Teil 1 hier.
Bevor ich über Auswege sprechen will, möchte ich zuerst einmal die Probleme mit den bisherigen Ansätzen näher untersuchen.
Das Problem bei den Linken ist, dass die grundsätzliche Idee, wir seien eine ausreichend reiche Gesellschaft, um die Aufnahme und Versorgung all dieser Menschen zu gewährleisten, zwar grundsätzlich richtig, aber gleichzeitig bedeutungslos ist. Wir können uns eine ganze Menge Dinge leisten, wenn wir entsprechend auf andere Dinge verzichten. Nun ist natürlich die Rettung und Aufnahme von Menschen ein edles Ziel als sämtliche Autobahnen rosa anzustreichen, was durchaus auch in unserem Vermögen läge. Gleichzeitig allerdings beruhen große Investitionen und Umschichtungen des gesamten Volksvermögens und der Ausrichtung der Volkswirtschaft - und das verbirgt sich hinter der locker-flockigen Aussage, das ist grundsätzlich möglich wäre - auf der grundlegenden Zustimmung derjenigen, die sich einschränken, die Mittel aufbringen und die nötige Arbeit leisten müssen. Dass hierfür auch nur im Ansatz demokratische Mehrheiten vorhanden oder gewinnbar wären, ist eine komplette Illusion.
Gleichzeitig ist sicher auch korrekt, dass ein vergleichsweise großer Anteil der Geflüchteten hier Arbeit findet. Allein, erstens bleibt damit immer noch ein relativ großer Block von Menschen, die keine finden - und die Kritik von rechts, die tatsächlich durchaus mehrheitsfähig ist, fordert bei migrierenden Menschen üblicherweise Beschäftigungsquoten nahe 100% als Voraussetzung für die Einreise - und zudem sagt diese Statistik auch wenig darüber aus, wie viel und welche Arbeit diese Menschen finden. Teilzeitarbeit in schlecht bezahlten Bereichen macht sie ja nicht eben unabhängig vom Sozialsystem. Das letzte Problem ist, das zahlreiche Menschen und insbesondere die Kritik von rechts ja gar nicht will, dass Geflüchtete und asylsuchende Arbeit finden, weil dies ihre Aufenthaltsperspektiven verbessert, die aber gerade nicht gewünscht sind. Wir kommen auf dieses grundsätzliche Paradox der Migrationspolitik noch einmal zu sprechen.
Die Linke ignoriert zudem komplett, dass die rechte Kritik an den Pullfaktoren - die viel zitierten „Anreize“ - ja nicht komplett in die Irre geht: die Menschen kommen ja nach Europa, weil sie sich hier eine bessere Behandlung und ein besseres Leben erhoffen also beispielsweise in der Türkei, dem Iran, Nordafrika oder etwa Russland. Sich diesen Gedanken komplett zu verleugnen ist eine Art Lebenslüge. Wenn Marco Buschmann etwa raunt, der "Eindruck" der Zuwanderung in Sozialsysteme sei entstanden (eine Passivkonstruktion, die die Urheber dieses "Eindrucks" aus der Verantwortung nimmt und ambivalent lässt, ob er wirklich existiert; Friedrich Merz sollte sich ein Beispiel an bürgerlicher Kommunikation zum Thema nehmen), hat er ja nicht Unrecht. Menschen hier haben Anspruch auf Sozialleistungen.
Es ist umso verblüffender, dass ausgerechnet Linke, für die dieses Thema ja ein Leib-und-Magen-Thema ist oder zumindest sein sollte, den Stand der Sozialsysteme ignorieren. Zwar ist natürlich Merz‘ Narrativ von einer Vorzugsbehandlung von Geflüchteten beim Zahnarzt kompletter Unsinn aus dem Fiebertraum des rechten Sumpfs, aber es bleibt ja gleichzeitig Realität, dass als gesetzlich versicherte Person einen Termin beim Zahnarzt zu bekommen und dann nicht durch Zuzahlungen ruiniert zu sein durchaus ein Abenteuer für sich darstellt. Das komplett zu ignorieren widerspricht der Lebensrealität der überwiegenden Mehrheit und sorgt nicht eben dafür, den Rest der Argumente ernst zu nehmen.
