Donnerstag, 12. Oktober 2023

Arbeiterkinder im Würgegriff der Toten Hand sind in der Frage der Anziehung von Proteinen einiger als gedacht - Vermischtes 12.10.2023

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Der seltsame Proteinhype in Deutschlands Supermärkten

Deutschlands Supermärkte erleben einen Proteinhype, mit Produkten wie Proteinjoghurt, -chips und -pizza, die mehr Kraft und Leistung versprechen. Dieser Trend ist ein Milliardengeschäft für die Industrie, aber laut Experten wertlos für die Gesundheit. Konsumenten geben jährlich über eine Milliarde Euro für proteinreiche Produkte aus, fast 50 Prozent mehr als vor zwei Jahren. Die Lebensmittelindustrie erzielt allein mit Milchfrischprodukten, die mit Eiweiß angereichert sind, rund 500 Millionen Euro pro Jahr. Experten warnen vor der Irreführung durch den Proteinzusatz und betonen, dass eine ausgewogene Ernährung ausreichend sei. Kritik wird auch an den hochverarbeiteten und teuren Proteinprodukten laut, da sie oft Zusatzstoffe und minderwertige Inhaltsstoffe enthalten. (Claus Hecking, Spiegel)

Das ist eine Art Artikel, die ich so richtig nicht leiden kann. Gleichzeitig sind sie Evergreens, weil sie sich so leicht schreiben und genau die Reaktionen hervorrufen, die hervorgerufen werden sollen und damit solide Klicks bringen. Kurz gesagt: "Weniger schädliche Variante von Junk Food nicht so gesund wie frisch zubereitetes Gemüse!" Ja, no shit Sherlock. Natürlich sind fettreduzierte Chips immer noch nicht gesund und das abendliche Knabbern an einer Möhre gesünder, aber fettreduzierte Chips sind üblicherweise besser als nicht fettreduzierte. Gleiches gilt für viele der Protein-Lebensmittel. Es sind immer noch verarbeitete Lebensmittel; da kann man als Daumenregel annehmen, dass die minderwertig sind gegenüber aus frischen Zutaten zubereitetem Zeug. Keine Frage. Aber sie sind halt meist Ersatzprodukte für Dinge, die im "Originalzustand" weniger gesund sind. Paradebeispiel die vielen Proteinjoghurts, mit denen der Hype begann: klar, schlechter als Naturjoghurt, aber besser als die Zuckerbomben, die normaler Fruchtjoghurt ist. Mann, was für ein Blödsinn.

2) Verhandeln Arbeiterkinder schlechter ihr Gehalt?

Die Bildungschancen in Deutschland sind ungleich verteilt, stark abhängig vom sozioökonomischen Hintergrund. Akademikerkinder haben deutlich bessere Chancen im Studium und in der Karriere als Kinder aus Arbeiterhaushalten. Die soziale Mobilität in Deutschland ist eine der geringsten in Europa. Wenig erforscht ist jedoch der Class-Pay-Gap im Arbeitsleben, also ob Arbeiterkinder mit erfolgreicher Ausbildung die gleiche Bezahlung und Karrierechancen haben wie Akademikerkinder. Eine Untersuchung der Boston Consulting Group deutet darauf hin, dass dieser Gap in Deutschland erheblich ist. Arbeiterkinder mit Hochschulabschluss haben schlechtere Informationen, Netzwerke und erleben mehr Schwierigkeiten in der Arbeitswelt. Eine höhere Diversität im sozioökonomischen Hintergrund bringt nicht nur gesellschaftlichen, sondern auch unternehmerischen Nutzen, doch dieses Potenzial bleibt oft ungenutzt. Großbritannien könnte hier als Vorbild dienen mit seiner Social Mobility Commission. Unternehmen sollten Bewusstsein schärfen, Barrieren abbauen und Diversität fördern. (Marcel Fratzscher, ZEIT)

