Montag, 22. Januar 2024

Rezension: Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past (Teil 4)

 

Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past (Hörbuch)

Teil 1 hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier.

Kapitel 8 (Sozialismus) verbiegt sich auch ordentlich, um eine grundsätzliche amerikanische Offenheit für sozialistische Ideen aufstellen zu können (was ich für völlig haltlos halte). Einzelevents wie irgendwelche 200 Jahre alten Reden taugen jedenfalls als Beweise überhaupt nicht, das ist keine seriöse Geschichtswissenschaft. Auch die großzügige Sammlung aller Strömungen, die vage die bestehende Ordnung aus einer nicht-rassistischen oder -faschistischen Warte heraus kritisierten unter dem Label "sozialistisch" (vor allem solche, die bestenfalls (!) als sozialdemokratisch (democratic socialism) gewertet werden dürften, ist völliger Quatsch. Der Aufsatz hat mich so hart mit den Augen rollen lassen, dass sie schier aus dem Kopf fielen. Der Versuch, alle guten Entwicklungen der USA auf Sozialisten zurückzuführen und deren mangelnden politischen Erfolg als Ausdruck ihrer Effektivität zu verklären, ist solch motivated reasoning, dass es eigentlich kaum der weiteren Kritik bedarf. Für Bismarck und Wilhelm II. wäre es jedenfalls bahnbrechende Neuigkeit, dass Kooptierung dazu führte, dass "Sozialisten" keine Wahlerfolge feiern können. Mich erinnert das Ganze an die Abhandlungen der BernieBros 2016.

Kapitel 9 (Magie des Markts) zeichnet zwar den Import Haykes und Mises' sowie den Erfolg Friedmans als Elitenprojekt nach, weist diesen aber in meinen Augen viel zu viel Bedeutung zu (genauso wie das bedeutungsschwangere cui bono, eine nicht auszurottende linke Angewohnheit). Zudem halte ich es für wenig tragfähig, die Geburt des Marktmythos erst in den 1950er und 1960er Jahren suchen zu wollen. Hier zeigt sich eine oft auftauchende Schwäche mangelnder Themeneingrenzung: geht es um die moderne, "neoliberale" Prägung dieses Mythos, macht das grundsätzlich Sinn (bliebe aber in der Verengung auf die Personen immer noch fragwürdig), aber dann ist der Bezug zum 19. Jahrhundert unsinnig. Eine ähnliche Strukturproblematik sehe ich auch bei Kapitel 10 (New Deal). Die Statistikgeschichte des New Deal etwa fand ich super spannend, aber offiziell will das Essay den kompletten Mythos um den New Deal (sprich: das rechte Gegennarrativ) besprechen, was es aber in der Schwerpunktsetzung und Länge gar nicht kann. Die politische Zielsetzung und die wissenschaftliche Arbeit stehen auch hier in einem harten Gegensatz zueinander.

Noch krasser findet sich das in Kapitel 11 (Statuen), das eigentlich den Lost Cause thematisieren müsste, der ja ein zentraler Mythos der USA ist. Aber aus mir unerfindlichen Gründen wurde als Themenschwerpunkt die Statuendebatte gewählt (weil sie halbwegs aktuell und ein Aufreger der aktivistischen Basis ist?), weswegen eine eher unmotivierte Abhandlung über die Statuen mit Lost-Cause-Revivals gemischt wird und nichts Halbes und nichts Ganzes entsteht. Wie man das Thema ohne Erwähnung von "Vom Winde verweht" hinbekommt, ist mir auch unbegreiflich. Kapitel 12 (Southern Strategy) schließlich enthält eine gute Darstellung des Great Realignment (über das ich ja auch selbst geschrieben habe), setzt aber die Reihe der merkwürdigen Fokussetzungen mit der "southern strategy" fort, die ja eigentlich eine wesentlich klarere Bedeutung hat und an dieser Stelle als Begriff völlig verwässert wird. Abgesehen von diesem begrifflichen Detail ist der Aufsatz aber solide und gut fundiert und einer der besseren des Bandes.

