Donnerstag, 6. August 2020

Der Sinn der Quote

Angesichts von Stefan Pietschs Artikel zu Sinn und Unsinn der Frauenquote (er lehnt sie erwartungsgemäß ab) entbrannte eine Diskussion, in deren Verlauf ich versprach, meine eigenen Gedanken zu dem Thema kohärent in einem Artikel statt verteilt über diverse Kommentare zu fassen. Dieses Versprechen will ich hiermit erfüllen. Ich fühle mich wie Haldir in Helms Klamm, quasi. Mein Hauptproblem mit der ganzen Debatte für und wider die Quote ist, mit welch bescheuerten Prämissen sie oftmals geführt wird. Ich war früher selbst sehr ablehnend gegenüber der Frauenquote (ich erinnere etwa an diesen Artikel von mir), habe meine Meinung dazu aber mittlerweile geändert. Ich möchte hier erklären, warum. Ihr könnt mich jetzt umarmen.

Gleich vorweg gestellt: Ich bin kein Jurist. Ich gehe davon aus, dass es durchaus möglich ist, Frauenquoten oder Paritätsgesetze verfassungsgemäß zu erstellen, aber ich habe keine Ahnung wie und bin an den juristischen Spitzfindigkeiten auch nicht interessiert. Es gibt solche Quoten in vielen Bereichen bereits (Vorstände, in diversen Parteien, Betriebsräte, Behörden, etc.), ohne dass es ein Problem mit der Verfassung gab; das scheint mir eher ein Thema der konkreten Ausgestaltung zu sein. Selbst wenn das von Stefan Pietsch konkret kritisierte Paritätsgesetz gar nicht möglich wäre, so sagte dies immer noch wenig über andere Quotenlösungen aus, und ich will hier etwas allgemeiner werden.

Mit diesem Caveat müssen wir nun grundsätzlich werden. Denn die ganze Quotendiskussion hängt von grundsätzlichen Prämissen ab, die man teilen muss, um die jeweilige Seite nachvollziehen zu können. Es handelt sich nämlich um keine Diskussion über geeignete policy-Maßnahmen, deren Wirksamkeit leicht überprüft und argumentativ ausgefochten werden kann.

Stattdessen liegt der Quotendiskussion ein Streit um das richtige Menschenbild zugrunde, ein Streit also, den die Menschheit führt seit sie philosophischer Gedanken mächtig ist, der noch nie abschließend geklärt werden konnte und der auch nie abschließend geklärt sein wird. Grundsätzlich gehen Quotengegner von mehreren Prämissen aus:
  • In einer Marktwirtschaft werden (Ausnahmen bestätigen die Regel) die kompetentesten und/oder ehrgeizigsten und/oder durchsetzungsfähigsten AnwärterInnen befördert und erreichen Spitzenpositionen.
  • Unterrepräsentierte Gruppen sind üblicherweise deswegen unterrepräsentiert, weil sie andere Prioritäten haben und deswegen in ihrem Leben andere Entscheidungen trafen, etwa was den Ausbildungsweg oder die Familienplanung angeht. Konkret: Kunstgeschichte studiert statt ein MINT-Fach.
  • Männer und Frauen sind durch ihre biologische Veranlagung mit unterschiedlichen Interessen und Verhaltensmustern ausgestattet; diese bedingen eine statistisch höhere Wahrscheinlichkeit, dass die oben beschrieben Punkte auf Männer zutreffen. Frauen indes sind in anderen Berufen überrepräsentiert, etwa in Pflege oder Erziehung, weil dies ihre natürliche Veranlagung mehr trifft.
Natürlich sind die Positionen in Wahrheit komplexer, aber ich hoffe, halbwegs objektiv einige zentrale Annahmen, wie sie etwa von Stefan Pietsch, R.A. und anderen in den Kommentaren formuliert wurden, halbwegs ordentlich zusammengefasst zu haben. Quotenbefürworter dagegen gehen von anderen Prämissen aus:
  • Machtverhältnisse reproduzieren sich; Männer mit abgeschlossenem BWL-Studium in Spitzenpositionen suchen sich andere Männer mit abgeschlossenem BWL-Studium als ihre Nachfolger und Protegés aus, weil diese ihnen ähnlich sind.
  • Ist eine Gruppe strukturell benachteiligt, wird sie von der Macht ausgeschlossen. Gründe hierfür liegen in der oben beschriebenen Reproduktionstendenz, aber auch in strukturellen Rassismus, Sexismus und Klassismus.
  • Männer und Frauen, Türken und Deutsche, Homosexuelle und Heterosexuelle sind grundsätzlich in ihren geistigen Fähigkeiten und Veranlagungen so ähnlich, dass die sozialen Umstände eine wesentlich größere Rolle in ihren Lebensentscheidungen spielen als die Biologie.
Man sieht auf den ersten Blick, dass sich diese Prämissen ausschließen. Beweisen ließ sich bisher weder die eine noch die andere, und wie beim juristischen Teil oben gilt, dass wir uns zwar die jeweiligen abgedroschenen Argumente an den Kopf werfen können, aber keine Einigkeit erzielen werden.

