nicht eine einzige Ursache entscheidend für den Sieg, aber ich denke grundsätzlich lassen sich einige Kernpunkte herausarbeiten:

  • der professionelle Wahlkampf, den ich bereits vor der Wahl analysiert habe, und die Geschlossenheit der Partei;
  • die Symbiose von linkem Parteiprogramm und moderaten Kandidaten (Robert Misik etwa vergleicht Scholz mit Biden und argumentiert für den Linkskurs als entscheidendem Merkmal, ein Argument, das ich vor dem Hintergrund des von mir beschriebenen Paradigmenwechsels für überzeugend halte);
  • die Fehler der Hauptgegner, der CDU und Grünen, die beide furchtbar schlechte Wahlkämpfe abgeliefert haben (ebenfalls hier analysiert);
  • die Wechselstimmung im Land, die gleichwohl durch eine Sehnsucht nach Beständigkeit und Stabilität flankiert wurde und damit dem Angebot des SPD-Programms und Kandidaten exakt entsprach.

Zu einem guten Teil also gewann die SPD wegen der Hilfe des aus den 1960er Jahre bekannten "Genossen Trend", zu einem anderen guten Teil wegen der Fehler ihrer Gegner. Glück gehört eben auch dazu. Gegen Angela Merkel wäre dieses Paket nicht sonderlich hilfreich gewesen. Aber die SPD führte neben der FDP auch den professionellsten Wahlkampf. Zusätzlich zu den von mir bereits beschriebenen Faktoren ist mittlerweile die Social-Media-Strategie mit ins Bild gerückt. Für deren überrachenden Erfolg essenziell war die Verwendung von parteinahen, aber nicht parteiidentischen Influencer*innen, die die zahlreichen Fehler der Gegner in den Mittelpunkt rücken konnten, ohne dass die Partei selbst dafür verantwortlich schien (mit der Ausnahme des missratenen und schnell zurückgezogenen Clips über Laschets Verbindungen zum Opus Dei).

Die SPD inszenierte sich aber auch sehr erfolgreich als "Neue Mitte", wie Mark Schieritz das beschreibt. Die überwältigende Botschaft, nie explizit ausgesprochen, aber stets implizit dabei, war die "Versöhnung" von Klimaschutz und Arbeit. Der Löwenanteil der Wählenden betrachtet die Klimakrise inzwischen als eines der größten Probleme des Landes (wer das nicht tut wählt die Klimawandelleugnerpartei AfD). Aber gleichzeitig will niemand Einschnitte in den bisherigen Lebensstandard. Die Fähigkeit, dies zu vereinigen, war bisher das Erfolgsrezept Angela Merkels gewesen. Nun übernahm es direkt Scholz mit der SPD und etablierte sich in dem Vakuum der Mitte, das Merkels Abgang (nicht Merkel selbst!) hinterließ. Auf dieses Motiv kommen wir aber unten bei der CDU noch zu sprechen.

Die SPD ist aber nicht nur Profiteur guten Marketings. Die Partei ist definitiv programmatisch nach links gerückt, nur eben dort, wo sich Wahlen gewinnen lassen: auf ökonomischem Gebiet. Sie überließ es den Grünen (und absurderweise der CDU), den Fallout des backlashes gegen die gesellschaftliche Modernisierung abzubekommen, und vollzog diesen Wandel im Stillen. Der beruhigende alte, weiße Mann an der Spitze gefährdete anders als die junge Frau bei den Grünen nicht alteingesessene Reflexe - mindestens an dieser Stelle passt der Vergleich zu Joe Biden. Hinter Scholz aber steht eine signifikant junge und diverse Partei. Einerseits. Wir sehen das etwa beim Migrationshintergrund:

Die SPD ist beim Migrant*innenanteil weiter als selbst die Grünen! Diese punkten zwar beim Frauenanteil (58%, einsamer Spitzenreiter), aber die SPD braucht sich da zweitplatziert mit 42% auch nicht zu verstecken. Ich habe keine Statistik für das Alter der MdBs gefunden, aber allein 49 der 206 Abgeordneten sind JuSos! Die SPD hält mit dieser Zusammensetzung auch nicht hinter dem Berg; stattdessen sehen wir eine triumphale Selbstdarstellung:

