Dienstag, 9. Januar 2024

Hubertus Heil kürzt, weil früher alles besser war, bei den Medien, Trumps Erfolgsaussichten und bei der Verteidigung - Vermischtes 09.01.2024

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Medien haben die Brisanz der Schuldenbremse zu spät umrissen

Der Artikel thematisiert die weitreichenden Folgen der Schuldenbremse, insbesondere in Bezug auf die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates. Er betont, wie die Schuldenbremse die aktuelle Haushaltskrise durch die Umwidmung von Corona-Mitteln beeinflusst hat. Der Autor kritisiert, dass bei der Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2009 die Medien und politischen Talkshows wenig Aufmerksamkeit für die demokratietheoretischen und ökonomischen Fragen rund um dieses Thema zeigten. Kritische Stimmen von Ökonomen wurden damals kaum beachtet, und die mediale Berichterstattung stützte sich oft auf das Narrativ der Überschuldung, ohne die ökonomischen Aspekte angemessen zu hinterfragen. Der Artikel hebt hervor, dass es heute mehr kritische Stimmen zur Schuldenbremse gibt und dass die aktuellen Entwicklungen in größeren Medien sowie Podcasts kritisch begleitet werden. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass in Teilen des Wirtschaftsjournalismus immer noch ein verkürztes Verständnis von Staatsfinanzen herrscht und komplexe Fragen mehr Aufklärung benötigen. (Matthias Ubl, Übermedien)

Ich will an der Stelle nicht die alte Debatte wiedereröffnen, ob die Schuldenbremse nun taugt oder nicht; mir geht es nur um die im Artikel beschriebenen medialen Rezeptionsdynamiken. Und ich postuliere, dass kaum abzustreiten ist, dass a) hier eine einheitliche Meinung vorherrschte und b) die Brisanz tatsächlich völlig unterschlagen wurde. Ich habe das hauptsächlich hier als eigenen Punkt statt auf die Resterampe gepackt, weil es ein hervorragendes Beispiel dafür ist, dass moralistische Überlegenheit, erhobener Zeigefinger, Einheitsmeinung und Herdentrieb von der Gesäßgeografie unabhängig sind. Genauso wie es 2015 eine Phase gab, in der alle in Begeisterung für "Refugees Welcome" ersoffen, war es 2009 so, dass es keine Möglichkeit gab, sich dem großen Schuldenbremsenkonsens zu enziehen und dass jegliches Abweichen davon als Häresie gebrandmarkt wurde - heute würde man Canceln sagen. Ich weiß es, ich war dabei, auf der anderen Seite. Und ich bin ziemlich zuversichtlich, dass meine Erfahrung ungefähr die derjeniger war, die 2015 schon mehr als skeptisch auf die Flüchtlingspolitik schauten. Manchmal sollte man da glaube ich empathischer sein.

2) Trumps Geheimnis

Der Artikel diskutiert Donald Trumps aktuelle Umfrageergebnisse und die Möglichkeit, dass er bei Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnen könnte. Der Autor argumentiert, dass Trumps Erfolg nicht darauf hindeutet, dass die Amerikaner extreme Ideologien bevorzugen oder die Demokratie ablehnen. Stattdessen betont der Artikel Trumps gemäßigte politische Position, die oft übersehen wird. Trotz seiner provokanten Rhetorik und kontroversen Aktionen wird Trump von vielen als pragmatisch und gemäßigt wahrgenommen. Der Autor analysiert Trumps politische Entscheidungen in Bereichen wie Gesundheitspolitik, Handel, Außenpolitik und gesellschaftlichen Fragen, um seine moderate Ausrichtung zu verdeutlichen. Der Artikel schließt mit der Betonung, dass Trumps Erfolg nicht unbedingt auf einen Wunsch nach radikalen Ideologien hinweist, sondern auf die Wählerschafts Akzeptanz seiner pragmatischen Herangehensweise. (Matthew Schmitz, IPG)