Warum schreibe ich diesen Artikel überhaupt? Weil dies die Quote zu einer eminent politischen Fragestellung macht. Da es kein objektiv feststellbares "richtig" oder "falsch" gibt, ist die entscheidende Frage, welches der beiden Prämissenbündel sich im politischen Wettstreit durchzusetzen und Mehrheiten hinter sich zu versammeln vermag. Es geht um den uralten Streit zwischen konservativen und progressiven Ideen, und der wird nie abschließend entschieden sein. Ich will daher hier vor allem darlegen, was die eigentliche Argumentation für Quoten ist.

Denn die bescheuertste Argumentation ist sicher anzunehmen, dass man 40% der Aufsichtsräte mit Frauen besetzt und dann magisch die Emanzipation erreicht ist. Das fordert natürlich so niemand, aber es ist ein schöner Strohmann, auf den man als Quotengegner eindreschen kann. Ich möchte daher versuchen, so ehrlich wie möglich zu erläutern, warum ich inzwischen für die Quote bin - und warum ich die Argumente der Gegner für nicht stichhaltig befinde.

Nachdem wir diese ganze theoretische Vorrede aus dem Weg geräumt habe, in medias res.

Ich will jetzt die schlechteste Prämisse angehen, die Quotengegner gerne ins Feld führen (und die sich selbst, wie ich schamhaft eingestehen muss, auch lange Zeit verteidigt habe): Die Idee, dass eine Quote dazu führt, dass das allgemeine Kompetenzniveau sinkt.

Die grundsätzliche Idee ist ungefähr die:  Führt man nun eine Quote ein, führt dies zur Beförderung weniger geeigneter BewerberInnen und damit zu einem Qualitätsverfall der Institution, ob nun Unternehmen, Behörde oder Hochschule.

Auf den ersten Blick klingt dieses Argument sinnvoll. Ist es aber nicht. Den Grund dafür liefert Kristina Lunz in einem Spiegel-Interview:
Wir haben seit Jahrhunderten eine implizite Männerquote. Dabei ist die Fähigkeitsverteilung zwischen Männern und Frauen einfach gleich. Mit einem X-Chromosom oder einem Y-Chromosom kommt nicht mehr oder weniger Intelligenz. Wenn es dann aber eine Überrepräsentierung von Personengruppen gibt, dann bedeutet das, dass diese Gruppe seit Jahrhunderten Privilegien genießt, die ihr in einer gleichberechtigten Welt nicht zustehen. Wir haben also diese fürchterliche Männerquote, die dazu führt, dass es viele unqualifizierte Männer in Führungspositionen gibt. Das ist ein absolutes Drama.
Da die Prämissen sich reproduzierender Machtstrukturen und institutionalisierter -ismen aus meiner Sicht absolut zutreffend sind (sonst würde ich sie ja kaum vertreten), hat Lunz' Framing nicht nur klare analytische Vorteile, sondern auch politische.

Zuerst zum analytischen. Selbstverständlich werden massenhaft inkompetente Männer in Spitzenpositionen befördert. Je nachdem, wie ernst man das Peterchen-Prinzip nimmt, sogar ein sehr großer Teil. Das als eine Art Männerquote zu begreifen hilft, die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Dynamiken zu erkennen und einzubeziehen.

Es hat aber auch den politischen Vorteil, dass es eine leicht greifbare Gegenerzählung zum oben angerissenen Narrativ der Quotengegner bietet. Es ist quasi ein Cousin des Gender-Paygap. Nicht hunderprozentig zutreffend, aber leicht verständlich und die Thematik abdeckend.

Tatsächlich ist so, dass die Quote ein forciertes Abschöpfen eines aktuell völlig brachliegenden Potenzials bedeuten würde, die durchschnittliche Qualität also mitnichten senken, sondern stattdessen erhöhen würde.

Aber, so mag man nun einwenden, woher sollen denn die qualifizierten Frauen kommen (oder andere Personen, die bisher strukturell benachteiligt werden und deswegen unterrepräsentiert sind)? Sie sind ja aktuell in den entsprechenden Bereichen kaum vertreten. Wie soll ich als Führungskraft in einem Bereich, in dem 90% der Beschäftigten männlich sind, 40% Frauen als Führungskräfte herbekommen? Muss ich da nicht zwangsläufig alles nehmen, was zwei X-Chromosomen hat?

Nun, grundsätzlich ist das natürlich nicht falsch. Aber es gehört zum unehrlichen Teil der Debatte um die Frauenquote, diesen Zustand einfach fortzuschreiben. Denn natürlich wäre es eine krasse Klientelpolitik, einfach nur in diesem System quasi alle verfügbaren Frauen zu befördern und so die Quote zu erfüllen. Und es würde definitiv zum Absinken der Qualität führen, schon allein, weil zahlreiche plötzlich abgebrochene Karrierepfade zu massivem Ressentiment und innerer Kündigung mit Dienst nach Vorschrift führen würden, selbst wenn die neuen weiblichen Vorgesetzten alle top wären.