Die Sozialdemokraten greifen mit beiden Händen nach dem Mantel der Führerschaft im progressiven Lager, der den Grünen bereits Ende April entglitten ist, aber sie tun es erst jetzt, nach der Wahl. Das ist sicher clever. Und bevor jemand angesichts der vielen JuSos schon Kevin Kühnert als neues Machtzentrum ausrufen will: ein großer Teil dieser MdB hat neben der Verbindungen zur Jugendorganisation auch starke Bindungen ins gewerkschaftliche Lager, und das ist noch immer der sicherste innerparteiliche Garant zur Verhinderung eines wie auch immer gearteten "Linksrutschs". Überhaupt scheint mir die wiederstarkte Bindung der Gewerkschaften zur SPD ein deutlich unteranalysierter Faktor bei ihrem Wahlerfolg zu sein.

Aber die Partei hatte - auch hier Zeichen ihrer den Grünen und der CDU wesentlich überlegenen Strategie - auch von Anfang an einen Plan. Olaf Scholz' Bekenntnis noch in der Wahlnacht, nicht nur eine Ampel anzustreben, sondern auch mit dieser Koalition 2025 zur Wiederwahl antreten zu wollen, zeugt von großem Weitblick. Sie sollte auch die Wände im Adenauer-Haus beben lassen. Bereits in meinem 2018 erschienen Artikel zur strategischen Lage einer Ampel-Koalition hatte ich darauf hingewiesen, welche Folgen das für das Parteiensystem haben würde. Ich muss ehrlich zugeben, dass diese Erkenntnis bei mir erst Ende der letzten Woche wirklich einsank, aber wenn Scholz' Plan aufgeht, erreicht er damit den feuchten Traum aller SPD-Parteistrateg*innen seit 2005: die Isolierung der CDU.

Zeichnen wir zum Abschluss kurz das Szenario. Es ist 2025. SPD, Grüne und FDP schauen auf eine Legislaturperiode ohne größere Katastrophen zurück, die einige profilierte Reformprojekte hinbekommen hat. Sagen wir einfach: Aktienrente, Cannabislegalisierung und eine ordentliche CO2-Bepreisung. Nichts Spektakuläres, aber alles in allem solide Regierungsarbeit, für jeden Koalitionspartner etwas dabei. Im Frühjahr 2025 erklären Lindner, Habeck/Baerbock und Scholz, wie glücklich sie zusammen sind und dass sie sich um ein weiteres Mandat bewerben. Die Grünen erklären tapfer, dieses Mal stärkste Partei werden zu wollen, aber eigentlich ist allen Beteiligten klar, dass Scholz Kanzler bleibt. Möge der Bessere gewinnen, erklärt Lindner mit großzügigem Lächeln, kleiner Wettbewerb unter Freunden; die FDP bleibt so oder so die kleinste der beteiligten Fraktionen, aber das Finanzministerium ist sicher, damit die Veto-Macht und de facto mehr Einfluss im Kabinett als Habeck und Baerbock zusammen. Da kann man schon großzügig sein, wenn es um Wahlkampfrhetorik geht.

Aber was macht die CDU? Sie hat keine Koalitionspartner. Soll sie behaupten, die absolute Mehrheit anzustreben? Da müsste schon das eine oder andere politische Erdbeben vorübergezogen sein. Eine Koalition mit der AfD? Ausgeschlossen, auch wenn zwanzig bis dreißig Abgeordnete nicht müde werden, in Interviews zu betonen, dass man sich das schon vorstellen könnte, wenn die AfD eine formelle Erklärung abgibt, den Rechtsstaat achten zu wollen. Die LINKE ist ebenfalls raus. Die CDU hätte schlicht keine realistische Machtoption.

DAS ist der Heilige Gral für die SPD, und sie ist ihm zum Greifen nah. Es wäre dieselbe Situation für Scholz, wie Merkel sie für drei Legislaturperioden genoss: keine Regierung gegen uns. Es gibt wesentlich schlimmere Ergebnisse, und wenn das alles so kommt, kann man nur den Hut vor den Sozialdemokraten ziehen.