Das gilt auch für Kapitel 13 (MLK). Die Veränderung von MLKs Image und die Mythenbildung um ihn sind ein genuiner "Myth America", der eine Sezierung verdient, die in dem Essay auch ordentlich geleistet wird. Auch die historische Einordnung gelingt gut. Das gilt für Kapitel 14 (Backlash) leider nicht in demselben Maße. Grundsätzlich ist die Analyse und Schlussfolgerung des Essays völlig korrekt; die Passivkonstruktion des Backlash ist ein echtes Problem. Gleichzeitig aber wird völlig abgestritten, dass die Proteste irgendetwas damit zu tun haben könnten. Das ist aber Unsinn. Die Hervorhebung des Themas zwingt zu einer meist polarisierenden Positionierung, das ist eine Grunddynamik von Protest. Das kann man nicht einfach damit handwedeln, dass die eine Positionierung halt böse ist. Es ändert nichts an der Richtigkeit, dass der white backlash eine bewusste und abzulehnende Entscheidung ist.

Die Verteidigung der Great Society in Kapitel 15 ist insgesamt durchaus zutreffend. Die Kritikpunkte über seine Mängel, die von Zeitz zwar angerissen, aber nicht sonderlich ausführlich besprochen werden, sind demgegenüber ja unbenommen. Ich hätte gerne eine ausführlichere Betrachtung der wirtschaftspolitischen Grundlagen gehabt. Zeitz arbeitet schön die Hilfen bei der Reduzierung absoluter Armut oder dem Abbau der Segregation heraus (die eben nicht von Little Rock oder Brown v Board of Education beseitigt wurde, sondern erst durch starke nationale Gesetzgebung und Investition von Ressourcen), streift aber die liberalen Prämissen vom Wachstumsmodell eher, als dass er sie ausführlich untersucht. Was Seitz bei der Desegregation der staatliche Institutionen kurios unerwähnt lässt, ist die Flucht in private Institutionen, deren staatliche Förderungen und die Zerstörung der staatlichen Infrastruktur durch die republikanischen Regierungen als Folge davon. Das ist ein so elementarer Teil des Aufbaus der heutigen USA.

Zu Kapitel 16 (Polizeigewalt) habe ich wenig hinzuzufügen. Die amerikanische Polizei ist eine völlig verrottete Institution, und Hinton ging mit ihr geradezu noch freundlich um. Die Konzentration auf die Militarisierung und vor allem die Fallstudie zum Tränengas war sehr interessant, ging aber auf Kosten anderer Aspekte, etwa der Zusammensetzung und Mentalität der Polizist*innen. Hier wäre ein klarerer Fokus besser gewesen. Kapitel 17 (Aufstände) lässt das das Offensichtliche - dass die Tea Party und der Unabhängigkeitskrieg sowie der Bürgerkrieg besonders prägnante Beispiele sind - gleich weg, was angesichts des Fokus' auf rechtsextremen Umtrieben nachvollziehbar ist. Erstere hätten zwar mehr mit den Mythen zu tun (siehe Gesamtfazit), aber auf diese Art bleibt das Essay konzise und enthält mit der frühen Internet-Vernetzung für mich auch neue Aspekte. Ein Gedanke zum Radikalisierungsprozess: Wir haben das in der BRD an der RAF glaube ich gut sehen können: als die linken Proteste der 1967/1968 an Fahrt verloren und die meisten Leute sich abwandten, entstand überhaupt erst der harte Kern des Linksterrorismus. Das scheint mir ein allgemeines Muster zu sein.

Kapitel 18 (Feminismus) leidet in meinen Augen unter dem Aktivismus der Autorin. Petrzela verwendet viel Aufmerksamkeit darauf sich zu wundern, dass Konservative nicht verstehen, dass Progressive ja durchaus die Familie stützen, sieht aber den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das Problem ist der Begriff. Sie versteht (wie Progressive generell) unter Familie etwas völlig anderes als Konservative. Diese fassen den Begriff enger. Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Ehen, offene Beziehungsformate, ganz egal, wie viel partnerschaftliche Liebe und Kinderfürsorge sie enthalten, entsprechen diesem Bild nicht. Letztlich bleibt der Essay damit trotz der akkuraten Darstellung feministischer Anliegen vor allem moralisierende Abschweifungen, die zwar für einen progressiven Stammtisch sicher unterhaltsam sind, aber unfreiwillig zeigen, warum beide Seiten hier nicht miteinander reden können.