Ich hatte bereits im letzten Vermischten Trumps Wahlchancen und das Echo von 2016 diskutiert; ich will diesen Artikel noch einmal dafür hier kommentieren. Denn das ist der zweite entscheidende Aspekt, der ständig übersehen wird: Trump gewann 2016 maßgeblich deswegen, weil er als der MODERATERE Kandidat erschien. Das ist, bedenkt man seine Person und seine Positionen, völlig absurd, ändert aber nichts daran, dass es die Einschätzung großer Teile der amerikanischen Öffentlichkeit ist. Ich halte das zu Teilen für ein Medienversagen, das ich hier schon oft genug kritisiert habe (hallo New York Times), in anderen Teilen aber auch für genuin. Das Problem ist nur, dass Trumps äußerst unkonkreten Positionen, die diesen Eindruck erst erlauben, gepaart mit seiner Inkompetenz dazu führen, dass sie irrelevant sind. Relevant sind die der Thinktanks, die die Pläne für seine Präsidentschaft entwerfen und das Personal dafür vetten. Auch das habe ich hier schon oft diskutiert. Und genau da liegt eben auch das Medienversagen.

3) Mr Zickzacks durchschaubares Bürgergeldmanöver

Der Artikel beschäftigt sich mit einer überraschenden Kehrtwende von Sozialminister Hubertus Heil in Bezug auf das Bürgergeld in Deutschland. Obwohl Heil normalerweise für langfristige Planung bekannt ist, zeigt er plötzlich eine härtere Haltung gegenüber "Totalverweigerern", die Bürgergeld ablehnen. Die vorgeschlagene Maßnahme beinhaltet eine zeitweise Kürzung des Regelsatzes für bis zu zwei Monate. Der Autor betont die Unstetigkeit in Heils Position zu Sanktionen für Bürgergeldempfänger, da dies bereits die dritte Position in dieser Legislaturperiode ist. Diese scheinbare Kehrtwende wird politisch als Reaktion auf Sparzwänge und eine Bürgergelderhöhung um zwölf Prozent zum Jahresbeginn interpretiert. Trotz Kritik aus den eigenen Reihen wird Heil vorgeworfen, Symbolpolitik zu betreiben, um demotivierende Effekte des Sozialstaats zu korrigieren. Der Artikel endet mit der Aufforderung, dass Heil mehr Mitwirkung bei der Anpassung der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Sozialleistungen zeigen sollte, um die Akzeptanz des Sozialstaats zu stärken.(Rasmus Buchsteiner, Spiegel)

Ich finde es auch eher untypisch für Heil, dass er so auf die populistische Pauke haut. Denn nichts anderes ist das. Wer ist schon dagegen, Totalverweigerer*innen das Bürgergeld zu streichen? Nur, in der Praxis ist das halt nicht so einfach. Einzelfallentscheidungen und der Rechtsstaat stehen dem gesunden Volksempfinden allzuoft im Weg (und das ist auch gut so). Letztlich dürfte allen Beteiligten klar sein, dass die 130 Millionen, die Heil angeblich einsparen will, eine reine Buchungsnummer sind. Die kann man in den Haushalt schreiben, damit irgendwelche Kennzahlen erfüllt sind, und dann können alle Beteiligten so tun, als ob sie das glauben würden. Und da es gerade ja wieder in Mode ist, auf den Schwächsten rumzutrampeln, macht man da eben auch noch ein bisschen mit. Irgendwas Konkretes rauskommen wird da aber sicher nicht. - Hier noch ein Artikel zu den geplanten Maßnahmen. - Und hier ein guter Kommentar zu den Fehlern der Medien.

4) War früher alles besser? Nostalgie ist verbreitet – aber bildungspolitisch heikel

Der Artikel reflektiert über das Phänomen der Nostalgie, insbesondere in Zeiten von Krisen und Umbrüchen. Historiker Tobias Becker erklärt, dass Nostalgie die Sehnsucht nach einer vermissten Vergangenheit ist, jedoch auch einen schmerzhaften Aspekt hat, da man sich bewusst ist, dass der vergangene Moment nicht wiederholbar ist. Medienpsychologe Tim Wulf betont, dass Menschen in Zeiten von Veränderungen oft in Nostalgie schwelgen, da sie eine psychologische Ressource sein kann. Die Objektivität zeigt jedoch, dass frühere Zeiten nicht zwangsläufig besser waren. Die Popularität von Retro-Wellen in Kunst, Kultur und Design wird als Rückzug in eine abgeschlossene Vergangenheit interpretiert. Der Artikel warnt vor politischer Instrumentalisierung von Nostalgie, insbesondere im Kontext von populistischer Kommunikation. Es wird darauf hingewiesen, dass die Nostalgie als "Zuckerguss" in politischen Botschaften wirken kann. Die Debatte über Bildungsnostalgie wird ebenfalls angesprochen, wobei betont wird, dass sich Rahmenbedingungen und Lebenschancen im Laufe der Zeit verändert haben. (News4Teachers)