CDU

Im Gegensatz dazu steht die CDU vor einem Scherbenhaufen. Es bleibt meine Analyse, dass die CDU sich nun ziemlich exakt in der Position befindet, in der die SPD in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre war. Die Partei besteht aus zwei Lagern, die einander spinnefeind sind und völlig unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft der Partei haben. Da sind einerseits die Modernisierer, die gerade einen Verteidigungskampf bestreiten, aber der Überzeugung sind, dass die Zukunft der CDU nur darin bestehen kann, diesen Kurs fortzusetzen - ähnlich den Agenda-Befürworter*innen anno 2005. Da sind andererseits die Konservativen, die das Grundübel der CDU als eine Abkehr von ihren Wurzeln und einer ideologischen Entkernung sehen und der Überzeugung sind, dass nur ein Rechtsruck die "verlorenen Stammwähler" (Merz) wieder zurückholen könnte - ähnlich den SPD-Parteilinken, die die ganze Schröder-Ära als ideologische Entkernung der SPD betrachteten und in einem entschlossenen Linksschwenk zurück die Erlösung sahen.

Dass Letztere falsch liegen steht eigentlich außer Frage. Der Politikwissenschaftler Constatin Wurthmann schreibt zutreffend, dass die Vorstellung, die CDU müsse sich nach rechts profilieren, sämtliche Erkenntnisse der Wissenschaft ignoriert. Auch die Wahl selbst zeigt das deutlich. Philipp Amthor und Hans-Georg Maaßen verloren beide ihr Direktmandat, Friedrich Merz behauptete seines mit Verlusten, gegenüber denen Anna-Lena Baerbock eine erfolgreiche Wahlkämpfende war (gemessen an den Werten, die zu Jahresbeginn erhoben wurden). Umso lauter schreien diese Leute nun.

Ich gehe davon aus, dass die CDU denselben Prozess wie die SPD wird durchlaufen müssen und am Ende eine neue Politik, eine neue Botschaft finden müssen. Auch für die SPD brachte weder die 2005-2009 betriebene Vertiefung des Agenda-Kurses noch die darauffolgende halbgare Abkehr die Erlösung; erst die Kombination 2021 zeigte sich als tragfähig. Die CDU muss hoffen, dass sie dieses Neue (was auch immer es sein wird) schneller findet als die SPD. Ich wünsche ihr jedenfalls viel interne Streits und Konflikte, verschlissene Parteivorsitzende und verlorene Wahlen. Sie hat es sich redlich verdient.

Diese Probleme gehen auch über den Spitzenkandidaten hinaus. Vielleicht hätte Markus Söder besser abgeschnitten, aber seine charakterlichen Probleme erlaubten theoretisch einen radikalen Umschwung in der Wählendengunst, der ihn am Ende auf dasselbe Niveau gebracht hätte. Klar, gegen Laschet schnitt er super ab, aber das Gras ist auf der anderen Seite immer grüner. Stoiber schien auch die bessere Wahl als Merkel zu sein. Aber dollar to doughnuts, dass der Republik schnell wieder aufgefallen wäre, die wenig sie eigentlich Bayern und die CSU mag, wenn Söder erst einmal im Zentrum des Wahlkampfs gestanden hätte. Und was für Skelette man aus den fränkischen Kellern hätte ziehen können, will man sich gar nicht ausmalen (bei der CSU gleicht JEDER Keller einer politischen Katakombe).

Das größte Problem aber ist die Partei selbst. Der Frauen- und Migrant*innenanteil ist erbärmlich, wie etwa Tobias Bringmann wütend bemerkt:

Die Verweigerung der CDU, die gesellschaftliche Modernisierung nachzuvollziehen und sich endlich eine Quote zu geben, ist nur ein Teil des Problems, aber es ist symptomatisch. Leute wie Maik Beermann, die sich lautstark darüber beschwerten, dass die Quote dafür sorge, dass unqualifizierte Frauen in Spitzenpositionen kämen - nachdem er sein Bundestagsmandat gegen eine Frau verlor, und damit alle Vorurteile bestätigte, die gerade Progressive gegenüber dieser Kritik hegen. Im Gegensatz zur FDP, die grundsätzlich dasselbe Problem hat, gibt es bei der CDU aber nicht das ausgleichende Element einer Ideologie der Individualität und der Meritokratie, der Jugend und Offenheit. Was bei der FDP wie ein bedauerlicher Umstand wirkt, wirkt bei der CDU wie Absicht.

