Mittwoch, 11. Oktober 2023

Rezension: Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (Teil 11)

 

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Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts

Das Gegenstück des Adels im 19. Jahrhundert war mit Sicherheit das Bürgertum. Es zu definieren, ist noch schwieriger als beim Adel. Man landet immer beim selben Zirkelschluss: Bürger ist, wer sich als solcher definiert. Dadurch ist das Bürgerturm die agilste und durchlässigste Klasse. Gleichzeitig ist sie die, deren Mitglieder am stärksten vom Abstieg bedroht sind. Im 19. Jahrhundert verbreitete sich die Kategorie außerdem um die Kategorie der Kleinbürger, gegen die es mannigfaltige Abgrenzungsbewegungen gab. Die Kleinbürger waren weniger vernetzt und lokaler, als es die traditionellen bürgerlichen Schichten waren. Gleichzeitig sieht Osterhammel in allen Bürgern einen beständigen Drang nach oben, zu einem sozialen Aufstieg.

Entscheidendes Distinktionsmerkmal dieser Klasse ist der Respektabilität, die sich aus Kreditwürdigkeit (und damit geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen), der nicht-körperlichen Arbeit, der Möglichkeit, die Frauen der Familie zu Hause zu lassen und nicht arbeiten schicken zu müssen und zuletzt dem Einhalten eines Verhaltenskodex‘ definiert. Insgesamt grenzten sich die bürgerlichen Schichten sowohl nach außen als auch untereinander stark ab, auch in einem Land wie den USA, das Ostentativ einem Gleichheitsideal anhing. Gleichzeitig hält Osterhammel das Phänomen der Mittelschicht - ein noch umfassenderer Begriff, der sich vor allem wirtschaftlich definiert und nicht die Übernahme des bürgerlichen Wertekanons erfordert - für ein universelles und globales Phänomen: es sei auch in Afrika und Asien festzustellen, bevor dort durch den Imperialismus der Einfluss der Europäer solche Entwicklungen überdeckte. Oftmals zerstörte der Rassismus die Möglichkeit dortiger Mittelschichten, ihre Entstehung und ihren Aufstieg fortzusetzen und sich mit den europäischen zu vernetzen.

Deswegen kam es auch nie zur Herausbildung eines kosmopolitischen Bürgertums. Diese stellte zwar einen ideologischen Fluchtpunkt dar, den es dank globalisierter Finanz- und Warenströme zu erreichen hoffte, doch arbeitete der aufstrebende Nationalismus und Rassismus dem entgegen. Die bürgerlichen Unternehmer waren also auch, wenn sie ihre Geschäfte in einem anderen Land betrieben, stets nationale Akteure. Zudem kam hinzu, dass mindestens in den Kolonien selbst die geringsten Vertreter des jeweiligen europäischen Bürgertums rangmäßig über allen Einheimischen standen und so jegliche Integration und Kooperation verhinderten und ihre Zahl zudem nie so groß war, das eine eigenständige Gesellschaftsbildung erfolgen könnte, die vom Mutterland unabhängig war. In vielen Ländern gab es zudem eine Schicht, die zwar Berufe und Vermögen wie die Bürger hatte, aber nicht das Ansehen: sie vermittelte zwischen Einheimischen und ausländischen Händlern, etwa die Juden oder die Chinesen Javas. Sie waren stets prekär und gefährdet, was im 20. Jahrhundert zu massiver Vernichtung ausgeweitet würde. Osterhammel postuliert außerdem, dass die Auflösung des Bürgertums als Klasse mit dem Auszug aus den Städten und des kulturellen Aneignens des Bürgertums durch die unteren Schichten bereits Ende des 19. Jahrhunderts begonnen habe; auch ohne den Ersten Weltkrieg wäre die Klasse Auflösungstendenzen unterworfen gewesen.

In Kapitel 16, "Wissen", stellt er die These auf, dass das 19. Jahrhundert das gewesen sei, in dem Wissenschaft und Bildung sich trennten: Universalgelehrte hörten auf zu existieren, stattdessen begann der Fachwissenschaftler zu dominieren. Bevor er sich dieser These aber mehr zuwendet, spricht er über Sprachen: das Englische wurde immer mehr zur beherrschenden Sprache, während das Französische zwar bei Eliten regional beliebt war, aber die dieselbe Verbreitung genießen konnt (gleichwohl konnten nur wenige Englisch, die große Verbreitung begann erst mit den USA ab 1950). Portugiesisch und Latein, zwei frühere Verkehrssprachen, fielen ganz aus der Verwendung. Chinesisch etablierte sich mangels Außenwirkung Chinas nie.