Ich halte den Artikel teilweise für etwas zu rosig (wenn es etwa um Fremdsprachenkenntnisse geht, da werden Ausnahmen stark verallgemeinert), aber die Grundtendenz teile ich völlig. "Früher war alles besser" scheint mir eine Grundkonstante der menschlichen Psyche zu sein, aber ich habe keine Ahnung, warum. Ich versuche immer, dem ganz bewusst gegenzuarbeiten. Es gehört auch zu den großen Grund-Messages meines Geschichtsunterrichts: früher war nicht besser. Das Leben ist seit etwa 200 Jahren immer besser geworden, und das hat sich nicht geändert (egal, wie oft manche Linke das Gegenteil behaupten btw). Genauso, wie die Wundermaschine Kapitalismus unser Leben ständig verbessert hat (trotz aller Ungerechtigkeiten und Kollateralschäden), genauso hat sich in anderen Bereichen alles weiterentwickelt. Vielleicht liegt darin auch die Antwort auf meine Frage: dass die Anerkennung dieses Fakts die eigene Identität in Frage stellt, weil die in der Vergangenheit liegenden Errungenschaften dadurch entwertet werden. Macht das Sinn?

5) Ein Grundrecht auf Verteidigung?

In diesem Artikel wird die Verbindung zwischen Staatsverfassung und Kriegsverfassung, wie sie der Verfassungshistoriker Otto Hintze beschrieben hat, im Kontext der aktuellen deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erörtert. Der Autor betont, dass die Gewährleistung äußerer Sicherheit eine grundlegende Aufgabe des Staates ist. Diese Sichtweise wird durch Carl Schmitts Aussage „Das protego ergo obligo ist das cogito ergo sum des Staates“ untermauert, die besagt, dass die Sicherheit des Staates für dessen Existenz essentiell ist. Des Weiteren wird die Rolle des Grundgesetzes in Bezug auf die Bundeswehr und die äußere Sicherheit Deutschlands hervorgehoben. Nach dem Grundgesetz ist die Bundesregierung für die Aufstellung von Streitkräften zur Verteidigung verantwortlich, wobei die Art und Weise der Organisation und Ausstattung dieser Streitkräfte im Ermessen des Gesetzgebers liegt. Jedoch zeigt der Artikel auf, dass die aktuelle Lage der Bundeswehr, sowohl materiell als auch personell, als defizitär betrachtet wird und nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht. Insbesondere die Bedrohung durch Russland wird als ein wesentlicher Faktor für die Notwendigkeit einer starken und funktionsfähigen Verteidigung angesehen. Der Artikel stellt auch die Frage, ob aus dem Grundgesetz ein individueller verfassungsrechtlicher Anspruch auf eine effektive Verteidigung abgeleitet werden kann. Es wird argumentiert, dass eine solche Ableitung durchaus möglich ist, insbesondere angesichts der Bedeutung, die der äußeren Sicherheit für den Schutz der Grundrechte und die Legitimität des Staates zukommt. Schließlich wird diskutiert, wie das Legitimitätsproblem, das sich aus dem unzureichenden Zustand der Streitkräfte ergibt, verfassungsrechtlich gelöst werden könnte. Der Artikel schließt mit der Feststellung, dass nur das Bundesverfassungsgericht die Frage beantworten kann, ob es ein Grundrecht auf Verteidigung gibt und wie defizitär der Zustand der Streitkräfte sein muss, damit dieses Recht greift. (Patrick Heinemann, Verfassungsblog)

So sehr ich auch für die Zeitenwende und größere Ausgaben für die Verteidigung bin, was wir hier sehen können ist einmal mehr ein Beispiel für den von Ariane und mir bereits öfter kritisierten Trend, permanent politische Ziele in der Verfassung verankern und finden zu wollen. Es führt genau in jene Art Verfassungskrise, deren Konturen sich immer deutlicher herausschälen. Wir haben ein BVerfG-Urteil, das weitere Ausgaben verfasusngswidrig befindet, das Kürzungen im Sozialetat weitgehend verunmöglicht, möglicherweise aber bald staatliche Tätigkeit für Klimaschutz und größere Ausgaben für Verteidigung vorschreibt - und bei all dem muss sich das Gericht keinen Deut um die Umsetzbarkeit scheren, sondern allein den logischen Pfad jeder einzelnen Frage entlang zu gehen. Die Politik steht dann dumm da, denn wie wir gerade ad nauseam bewiesen bekommen ist es praktisch unmöglich, einen Konsens für den Abbau irgendwelcher Subventionen, die Kürzung irgendwelcher Ausgaben oder die Erhöhung von irgendwelchen Steuern zu finden. Wir steuern auf eine Unregierbarkeitssituation zu. Das bereitet mir mittlerweile fast so viele Sorgen wie der Aufstieg der AfD.