Aber die Idee der Quote ist ja nicht, da stehen zu bleiben. Sie ist ein grobes Instrument, das an einer deutlich sichtbaren Stelle - der Spitze - ansetzt. Aber das eigentliche Ziel ist eine grundlegende Transformation.

Ich habe das lange selbst nicht verstanden und die Idee von 40% der Aufsichtsräte für reine Symbolpolitik gehalten. Auf einer gewissen Ebene ist es das natürlich auch. Das übersieht aber zwei Punkte. Erstens sind die Aufsichtsräte als überbezahlte Kaffeekränzchen ohnehin das falsche Instrument, weswegen das Paritätsgesetz schon eher in die richtige Richtung zielt.

Aber auf der anderen Seite sollte man nie vergessen, welche Wirkung Symbole haben. Politik läuft praktisch ausschließlich über Symbole. Sie haben Macht. Gegnern des Dieselfahrverbots geht es ja nicht in erster Linie um die Rettung einer spezifischen Technologie; der Diesel ist das Symbol für einen Grundsatzstreit in der Verkehrspolitik, dem Kampf um den motorisierten Individualverkehr. Genauso ist die Quote vorrangig ein Symbol für konkrete Emanzipationspolitik; sie kann kein Ersatz derselben sein.

Und das führt zum in meinen Augen wichtigsten Argument für die Quote, dem Argument, das meine eigene Sicht auf die Dinge geändert hat.

Denn die Quotengegner begehen einen fundamentalen Fehler, wenn sie das obige 90%-Beispiel verwenden. Es ist ein Trugschluss, wenngleich ein verständlicher. Unsere Hirne neigen dazu, den Status Quo unendlich in die Zukunft zu projizieren, es ist eine Methode, mit dem unser Bewusstsein den Irrsinn unendlicher Möglichkeiten eindämmt und uns unsere geistige Gesundheit bewahren lässt. Aber die Idee ist ja nicht, dass künftig zu 40% Frauen über eine zu 90% männliche Branche herrschen.

Die Idee ist stattdessen, die Branche insgesamt - und die Gesellschaft im Ganzen - zu transformieren. Im Kleinen wird das ja seit mittlerweile Jahrzehnten mit dem Girl's Day (und glücklicherweise seit etwas kürzerer Zeit auch dem Boy's Day) unternommen.

Denn wenn eine grundlegende Prämisse der Quotengegner richtig ist - und davon bin ich überzeugt - dass nämlich die Marktwirtschaft grundsätzlich funktioniert und dass sich die besten BewerberInnen durchsetzen werden, so wird gerade die unsichtbare Hand des Markts für den Erfolg der staatlich mandatierten Quote sorgen. Das klingt erst einmal widersprüchlich.

Was meine ich damit? Da die oben beschriebene Dynamik offensichtlich ist, muss es im Interesse jedes unter Marktbedingungen operierenden Unternehmens sein, die Rekrutierungsbasis für weibliche Führungskräfte zu vergrößern. Das kann, wie wir festgestellt haben, offensichtlich nicht funktionieren, indem wir quasi per Fallschirm alle verfügbaren Frauen innerhalb der Organisation greifen und möglichst weit nach oben befördern.

Stattdessen kann es nur funktionieren, indem von der Pike an explizite Förderung der bisher benachteiligten Gruppen betrieben wird. Unternehmen sind also gezwungen, Frauen von Beginn an zu umwerben und zu fördern. Das heißt, dass die bisherigen sich permanent reproduzierenden Männerclubs aufgebrochen werden müssen, in denen Männer vor allem deswegen herablassend über freie Entscheidungen von Frauen zu Elternzeit reden können, weil sie patriarchalische Muster in ihren eigenen Beziehungen reproduzieren und die Care-Arbeit auf ihre Partnerinnen abladen, während sie sich beim Geschäftsessen ihrer eigenen chauvinistischen Größe versichern.

Das werden Unternehmen tun, und das wird die Gesellschaft tun, wenn die Rahmenbedingungen dafür stimmen. Dafür muss meine eigene Prämisse stimmen, dass es diese Umstände sind, die den Status Quo prägen. Und ich bin überzeugt davon, dass diese Prämisse korrekt ist.

Das Ironische an der ganzen Debatte ist, dass wir die Quotenlösungen ausgerechnet in den Organisationen hervorragend funktionieren sehen, die eher weniger mit Effizienz und Wettbewerbsgedanken verknüpft sind: staatlichen Institutionen und Behörden. Die haben nämlich schon seit fast zwanzig Jahren entsprechende Programme, und siehe da: Frauen rückten auf, und die Qualität litt nicht. Ganz im Gegenteil.

Also, liebe deutsche Wirtschaft: Wenn die staatliche Bürokratie das kann, dann kriegt die unsichtbare Hand das doch quasi mit links hin, während sie mit rechts die Produktivitätsgewinne in neuen Wohlstand verwandelt. Auf geht's!

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