Zudem darf man auch nicht unterschlagen, dass wie überall, wo es um Menschen geht, auch solche beteiligt sind, die niedere Motive haben. Ein Opfer zu sein Macht nicht automatisch edel, und so gibt es selbstverständlich Menschen, die hierher kommen und nicht ihren Teil beitragen, indem sie einen Integrationsmaßnahmen teilnehmen und sich an die bestehenden Gesetze halten. Es gibt solche, die kriminell sind, die sich verweigern und versuchen, möglichst anstrengungsfrei durch den Alltag zu kommen und es gibt Menschen, die die Behörden über ihren wahren Status belügen. Das alles ist letztlich unvermeidlich. Wo immer Menschen zusammenkommen, wird es auch faule Eier geben, genauso wie es immer auch Goldstücke gibt. Aber so zu tun, als sei bereits die Erwähnung migrantischer Gewalt in der Debatte unzulässig, ist nicht hilfreich.
Dazu kommt, dass Linke permanent ignorieren, dass Fakten und Zahlen in der politischen Auseinandersetzung annähernd irrelevant sind und dass Gefühle eine viel größere Bedeutung haben. Dass die Linke so beharrlich die Rolle von Emotionen und Wahrnehmungen ignoriert, ist und bleibt eine ihrer größten Schwächen. So bleibt die Behauptung, Geflüchtete und Zugewanderte würden gegenüber Alteingesessenen bevorzugt behandelt und erhielten irgendwelche Leistungen, auf die „echte Deutsche“ keinen Anspruch hätten, vollkommener Unsinn. Gleichwohl ist es Unsinn, der für eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung gefühlte Wirklichkeit darstellt und daher als solche behandelt werden muss.
Darüber wird häufig mit Verweis auf die Menschenrechte hinweggewischt, wie jedem Menschen ein Grundrecht auf Asyl zusprechen würden. Das ist bis zu einem bestimmten Punkt auch korrekt; allein, das entsprechende Recht erlaubt das Stellen eines Asylantrags, nicht seine automatische Genehmigung. Diese Grenzen werden in der Debatte von links häufig, und ich behaupte: durchaus bewusst, vermischt.
Zudem finden sich auf der Linken zahlreiche Zahlenspielereien. So habe ich in den letzten Tagen aus entsprechenden Kreisen immer wieder die Statistik der aktuellen Asylanträge von stark 200.000 im Jahr 2023 in die Timeline gespült bekommen, die dann gerne mit den Zahlen von 2015ff. kontrastiert wurden oder auch mit den rund 230.000 von 2022 verglichen wurden. Letztere Zahlenspielerei ist so offensichtlich absurd - 2022 ist abgeschlossen, 2023 nicht - dass sie kaum die Widerlegung lohnt, während erstere Zahl einerseits ignoriert, dass sämtliche Geflüchteten aus der Ukraine - deren Zahl mittlerweile siebenstellig ist - durch die verkürzten Aufnahmeverfahren in der Statistik überhaupt nicht auftauchen und andererseits die politische Dimension ignoriert, dass die konkrete Zahl völlig bedeutungslos ist. Der Diskurs wäre exakt derselbe, ob nun 100.000 oder 400.000 Geflüchtete ins Land kommen würden. Die Debatte dreht sich nicht um konkrete Zahlen, sondern um Gefühle, was die Linke praktisch komplett ignoriert und für illegitim erklärt.
Gleichzeitig leidet auch der rechte Teil des Diskurses unter Lebenslügen.
Wo wir gerade bei Zahlen sind: hier sieht es auf der Rechten nicht besser aus. Auch hier wird gerne wider besseren Wissens behauptet, die konkreten Zahlen würden irgendetwas aussagen - als ob Menschen, die die AfD wählen, bei einer Halbierung der aktuellen Zahlen plötzlich wieder zurück zu CDU wandern würden - und werden falsche Eindrücke erweckt (wie etwa bei Julia Klöckner, die bewusst mit falschen Zahlen operiert), wobei dies häufig in die andere Richtung geht: entweder fehlen zahlen vollständig, wie in der beknackten Zahnersatzdebatte, oder Einzelfälle werden verallgemeinert und pauschalisiert.