Anders als bei allen anderen Parteien fällt bei ihr der Unterschied zwischen Selbst- und Fremdbild am weitesten auseinander, kurz: Die CDU ist in ihrer Selbstwahrnehmung wesentlich "mittiger" als in ihrer Fremdwahrnehmung. Das ist ein Problem, denn es erlaubt der CDU nicht ehrlich zu sehen, wie rechts sie tatsächlich bereits ist (eine Dynamik, die wir hier in den Kommentaren ja auch öfter sehen). Sie ist überzeugt, total unideologisch in der Mitte zu stehen, was kein Problem wäre, wenn das sich wie bei Merkel mit der Meinung der Wählendenschaft decken würde. Aber das ist nicht der Fall; die Wählenden verorten die Partei deutlich rechts. Die Botschaft passt deswegen nicht zum Adressaten, das Produkt nicht zum Kunden. Und im Streit darüber zerreißt sich die Partei.

Dass Laschet noch Vorsitzender ist, ist dagegen nicht sonderlich überraschend. Die Wahl ist gerade einmal eine Woche her; die Rufe nach seinem Rücktritt sind in ihrer erbarmungslosen Härte völlig maßlos. Sie kommen nicht nur aus der eigenen Partei; was ich in meinem Twitter-Feed an wütenden Aufrufen gelesen habe, er solle als klarer Wahlverlierer politischen Selbstmord begehen, geht auf keine Kuhhaut. Mir scheint das eine uralte Regung zu sein, die Suche nach einem rituellen Opfer. Wenn man nur Laschet auf dem politischen Altar schlachtet und sein blutiges Herz gen Sonne hebt, dann werden die Götter besänftigt sein, oder etwas in der Art. Es ist menschlich widerlich, einerseits.

Es ist auch nicht gerechtfertigt, andererseits. Der Spiegel hat eine sehr gelungene Analyse der innerparteilichen Dynamik der CDU in den ersten 72 Stunden nach der Wahl, in der man gut erkennen kann, wie unklar die Verhältnisse in jenen Tagen waren. Sie sind es auch immer noch. Klar, die Chance auf ein Jamaika-Bündnis ist ziemlich gering. Aber sie ist bei weitem nicht Null. Dazu kommt, dass der Rücktritt Laschets in dieser Situation ehrlich gesagt auch ein Verrat an der Partei wäre. Laschet ist nicht Lafontaine; in dieser verwundbaren Situation den ganzen Apparat völlig kopflos dastehen zu lassen wäre der Gipfel der Verantwortungslosigkeit. Zumindest die Abwicklung der Wahl und die geschäftsmäßige Führung des Ladens muss man von ihm erwarten, wie auch von Annegret Kramp-Karrenbauer nach ihrem Rücktritt.

Dazu kommt, dass die Nachfolge ziemlich unklar ist. Wie immer bei der CDU (und jeder anderen Partei, aber ganz besonders der CDU) ist nichts so tödlich für die eigenen Ambitionen wie als Killer dazustehen. Deswegen verlangt kein potenzieller Nachfolger (und natürlich sind es alles Männer) derzeit den Rücktritt Laschets. Wozu auch? Der Mann ist dead man walking, und wenn er zufällig doch noch Kanzler wird, wäre es ziemlich doof, vorher seinen Rücktritt verlangt zu haben. Es ist diese offensichtliche Dynamik, die in den Medien überhaupt keine Beachtung findet. Stattdessen werden irgendwelche Durchstechereien aus der dritten Reihe unreflektiert als "die Union" oder "die CDU" berichtet. Das ist schon fast aktive Desinformation.

Was man stattdessen lesen sollte ist etwas anderes. Schauen wir uns zwei Beispiele dafür an. Das ist Norbert Röttgens erster Tweet nach der Wahl:


Liest man da irgendwelche Kritik an Laschet? Nein, natürlich nicht. Heißt das, dass Röttgen in unverbrüchlicher Treue zu Laschet steht? Auch nicht, natürlich. Denn gleichzeitig twitterte die enge Röttgenvertraute Ellen Demuth:

