Donnerstag, 14. Oktober 2021

Verfassungsrichter*innen betreiben am Goldenen Kreuz Identitätspolitik und schauen den Zapfenstreich an - Vermischtes 14.10.2021

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Wenn einen nichts mehr wundert

Und diese reichen, verwöhnten kleinen Jungs, die in der Schülerunion aufgewachsen sind, wo man bekanntlich schon Punkte fürs Schmusen und Pempan mit Funktionären sammeln konnte; genau diese unqualifizierten Dilettanten, die mal Finanzminister, dann wieder Kulturminister oder Außenminister sind, als würden sie Praktikumsstellen durchprobieren, als hätte das, was sie tun, keine realen Konsequenzen; die mit fremdem Geld um sich werfen, als wären es Sektkorken im Motto am Fluss – genau diese Menschen also haben die Unverfrorenheit, zu sagen, dass "Solidarität keine Einbahnstraße" sein darf, dass "Hilfe nach Möglichkeit stets 'Hilfe zur Selbsthilfe'" sein soll, dass man "Hilfe vor Ort" leisten müsse, dass sich "2015 nicht wiederholen" dürfe. 2015, der einzige Moment, in dem Europa einmal für einen Wimpernschlag so etwas wie kollektive Mitmenschlichkeit gezeigt hat: Das darf sich auf keinen Fall wiederholen! Sebastian Kurz hat die Dreistigkeit, zu sagen, dass jeder, der "gesund ist und arbeiten kann, auch arbeiten gehen muss". Sebastian Kurz, der von Steuergeldern lebt, der dem Staat seit seiner Jugend auf der Tasche liegt, der nicht einmal sich selbst aus der sozialen Hängematte holen kann, der im Bezug auf ertrinkende Flüchtlinge gesagt hat "es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen" – dieser Mensch, der nicht nur seine Haare in Schwankungsbreite frisiert, wagt es, zu behaupten, sein Land sei ihm wichtiger als seine Person. (Elias Hirschl, ZEIT)

Dass unangenehme Leute unangenehme Politik machen, überrascht vermutlich nicht. Wer den Staat als Selbstbedienungsladen sieht, wird ihn auch so führen. Aber ich mag das Narrativ vom "Staat auf der Tasche liegen" nicht. Ich bin sicher kein Kurz-Fan, aber der Mann hat seinem Land gedient (auch wenn man über die Bewertung dieses Dienstes streiten kann!). Er war im Parlament, wer war Minister, er war Bundeskanzler. Das ist nicht "dem Staat auf der Tasche liegen" oder "von Steuergeldern leben". Der Mann hat gearbeitet, und sicher auch hart gearbeitet, und wurde dafür bezahlt. Ich habe null Geduld für diese Politikverachtung. Die Leute machen das nicht als Hobby, das ist ihr Beruf.

2) Zu alt im Kopf?

Und der eigenartige Widerspruch zwischen Größe und Ergebnis ist bei der JU ja tatsächlich erstaunlich. Die Junge Union bezeichnet sich als größte politische Jugendorganisation Europas. Sie hat fast 100 000 Mitglieder - und damit deutlich mehr als die ganze FDP. Besonders attraktiv für Jungwähler scheint sie trotzdem nicht zu sein. Das hat vermutlich auch mit Vertretern wie Philipp Amthor zu tun. Amthor ist erst 28 Jahre alt, hat aber schon die ersten Affären hinter sich. Er hat sich trotzdem wieder in den JU-Vorstand wählen lassen - ausgerechnet als Schatzmeister. Und bei der Bundestagswahl war er trotzdem Spitzenkandidat der CDU in Mecklenburg-Vorpommern. Die Christdemokraten haben in dem Land dann mehr als 15 Prozentpunkte eingebüßt und damit noch viel schlechter abgeschnitten als im Bund. Amthor hat auch seinen Direktwahlkreis verloren, er landete sogar nur noch auf Platz drei. Doch all das scheint ihn nicht nachdenklich zu machen. Er gibt seiner Partei weiterhin beinahe täglich Ratschläge. Denn es gibt ja viele vom Schlage Amthors. Zum Beispiel den Hamburger Parteichef Christoph Ploß. Der Mann ist 36 Jahre alt. Mit ihm als Spitzenkandidat hat der CDU-Landesverband ein katastrophales Ergebnis eingefahren. Aber Ploß tourt trotzdem durch die deutschen Fernsehkanäle und fordert eine konservativere und wirtschaftsliberale CDU. (Boris Herrmann/Robert Roßmann, SZ)

Es ist ein typisches Phänomen aller Parteien - und vermutlich Organisationen generell - dass Misserfolg den eigenen Einfluss eher stärkt als schwächt. Eines der prominentesten Beispiele ist bekanntlich das Labour-Wahlprogramm von 1983, das angesichts ihrer Unbeliebtheit ein Programm mit den unpopulärsten Maßnahmen aufstellte. Diese Gefahr ist natürlich auch für die Union real.