Resterampe

a) Trennung, Adoption, Lebensgemeinschaft: So will Marco Buschmann das Familienrecht modernisieren. Genau dafür hab ich die Ampel gewählt. Go FDP!

b) Bildungssenatorin: Schüler bleiben noch lange unter Mittelmaß (fünf bis acht Jahre). Auch so eine Schlagzeile, die keine sein sollte. Wer kann ernsthaft etwas anderes erwarten?! Gleiche Kategorie übrigens hier für Sachsen statt Berlin: Ein Kultusminister gibt auf: „Der Staat kann nicht alle Defizite ausmerzen“ Ja, no shit!

c) Aus der Kategorie "Geschichten in Schlagzeilen": Friedrich Merz will keinen unionsinternen Machtkampf um Kanzlerkandidatur zulassen (klar will er das nicht, warum sollte er auch?) im Gegensatz CDU/CSU: Hendrik Wüst hält K-Frage nicht für entschieden – und fordert Mitsprache. Dazu als Absacker Friedrich Merz, Markus Söder und Hendrik Wüst: Das Dreiecksverhältnis (wilde Spekulationen darüber, was andere Leute vielleicht vorhaben könnten, die viel zu sehr davon ausgeht, dass es da konkrete Pläne gibt und nicht reines Improvisieren je nach Lage). Wer dann noch Appetit hat: CDU: Michael Kretschmer hält K-Frage für entschieden (Ich auch, und ich denke, auch Wüst und Söder. Die positionieren sich nur für ein "Ich hab es ja immer schon gesagt" danach - und halt für den Fall einer Merz-Implosion; hedge all bets.)

d) Guter Essay zu einer der letzten Schäuble-Äußerungen.

e) Das sollten wesentlich mehr Medien machen.

f) Gutes Interview zu den Gestalten und Gefahren des Rechtsradikalismus.

g) Wie realistisch ist ein deutscher Atomeinstieg? Klasse Artikel für Fakten zur Debatte. Ich würde davon ausgehen, dass das solange verschleppt wird, bis der Wiedereinstieg unrealistisch ist.

h) Yep, Team Transitory was right all along.

j) Today’s Supreme Court is the most partisan in modern history. Kein Zweifel.

k) The Colorado Ruling Changed My Mind; The Colorado Supreme Court Decision Is True Originalism. Letztlich irrelevant; keiner glaubt an Originalism. Das ist nur ein intellektueller Knüppel, den man nutzt.

l) America Before Pizza.

m) Trump Insists He Hasn’t Read Mein Kampf. NATÜRLICH HAT ER DAS NICHT. Alter, manche Debatten sind echt so dumm, da kann man den Hirnzellen beim Sterben zuhören.

n) Xi Jinping Is Fighting a Culture War at Home.

o) Die Macht der Sonntagsfrage. Ich halte sie ehrlich gesagt für überschätzt.

p) Stop Whining About the “Kids Today”. Yes please.

q) Annalena Baerbock: »Muttersein ermöglicht mir, eine bessere Politikerin zu sein«. Das mag ich an Baerbock; die hilft beim Normalisieren von Lebensentwürfen. Wenigstens ein kleines bisschen.

r) Die Zahlen bleiben ewig gleich. Die Debatten leider auch.

s) Die AfD behauptet, fest damit zu planen, dass die CDU sich ihr in Neufünfland für Koalitionen öffnen wird. Für mich ist das mangels Ortskenntnissen echt eine Blackbox.

t) Klasse Thread.

u) This.

v) Wisconsin Gerrymandering ist echt absurd.

w) Unsere armen Milliardär*innen.

x) Threads scheint ziemlich mies zu sein.

y) Das Ausmaß des Brexit-Desasters ist echt faszinierend.

z) Ganz netter Jahresrückblick von Benedikt Becker auf seine CDU-Berichterstattung.

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