Röttgen sagte dazu - nichts. Ich bin sicher, er war genauso überrascht wie Laschet, das zu lesen. Bestimmt zitierte er sie in sein Büro und maßregelte sie. - Sarkasmus aus. - Auf diese Art und Weise findet in der Politik Kommunikation statt. Genauso musste man nur in der Elefantenrunde Laschets Antworten zuhören, wenn er auf Koalitionsoptionen angesprochen wurde. Deutlicher konnte er Scholz nicht um eine rot-schwarze Koalition und den Posten des Vizekanzlers bitten, aber es ist nicht so, als ob das so zu lesen gewesen wäre. Stattdessen nahmen die Medien ihn wörtlich und berichteten nur, dass er sich weigere, zurückzutreten oder einen Wahlsieg offen anzuerkennen. Wo es nichts anzuerkennen gab! Wer die meisten Stimmen hat ist nicht automatisch Wahlsieger. Fragt mal, ob Baerbock oder Lindner glücklicher mit ihrem jeweiligen Ergebnis sind! Aber solche grundsätzlichen Erkenntnisse fehlen im Diskurs völlig und machen ihn so frustrierend, weil er sich um irgendwelche dummen Gerüchte und Durchstechereien dreht, die eigentlich nur politische Kommunikation sind. Man muss sie nur lesen wollen.

Röttgen hat also seine erneute Bewerbung um den CDU-Vorsitz ziemlich deutlich gemacht. Jens Spahn stellt sich an seine Seite. Hat er das offen gesagt? Natürlich nicht, er spricht von "Rundumerneuerung" und "personeller Neuaufstellung", die nötig ist. Hm, wer wäre wohl neu? Welches Personal könnte man wie neu aufstellen? Leute mit Regierungserfahrung wären gut, was, Jens? Gleichzeitig vielleicht nicht solche Leute aus dem Sauerland, die über 60 sind? Ich höre dich schon klar und deutlich, Jens.

Dank der klaren Niederlage der Parteirechten - Stichwort Maaßen - ist Friedrich Merz der letzte große Unsicherheitsblock im aktuellen Spiel. Merz ist der große Zerstörer der Union als Partei. Seine "Nachwahlanalyse" ist eine einzige Kampfansage. Als erster gab er bekannt, er stehe als Parteivorsitzender zur Verfügung (zum dritten Mal!), nur um danach schwach zurückzurudern und zu erklären, dass er natürlich nicht Laschet absägen wolle. Auf welchen Posten er sich dann genau bewirbt, war leider nicht klar, aber nachgefragt hat auch keiner. Merz' Strategie ist über den CDU-Parteivorsitz zu reden, als wäre er vakant. Das kann aufgehen, sicherlich. Er greift auch gleich nach der ganzen Macht, wenn er "empfiehlt", den Partei- und Fraktionsvorsitz zusammenzulegen. Das ist ein Abwehrmanöver gegen den innerparteilichen Konkurrenten Brinkhaus, der halb-kommisarisch den Fraktionsvorsitz innehat (und sich nicht durchsetzen konnte, den Posten für das ganze Jahr gewählt zu bekommen). Und ein Griff nach der ganzen Macht in Zukunft.

Aber warum "Zerstörer der Partei CDU"? Ist der Titel nicht Rezo vorbehalten? Merz fordert, dass die Wahl des nächsten Vorsitzenden (entgegen der CDU-Satzung übrigens, da ist Merz flexibel) eine Mitgliederwahl ist. Offen spricht er davon, gegen das "Establishment" der Partei anzutreten. Es ist eine Kampfansage an die halbe Partei, vor allem aber an ihre Funktionärsstrukturen, so wie die Wahl Eskens und Walter-Borjans eine an die der SPD war. Ich habe nur das Gefühl, Merz wäre dann doch etwas effektiver als Vorsitzender als diese beiden. Er inszeniert sich als Populist, als Mann von unten, der die Partei von Grund auf umbaut. Diese Strategie hat er mit einem Sebastian Kurz und, ja, einem Donald Trump gemein (wenngleich hinter dem flexiblen Umgang mit der Wahrheit die Gemeinsamkeiten besonders zu letzterem auch schon wieder enden).

Der CDU stehen damit turbulente Wochen und Monate bevor. So oder so wird ein großer Teil der Partei unzufrieden mit dem Ergebnis sein. Am Ende könnte sogar Laschet als lachender Dritter aus dem Spektakel auftauchen - einfach von den Beharrungskräften ans Amt gehalten, weil er immer noch den größten Konsens verkörpert. Es gibt aber keinen Anlass anzunehmen, dass Sieg oder Niederlage Merz' den Konflikt um die Zukunft der CDU (und die Deutung über die jüngere Vergangenheit) irgendwie beilegen. Die große Gefahr für die Partei ist, ähnlich der SPD in eine permanente innerparteiliche Nabelschau abzurutschen, mit Formelkompromissen zum Wahltag, die niemanden befriedigen oder begeistern, und ohne eine Machtoption.

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