Ich würde aber generell davor warnen, wie im Artikel geschehen den Kontrast zu den Jusos überzubewerten. Jugendorganisationen von Parteien, ob CDU, ob Grün, ob AfD, ob FDP, sind nie repräsentativ für junge Menschen, genausowenig wie es die oberen Ränge der Partei sind. Olaf Scholz' Werdegang ist genauso wenig typisch für Deutschland wie der von Wolfgang Schäuble; etwas, das beide mit den CEOs der großen Konzerne gemeinsam haben. Warum sollte das in den Jugendorganisationen anders sein? Wer sich dort engagiert, will üblicherweise eine politische Karriere machen. Allein dieser Wunsch setzt ihn oder sie von 99% der Altersgenoss*innen ab, Minimum. Das kann nicht überraschen.

3) Chartbook #44: The Cross of Gold – populism, democratic iterations and the politics of money

Then there is the meta question. Set against the backdrop of recent history the fact that we are debating monetary policy at all can seem shocking. In the era of the 1980s and 1990s, insulating monetary policy from democracy was a key priority. The point, Rudiger Dornbusch, the influential MIT macroeconomist, liked to insist, was to put an end to “democratic money”. But for money to be unpolitical, is not the natural order of things. It is the effect of a particular politics, a metapolitics of depoliticization. As Stefan Eich shows us in his forthcoming book, the Currency of Politics, the argument over the politics of money goes back to the ancients. The question should not be – “political money, or not?”. “Democratic money, or not?” The question should be – What kind of politics of money? What kind of democratic money? [...] The Fed in particular was a product of this balance of forces. The Wall Street lobby had its say, as did progressive technocratic ideas. But the Fed that emerged in 1913, as a public body with a governing board located in Washington DC rather than Wall Street, was viewed with deep suspicion by the financial lobby and denounced as product of meddling populist impulses. [...] If the crisis of 2008 did one thing, it ended the illusion that money could be unpolitical. In the years since, central banking choices have been debated and open to public scrutiny. The level of popular engagement is nowhere near that described, perhaps wishfully by Bryan in 1896. But it is nonetheless novel. And, as the blog post by Jäger and Maggor attests, that process, again and again, recurs to the populist moment. (Adam Tooze, Chartbook)

Ich sehe diesen Artikel vor allem als Ergänzung zu unserer Geldpolitik-Diskussion im letzten Vermischten. Es ist ein völliger Irrtum zu glauben, dass Geldpolitik jemals "unpolitisch" sein könnte. Das "unpolitische" am Aufbau etwa von Bundesbank und der nach ihr modellierten EZB ist undemokratisch, nicht unpolitisch. Ich meine das übrigens hier wertneutral; die Idee ist durchaus liberal! Es ging ja immer - und das wurde offen erklärt - darum, die Geldpolitik dem politischen Aushandlungs- und Kompromissprozess, vor allem aber dem Druck der Demokratie zu entziehen.

Das schützt die Geldpolitik einerseits vor populistischem Druck oder spontanen Launen sowie "bad faith actors", aber da die Hüter*innen der Geldpolitik gleichzeitig spätestens durch die neoliberale Wende der 1970er Jahre direkt mit den Interessen der reichen Elite verbandelt wurden, sorgt das gleichzeitig für eine gewaltige Schlagseite. Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass die Ursache dieses Wandels im Versagen der vorher etwas "demokratischeren" Geldpolitik der 1960er und 1970er Jahre war (Stichwort Stagflation), aber das ändert wenig daran, wessen Interessen sie seit 40 Jahren dient.