Das verwundert wohl kaum. Wir kennen dieselben Ergebnisse ja auch seit mittlerweile Jahrzehnten aus der Forschung über den Gender Pay Gap. Und wie dort ist ziemlich sicher nicht nur der fehlende Skill in Verhandlungen ein Thema, sondern auch, dass die Arbeitgeber Bewerbern*innen mit dem richtigen "Stallgeruch" von Beginn an mehr Geld geben, genauso wie sie im Schnitt Männern direkt mehr Gehalt zubilligen als Frauen. Das sind alles psychologisch ziemlich klar erforschte Zusammenhänge, die übrigens auch nichts mit Marktmechanismen zu tun haben. Die Benachteiligung durch soziale Herkunft schlägt logischerweise auch auf diese Bereiche durch; warum sollten die immun sein? Dasselbe Ergebnis wird sich bei Beförderungen finden, genauso wie man es in der Schule bei der Notengebung beobachten kann, und so weiter.

3) Im Würgegriff der toten Hand

Die Frage, inwieweit sich die Toten in die Angelegenheiten der Lebenden einmischen dürfen, ist historisch durch das Erbrecht verbunden. Die Bindung von Eigentum durch Fideikommisse, Entails und Substitutionen in feudalen Gesellschaften wurde im Zuge der bürgerlichen Revolutionen abgeschafft, doch Deutschland verbot Fideikommisse erst 1919 mit der Weimarer Reichsverfassung. Liberale des 18. und 19. Jahrhunderts lehnten Eigentumsbindungen an den Willen verstorbener Generationen ab, da sie die persönliche Freiheit im Eigentumsgebrauch einschränkten. Die Fideikommisse waren Instrumente der Aristokratie, und ihr Kampf war ein Kampf für die demokratische Gesellschaft. Die Aufhebung verlief in Deutschland nach 1919 schleppend, und trotz formalem Verbot bestehen heute noch andere Rechtsinstitute zur Bindung von Eigentum. Dieser Artikel fordert eine Auseinandersetzung mit der langfristigen Bindung von Vermögen und deren demokratischen Folgen. (Jens Beckert/Peter Rawert, FAZ)

Ich finde einen Artikel besonders interessant, inwiefern ein restriktives Erbrecht als ein liberales Instrument geframet wird. Die aktuelle Orthodoxie, das Verfügungsrecht über das Eigentum über den Tod hinaus zu erhalten und über alle anderen Erwägungen zu stellen, ist sicher eine Schlussfolgerung einerseits aus dem Grundrecht auf Eigentum und andererseits aus liberalen Vorstellungen; sie ist aber gleichzeitig bei weitem nicht die einzige. Es gibt ja schließlich tatsächlich gute Gründe, die Verfügung über das eigene Einkommen und den eigenen Besitz mit der Existenz als Lebende und atmende Person zu beenden. Gerade im Hinblick auf die Chancengleichheit, die für Liberale eine so große Rolle spielt, ist dies durchaus vorstellbar, der hier ein Normenkonflikt zwischen der Chancengleichheit und der Verfügung über das eigene Einkommen und den Besitz auch über den Tod hinaus besteht, dessen Lösung sich alleine aus der liberalen Ideologie nicht eindeutig ableiten lässt. So oder so sind die ausführlichen historischen Erklärungen zum Fideikommiss lesenswert; mir war das vorher noch nicht bekannt.

4) Einiger als gedacht

Die Studie von Steffen Mau, die Deutschland aufgrund von sozialen und politischen Konflikten als gespalten erscheinen lässt, widerlegt erstaunlicherweise diese Wahrnehmung. Trotz vieler Krisen und kontroverser Themen zeigt die Untersuchung, dass die Bundesrepublik eine starke, ideologiefreie Mitte hat. Die Menschen stimmen in vielen gesellschaftlichen Fragen überein, unabhängig von Alter, Geschlecht, Wohnort oder Bildung. Konflikte und Wut mögen existieren, aber die Gesellschaft spaltet sich nicht wirklich. Mau bezeichnet gängige Erzählungen von zwei Lagerkämpfen als "Behauptungsprosa" und warnt vor den Gefahren der ständigen Polarisierungsdiskurse durch Politiker, Journalisten und soziale Medien. Die Analyse deckt auch auf, dass die zunehmende Wut in Deutschland eher auf Erschöpfung und "Veränderungserschöpfung" zurückzuführen ist, insbesondere in Bezug auf Migration und den Klimawandel. Es besteht die Gefahr eines "Allmählichkeitsschadens", der das Fundament der Demokratie beeinträchtigen könnte. /, ZEIT)