Überhaupt, der Zahnersatz. Zu den Lebenslügen gehört auch etwa der in der jüngsten absurden Diskussion von Friedrich Merz vorgebrachte Anwurf, das deutsche Sozialsystem sei ein besonders herausragender Pullfaktor. Das ist schlichtweg unrealistisch. Es setzt Kenntnisse über die Komparative europäische Sozialbürokratie voraus, die in den Ursprungsländern sicherlich nicht vorliegen können.
Er ignoriert zudem, dass die beliebtesten Ziele der Migrant*innen Großbritannien und die USA sind, die beide nicht eben für ihr Sozialsystem berühmt sind. Sie bilden den Fluchtpunkt aller idealistischen Erwartungen, nicht die Agentur für Arbeit. Die Sache ist viel einfacher gelagert: der größte Pullfaktor Europas ist unser Bruttoinlandsprodukt. Der ganze Rest besteht aus Mund-zu-Mund-Propaganda, wie wir sie noch von 2015 kennen und die mit der Realität überhaupt nichts gemein hat. Die Vorstellung also, dass ein Umstellen auf Sachleistungen für Geflüchtete (die ohnehin völlig unrealistisch ist), eine Reduzierung der Anspruchssätze und was des Deutschen liebstes Kind, die inkrementelle bürokratische Reform, nicht noch an Ideen produzieren kann, die Attraktivität Deutschlands bei Menschen, die aus Bürgerkriegsgebieten in Zentralafrika flüchten, nennenswert beeinflussen würde, ist völlig absurd.
Das führt ihn genau die nächste rechte Lebenslüge dieser Debatte, nämlich, dass diese Menschen nicht flüchten würden, wenn Europa nicht so attraktiv wäre, sprich, dass sie „Wirtschaftsflüchtlinge“ seien. Menschen, die eine unglaublich gefährliche Reise quer durch einen sowohl politisch als auch klimatisch hochgradig gefährlichen Kontinent auf sich nehmen, tun dies nicht vorrangig, weil sie auf mehr Geld hoffen. Sie tun es, weil sie um ihr Leben fürchten. Das schließt natürlich nicht aus, dass sie auch auf ein besseres Leben und ein höheres Einkommen offen, weswegen sie auch hierher kommen und nicht in die erwähnten Alternativen. Aber es ist nicht der treibende Grund, sonst würden wir Migrationsbewegungen ja unabhängig von Lebensgefahr im Ursprungsland sehen, was wir aber nicht tun.
Eine weitere Lebenslüge auf der Rechten ist die Vorstellung, man sei ja gar nicht gegen Migration, da man eigentlich Fachkräfte ins Land locken wolle. In den 2000er Jahren war dafür die klischeehafte Mirage der indischen Informatiker, die sicherlich in Scharen die neue Greencard beantragen, sprichwörtlich geworden. Diese Idee leidet unter dem grundsätzlichen Problem, dass nie ausgesprochen wird, welche Prämisse dahinter steckt: die ausländischen Fachkräfte müssen ja im Ausland überhaupt erst zu Fachkräften gemacht werden, was selbiges Ausland große Summen in der Investition ins Bildungssystem abverlangt. Genau diese Summen wollen wir dann kostenlos abschöpfen, indem wir den anderen Ländern zwar sämtliche Kosten aufbürden, dann aber die Früchte ernten wollen. Am besten gehen die Fachkräfte dann mit Erreichen des Renteneintrittsalters direkt in ihre Ursprungsländer zurück und beantragen niemals Zahlungen. Warum aber genau im Ausland massenhaft für den deutschen Arbeitsmarkt brauchbare Fachkräfte ausgebildet werden sollten, die dann quasi als Überschuss zur Migration zur Verfügung stehen, konnte nie geklärt werden - und noch viel weniger, warum sie ausgerechnet nach Deutschland kommen sollten.
Den zur Lebenslüge wird diese Geschichte ja nicht nur wegen der mangelhaften Prämissen, sondern auch deswegen, weil selbst die Fachkräfte hierzulande unwillkommen sind. In Befragungen von Expats landet Deutschland regelmäßig auf den hintersten Plätzen, erst jüngst wieder auf Rang 49 von 53. Der deutsche Alltagsrassismus ist dafür natürlich nicht der einzige Grund; die Bürokratisierung und mangelnde Digitalisierung liegen sogar noch vorn. Er trägt aber eben auch zum katastrophalen Bild bei.
Weiter geht es in Teil 3.
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