4) Maybe Supreme Court Judges Really Are Driven by Politics

But it is hard to take them seriously when the reality is that their differing philosophies have obvious political consequences. Nowhere is this truer than whether the Court decides to uphold individual rights or instead defer to state restrictions. When a plaintiff challenges a state law as unconstitutional, the Court must decide whether the law actually infringes an individual right and whether the state has a good enough reason for doing so. If the right is deemed “fundamental,” then the state must satisfy a high bar to justify it. That’s because various parts of the U.S. Constitution (especially the Bill of Rights and other amendments) are designed to protect individual rights against government encroachment. But in case after case involving voting rights, abortion, and other hot button issues, the newly emboldened conservative majority has simply deferred to a state’s rules. That is, they have approved of laws that infringe individual liberties without requiring much justification from the state on why those laws are necessary given the specific circumstances. They have credited a state’s rules over fundamental rights. (Joshua Douglas, Washington Monthly)

Mir ist völlig unklar wie irgendjemand ergebnisoffen diskutieren kann, ob der SCOTUS politisch ist. Selbstverständlich ist er das. Und das betrifft, anders als es der Artikel insinuiert, nicht nur die rechtsradikalen Richter*innen, sondern auch die "Moderaten" und natürlich die Liberalen genauso. Der SCOTUS ist im Kern politisch und parteiisch, und das frisst seine Legitimation. Seit 20 Jahren spreche die Konservativen offen über die Kontrolle durch die Ernennung politisch genehme Richter*innen und feiern das als große Leistung; wie soll das nicht politisch sein? Inzwischen sprechen die Progressiven offen von Court Packing und der Einführung von Amtszeiten. Ist das etwa irgendwie unpolitisch? Sind die Entscheidungen das irgendwie? Diese Lebenslügen sind einfach nur nervig.

5) How the GOP won at identity politics

After signing Paul Ryan's deeply unpopular tax cut, and seeing his approval crater, the main domestic accomplishment of the latter part of President Trump's term was bi-partisan COVID relief so large and generous that poverty actually fell during the pandemic even as unemployment skyrocketed. Since Biden's election, Sen. Mitt Romney has been advertising his willingness to further expand the social safety net to enact a child welfare entitlement, while Senate Majority Leader Mitch McConnell allowed a trillion-dollar infrastructure bill that pours huge sums into rail, enacts vital environmental cleanup, and spends significant funds on grid upgrades and electric vehicles to pass the Senate with substantial Republican support. This is not the GOP the Freedom Caucus fought to create — and voters have undoubtedly noticed. It's not that Republicans have gone soft, though. Rather, the GOP can be flexible on policy because its coalition is increasingly held together by identity rather than ideology. This is in part a consequence of educational polarization: Better-educated voters tend to be more ideological and therefore less flexible in their views, while less-educated voters have less-settled views on most policy matters. [...] Given the landscape, it's not hard to see an opportunity for Republicans not only to win, but to build a more durable majority. It's an opportunity I fully expect them to fumble; a party united purely around opposition is not going to have the discipline to chart a path forward, and a party dedicated above all to dividing the country to conquer it can't build a durable majority of any kind. Between widespread indulgence of paranoia and conspiracy-mongering and Trump's own distinct pathologies, plus his ability to make himself the only legitimate topic of conversation, the GOP may well crash the car even if the road to victory is straight and clear. (Noah Millman, The Week)

Ich habe zu viele "durable majority"-Theorien gelesen und nicht passieren sehen, um diesen düsteren Prognosen allzu viel Raum zu geben. Gerade in einem Zwei-Parteien-System gilt das Gesetz von Aktion und Reaktion, und all diese Prognosen nehmen an, dass die Gegenseite statisch bleibt - was nie der Fall ist. Sie machen daher vor allem Sinn um zu beschreiben, wo Änderungen und Reaktionen bei der Gegenseite voraussichtlich auftreten.

Die Erwartung nach den Niederlagen von 2008 und 2012 war, dass die Republicans ihre Haltung zur Immigration ändern würden. Das ist, höflich ausgedrückt, so nicht passiert. Stattdessen änderten sie ihre Haltung zu Krieg und Sozialstaat, was a) wesentlich populärer war und b) neue Wählendenschichten erschloss. Das verlor ihnen zwar c) bisherige Stammwählende, was aber, d), wegen der verzerrten Verteilung der Repräsentation über das Land, das leere Fläche deutlich bevorzugt, nicht ins Gewicht fiel.

Die Democrats müssen eine Antwort darauf finden. Wie die aussehen wird - who knows? Aber sie werden eine finden. Irgendwann. Die Frage ist nur, wie lange das dauern wird.

6) Die Empörung kommt zu spät

 

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