Gerade angesichts der vergangenen Landtagswahlen sind die hier vorgestellten Ergebnisse beachtenswert. Ich halte die hier im Artikel dargestellte Synthese der Studie für stichhaltig. Die Idee der „Veränderungserschöpfung“ Erklärt vergleichsweise wertneutral die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Status quo. Natürlich schadet dies denjenigen Parteien mehr, die Veränderung erwirken wollen, allen voran den Grünen. Das Konzept hilft aber auch zu erklären, warum die FDP so leidet, weil ja auch sie eher auf die Veränderung des Status Quo zielt, wenngleich in eine andere Richtung. Generell stimmt es hoffnungsfroh, dass – wenn - die Gesellschaft weniger polarisiert und gespalten ist als gemeinhin behauptet wird. Meine Dauerthese, dass die ständige Beschwörung von Spaltung etwa in der Migrationsfrage diese Spaltung maßgeblich erst befördert, erhält dadurch weitere Nahrung.

5) Eine Frage der Anziehung

Ein Großteil der europäischen Asylanträge erfolgt in Deutschland, was von Politikern der FDP, AfD und Union auf das deutsche Sozialsystem zurückgeführt wird. Sie argumentieren, dass dies ein Anreiz für Flüchtlinge sei und schlagen vor, Leistungen zu reduzieren. Experten wie der Ökonom Herbert Brücker betonen jedoch, dass bisherige Studien keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Leistungen und Ziellandwahl zeigen. Die Politiker können keine klaren Grundlagen für ihre Behauptungen nennen. Andere Forscher, wie Ruud Koopmans, erwähnen Dänemark als Beispiel, doch dies basiert auf einer umstrittenen Studie. Generell wird die Idee, dass Sozialleistungen allein entscheidend sind, von verschiedenen Experten in Frage gestellt, die betonen, dass Faktoren wie Sicherheit, Schutz und Arbeitsmöglichkeiten eine größere Rolle spielen. Es wird darauf hingewiesen, dass aktuelle Behauptungen oft auf unzureichenden Beweisen beruhen. (Wiebke Becker, FAZ)

Ich empfehle die Lektüre dieses Artikels als eine wertvolle Ergänzung zu meinen eigenen Überlegungen im großen Migrationsartikel. Ich möchte für meine Kommentierung hier vor allem einen Aspekt herausgreifen, den ich auch im Zusammenhang mit der Bildungsdiskussion immer wieder betont habe: Wir haben einen eklatanten Mangel an einer empirischen Basis in ganz vielen Bereichen, die ständig erhitzt diskutiert werden. Im Bildungssektor betrifft dies die Wirksamkeit und Aussagekraft von Noten oder den Wirkungsgrad von Hausaufgaben; in der Migrationsdebatte sind die Pullfaktoren herausragende Beispiele dafür, das zwar im Brustton der Überzeugung Behauptungen aufgestellt werden, es aber keinerlei Faktenlage gibt (oft genug übrigens auch in die andere Richtung nicht). Umso ärgerlicher ist es in Fällen, in denen die empirischen Fakten zwar vorliegen, aber schlichtweg ignoriert werden, wie etwa bei der Auswirkung von Sozialleistungen auf Flüchtlingsdestinationen. Von Seiten der betreffenden Politiker*innen verstehe ich das ja, weil es valide politische Strategie ist. Aber die Medien schlafen einfach nur am Schreibtisch.

Resterampe

a) Very bad news for the Democrats.

b) Eine Reihe von Leuten findet gerade heraus, warum Studienkredite mit variablen Zinsen eine blöde Idee sind.

c) Mal wieder Daten zu einem Obdachlosigkeitsexperiment.

d) Spannendes Interview mit Heinrich August Winkler.

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