Ich stimme den Schlussfolgerungen von Kapitel 19 (Reagan) völlig zu, liege aber mit Zelizers Framing über Kreuz. Dieser kümmert sich praktisch nicht um die Konsistenz seiner Argumente, sondern versucht nur, an allen Fronten die Reagan-Ära herabzuwürdigen. So ist es bei progressiven Niederlagen klar, dass riesige Revolutionen nicht möglich sind und weise Selbstbscheidung Zeichen der staatsmännischen Qualität, bei Reagan aber das genaue Gegenteil. Auch ist eine Rosinenpickerei bei Wahlergebnissen und Beliebtheitsumfragen zu beobachten, die nur eine vorher festgelegte Schlussfolgerung bestätigen sollen. Natürlich hat Zelizer Recht damit, dass der Reagan-Mythos erst nachträglich aufgebaut wurde (die Republicans waren während seiner Amtszeit nicht überragend glücklich mit ihm), aber dass es den Democrats erst 1992 gelang, mit Biegen und Brechen und einem deutlichen Schritt in die wirtschaftskonservative Richtung wieder das Präsidentenamt zu erringen und bis einschließlich Hillary Clintons Kandidatur 2016 nicht zentral davon abwichen eine Folge der "Reagan-Revolution", die zwar nicht dem Mann allein, aber durchaus dem politischen Moment zuzuschreiben ist und deren konstante Leugnung in Zelizers Argumentation mehr vernebelt als erhellt.

Das 20. Kapitel (voter fraud) ist inhaltlich grundsätzlich ersteinmal nicht zu beanstanden (wenn man einmal von der Frage absieht, inwieweit man Bushs Wahl 2000 als Fälschung betrachten möchte; ich halte da eher wenig davon). Vielmehr zeigt sich hier einmal her, dass die historische Dimension außen vor bleibt: die massiven Wahlfälschungen im 19. Jahrhundert, wo auch der klassische voter fraud absoluter Standard war, werden kurioserweise gar nicht thematisiert. Sie sind, fairerweise gesagt, auch in keiner direkten Traditionslinie, aber ihre Auslassung zeigt eineproblematische Tendenz zur Rosinenpickerei des ganzen Werks: wenn die massiven Fälschungen im 19. Jahrhundert nicht von den großstädtischen Machines, sondern von den Rassisten der Südstaaten durchgeführt worden wären - sie hätten sicher prominente Erwähnung gefunden.

Ich habe eingangs den Vergleich mit Zinns Buch gewählt und davon gesprochen, dass das Werk eher ein aktivistisches als ein historisches ist. Ich möchte das noch einmal unterstreichen. Wer Munition für den politischen Meinungskampf sucht, wird diese hier finden. Darin haben Werke wie dieses durchaus eine Daseinsberechtigung: Mythenbildung (für die eigene Seite) ist ebenso wichtig wie Mythendekonstruktion (der gegnerischen). Aber ernsthafte historische Arbeit ist das hier nicht, und ich bin kein Aktivist. Daher war das Buch für mich eher eine frustrierende Erfahrung. Mitgliedern des DNC dürfte es aber sicher helfen.

Ein Essayband, der sich tatsächlich mit den großen amerikanischen Mythen beschäftigt - von den "Founding Fathers" über Geschichten zur politischen Struktur hinüber zur Freiheitsstatue, den Burgern und Pizza und was das Selbstbild des Volks jenseits des Atlantiks nicht noch so zu definieren scheint - wäre mir lieber gewesen. Buyer's remorse, quasi. Es ist nicht die Schuld Kruses, dass ich wenig mit dem anfangen kann, was er geschrieben hat; in dem Fall werden letztlich Erwartungen enttäuscht, die vielleicht so gerechtfertigt gar nicht waren, weswegen ich zu viel Kritik nicht direkt bei ihm abladen will. Aber es sei emphatisch noch einmal betont: der Band ist ein politisches, kein historisches Werk.

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