Der Zwilling der Sprache ist natürlich die Schrift. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Überwindung des Analphabetismus. Dies war ein lokal sehr divergierendes Phänomen: in Westeuropa sank die Analphabetenrate bis zum Ende des Jahrhunderts auf unter 10%. Vorreiter war hier Deutschland, das von der preußischen Tradition, seine Untertanen zu möglichst effektiven Soldaten zu machen, profitierte. In Süd- und Osteuropa sah die Lage bereits deutlich schlechter aus. In den USA ist das Bild kompliziert: im Norden und Westen ähnlich wie in Westeuropa, unter der schwarzen und indigenen Bevölkerung sowie im Süden deutlich schlechter. In Asien sticht besonders Japan hervor: es erreichte als einziges asiatisches Land Alphabetisierungsraten wie im Westen. Obwohl China eine lange Tradition der Schriftsprache besaß, stagnierte es auf wenngleich hohem Niveau.

Das 19. Jahrhundert war auch das Jahrhundert, in dem sich zum ersten Mal allgemeine Schulsysteme herausbildeten. Osterhammel betont hier immer wieder, dass damit solche schulischen Systeme gemeint sind, die einen vom Alltag abgetrennten Raum mit eigenen Regeln bieten. Deutschland war hier Vorreiter, besonders Preußen, während viele andere europäische Länder erst mit starker Verzögerung folgten.

Der größere Bruder der Schulen sind natürlich die Universitäten. Auch sie machten im 19. Jahrhundert eine wesentliche Wandlung durch. Zum einen ist dies ein quantitativer Wandel: das Ausmaß der Universitäten und der von ihnen Beschäftigten nahm drastisch zu. In Deutschland war dies ein ganz und gar staatlicher Prozess: der Ausbau der höheren Bildung war eine Sache von Beamten und staatlicher Investitionen. Anders verlief der Prozess dagegen in dem Land, das Deutschland auf diesem Feld, wenngleich mit deutlicher Verzögerung, am ehesten Konkurrenz machen konnte: die USA. Sie bildeten im 19. Jahrhundert ein ganz eigenes System marktwirtschaftlich ausgerichteter, privater Universitäten heraus, in dem der Staat eine sehr geringe Rolle spielte.

Allen Universitätssystemen war im 19. Jahrhundert allerdings gemein, dass sie einen deutlich größeren Schwerpunkt auf Anwendung legten als bislang. Universitäten bildeten Fachwissenschaftler aus die ihr jeweiliges Gebiet inkrementell weiter voranbrachten, üblicherweise mit einem starken Fokus darauf, Fachpersonal für einen immer anspruchsvolleren öffentlichen Dienst und Privatsektor auszubilden. Die Konzentration der Universitäten von früher auf eine Art Allgemeinbildung blieb ironischerweise in den USA wesentlich stärker erhalten als im Ursprungsland des Humboldschen Bildungsideals, das die Fachspezialisierung wesentlich stärker vorantrieb. In den Kolonien enstanden dagegen erst spät und nur sehr eingeschränkt Universitäten. Der Aufbau eines Hochschulsektors gehörte stattdessen zu den vorrangigen Prioritäten von Kolonien, die ihre Unabhängigkeit erlangten, ob im 19. oder 20. Jahrhundert.

Auch die Inhalte, die gelehrt wurden, wandelten sich stark. Im Westen, wo die moderne Vorstellung von Wissenschaft ihren Ursprung hat, etablierte sich natürlich einerseits die naturwissenschaftliche Methodik, andererseits „professionalisierten“ sich aber auch Fachrichtungen, die früher von wohlhabenden Dilettanten als gentlemen scholars betrieben worden waren, etwa die Geschichtswissenschaft. Weitere Disziplinen wie die Soziologie oder Ökonomie bildeten sich vor allem aus dem Nützlichkeits- und Praxisdenken.

Interessant ist auch die Rezeption dieses Wissenschaftsgedankens und des darunter liegenden systemischen Modells im Rest der Welt. Besonders in Asien übernahmen Reformer die neuen Wissenschaften und Universitäten als einen Ausweis des Fortschritts in der Modernisierung ihrer Länder. Damit einher ging eine Verachtung des eigenen, traditionellen Wissensbestands. Osterhammel weist darauf hin, dass die Europäer vor dem 19. Jahrhundert noch der Überzeugung waren, von anderen Kulturen lernen zu können, während sie dann im 19. Jahrhundert diese nur noch als barbarisch betrachten. Ironischerweise kam es gegen Ende des Jahrhunderts zu einer Art Revival des „Entdeckens“ von „alten Geheimnissen“. Bis heute hat der Bezug auf scheinbar uralte asiatische Praktiken in der esoterischen Szene Hochkonjunktur.

Die beginnende Neugier auf fremde Völker zeigte sich in der neuen Wissenschaft der Ethnologie. Aus heutiger Sicht ist die in einer Art pseudodarwinistischen Modell von Entwicklungsstadien verhaftete Analyse fremder Völker hauptsächlich ein Amalgam rassistischer Stereotype. Im Kontext des 19. Jahrhunderts allerdings fällt die Ethnologie in den größeren Kontext der Verwissenschaftlichung. Überraschenderweise war sie die am wenigsten rassistische Betrachtung dieser Völker, im Vergleich zur Haltung der Allgemeinheit. In Europa selbst fand ein ähnlicher Exotisierungsprozess statt, in dem man Folklore unter die Lupe nahm und quasi in der einfachen Landbevölkerung wie in der Industriearbeiterschaft (die gleichwohl nicht als Kulturobjekt untersucht wurde) gewissermaßen barbarische fremde Stämme sah.

Aus dieser Sicht leitete sich eine Zivilisierungsmission ab, die in Kapitel 17, ""Zivilisierung" und Ausgrenzung", in den Fokus rückt. In der frühen Neuzeit war die Idee, eine große zivilisierende Mission zu sehen, auf den Katholizismus beschränkt und fand deswegen vor allem in den spanischen und portugiesischen Kolonialreichen Anwendung. Die ohnehin erst viel später dazukommenden protestantischen Reiche betrachten Missionierung als ineffizient und gegenläufig zu ihren Bestrebungen, ein kommerzielles Imperium aufzubauen. Erst Ende des 18., Beginn des 19. Jahrhunderts änderte sich dies. Die britischen Bestrebungen etwa, Indien zu „verwestlichen“, fanden ihren Höhepunkt in den 1830er Jahren, fanden allerdings mit der großen Mutiny ein relativ abruptes Ende und macht in einem eher integrativen Ansatz Platz.

Die Briten waren die Speerspitze in einer Form der Missionierung, die sich als die erfolgreichste erweisen sollte: die des Rechtsstaats. Dies lag daran, dass die britische Rechtstraditionen besonders offen für andere Einflüsse und für eine Koexistenz verschiedener Systeme war. Etwas weniger erfolgreich war der Versuch, Marktmechanismen zur Gestaltung der jeweiligen Länder zu benutzen. Insgesamt zeigte sich hier häufig eine Indifferenz der Kolonialmacht gegenüber den Kolonien, in der es hauptsächlich darum ging, dass die Bevölkerung vor Ort ihre Steuern bezahlte und waren Erträge erbrachte und die man ansonsten in Ruhe ließ, was in manchen Fällen zur stillschweigenden Akzeptanz westlichen Werten völlig entgegengesetzte Praktiken wie der indischen Witwenverbrennung (die die Briten gleichwohl später mit massivem propagandistischen Aufwand als Legitimation für Ihr Imperium heranziehen sollten) führte.

Die Zivilisierungsmissionen scheitern denn auch überwiegend: entweder war der Erfolg allenfalls oberflächlich vorhanden, oder er ging so tief, dass sich die örtliche Bevölkerung von den Missionaren emanzipierte. Das führte dann gerne dazu, dass die Kritiker das europäische universalistische Recht, die Sprache der Eroberer und Ihre Werte zum erfolgreichen Kontrast mit der kolonialen Realität benutzten. Die Indifferenz gegenüber den Kolonien war eine häufige Reaktion darauf; eine andere Bestand in gewalttätigen Versuchen, die sich nicht „zivilisierenden“ und damit für die Imperien wertlosen Einheimischen an den Rand zu drängen und in Extremfällen genozidal zu ermorden. Dies blieb im 19. Jahrhundert aber trotz des Überlegenheitskomplexes der Europäer die Ausnahme und sollte auf die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts beschränkt bleiben.

Weiter geht es in Teil 12.

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