Cancel Culture beschreibt die Idee, dass es eine zunehmende Strömung auf der Linken gäbe, die nicht genehme Meinungen unterdrücken (canceln) wolle. Dies geschehe vordringlich durch das Entfesseln einer Art Gedankenpolizei, meist durch Online-Mobs, die in höchster Empörung die Einstellung oder Nicht-Veröffentlichung einer bestimmten Meinungsäußerung forderten. Es ist dasselbe Phänomen, das sich in den letzten dreißig Jahren bereits dreimal wiederholte. In den frühen 1990er Jahren machte der Begriff der Political Correctness Furore, wie etwa in dieser Newsweek-Titelgeschichte von 1990: Es finden sich die Klassiker. McCarthy wird intoniert. Eine Gedankenpolizei wird postuliert. Sprechverbote werden befürchtet. Die Furcht vor der Political Correctness und ihrer gar furchtbar die Meinungsfreiheit beschneidenden Wirkung tauchte periodisch wieder auf, ehe sie - mittlerweile wohl nach über 25 Jahren zu ausgelutscht - in den 2010er Jahren im Gewand der Identitätspolitik erneut auftauchte. Dieser Begriff gerann so rasend schnell zur politischen Kampfvokabel, dass bereits 2019 ein neuer aufgemacht wurde: Cancel Culture. Diesem ist, nach allem was man gerade sehen kann, nach nur zwei Jahren dasselbe Schicksal beschieden. Vermutlich ist niemandem aufgefallen, dass ich unterschlagen habe, dass um 2016 herum dieselbe Debatte um Hate Speech geführt wurde, die dann die Meinungsfreiheit eklatant bedrohte (was übrigens in Newsweek ebenfalls prominent besprochen wurde).
Bäumchen wechsel dich (nicht)
Die Begriffe wechseln schneller als die Mode, aber der Inhalt ist immer derselbe: Eine Verschiebung der Grenzen des Sagbaren im Sinne einer liberaleren Gesellschaft wird als Angriff empfunden. Dieser Angriff wird als Verstoß gegen den universalen Wert der Meinungsfreiheit gelesen, als deren aufrechter Verteidiger man sich inszeniert. Aus diesem einfachen Rezept ist ein eigenes Genre entstanden, das in der Publizistik seit mindestens der Political-Correctness-Debatte seinen festen Platz hat.Jonathan Chait etwa, ein Mitte-Links-Autor des New York Magazine, schrieb gegen politische Korrektheit, die von den linken Zirkeln der Universitäten aus die Meinungsfreiheit bedroht, schrieb zehn Jahre später in den gleichen Worten über die gleiche Bedrohung durch die Identitätspolitik, fünf Jahre später über in den gleichen Worten über die gleiche Bedrohung durch die Hate-Speech-Debatte und drei Jahre darauf in den gleichen Worten über die gleiche Bedrohung durch die Cancel Culture.
Wäre Yascha Mounk so alt wie Chait, würden wir sicherlich das gleiche Muster bei ihm finden; stattdessen erwarb er sich seine journalistischen Meriten damit, eine der erfolgreichsten Autorinnen aller Zeiten gegen eine eingebildete Bedrohung durch die Cancel Culture zu verteidigen. Dieses tapfere Eintreten für die bedrohte Minderheit von milliardenschweren Autorinnen brachte ihm eine eigene Kolumne im alt-ehrwürdigen Atlantic-Magazin sowie die Gründung eines eigenen Debattennetzwerks, Persuasion, ein. An all diesen Orten macht er sich Gedanken darüber, wie Twitter-Nutzer mit 100 Followern seine Meinungsfreiheit bedrohen.
In Deutschland wird diese Diskussion von Medien wie der Welt oder FAZ angeführt. Der professionelle rechtskonservative Troll Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt etwa, hat seine Zeitung zu einem führenden Meinungsblatt der Republik ausgebaut, indem er aggressiver als jeder andere auf dieser Klaviatur spielt und mit einem seichten Buch seine intellektuellen Meriten aufpoliert. Aber auch das FAZ Feuilleton vermag, etwa unter Patrick Bahners, auf dieser Klaviatur mitspielen und so seine eigene Reichweite aufpolieren.
Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Ich denke aber, ich habe meinen Punkt hier gemacht. Ich halte das für eine Scheindebatte. Entweder gibt es eine Cancel Culture, Sprechverbote und eine Bedrohung der Meinungsfreiheit. Oder man kann Auflage machen und viel Geld verdienen, indem man sich wortreich über sie beklagt. Beides gleichzeitig ist nicht möglich.
Und wo wir bei Grenzen des Sagbaren sind: die verschieben sich ständig. Was ein SPD-Politiker in den 1950er Jahren zum Thema Frauenrechte sagen konnte, war am rechten Rand der CDU in den 1980er Jahren bereits nicht mehr ohne empörten Widerspruch sagbar. Und was die Grünen in den 1980er Jahren noch frei diskutierten, ist derselben Partei im Jahr 2020 völlig indiskutabel. Wir würden trotzdem nicht annehmen, dass Daniel Cohn-Bendit gecancelt wird oder dem "Tugendterror" der Rechten erliegt, wenn er für seine frühere Haltung zur Pädophilie in die Kritik gerät. Die Gesellschaft als Ganzes hat sich lediglich dazu entschlossen, das als indiskutabel anzusehen.
Eine Frage der Seite
Auffällig ist, dass all diese Begriffe - Political Correctness, Identitätspolitik, Cancel Culture - politische Kampfvokabeln sind, die keinerlei deskriptive Wirkung haben. Sie analysieren nicht eine bestimmte Dynamik, sondern sie belegen den politischen Gegner mit einer negativen Zuschreibung. Das erkennt man problemlos daran, dass dasselbe Phänomen, wenn es von der eigenen Seite kommt, nie mit der jeweiligen Zuschreibung bedacht wird.Man denke etwa an den Artikel "All cops are berufsunfähig" von Hengameh Yaghoobifarah in der taz. Die Polizei sowie weite Teile der Politik und der Publizistik stürzten sich auf Yaghoobifarah, die Autorin musste mit massivem Mobbing in den sozialen Netzwerken, Morddrohungen und negativer Presse leben. Da sie eine freie Autorin ist, darf man getrost annehmen, dass das für ihre Karriere nicht eben förderlich war. Als Problem für die Meinungsfreiheit wurde das nicht diskutiert, als Ausfluss bürgerlicher politischer Korrektheit, einer konservativen Identitätspolitik oder rechter Cancel Culture genauso wenig. Dabei war es ein hervorragendes Beispiel für all diese Vorgänge.
Derweil spricht die BILD - und mit ihr Politiker der CDU - angesichts einer polizeikritischen Satiresendung in der ARD-ZDF-Koproduktion "Aurel" von "gebührenfinanziertem Hass" und fordert die Abschaffung des Rundfunkbeitrags und damit das de-funding der Öffentlich-Rechtlichen. Eine Cancel Culture will darin freilich niemand erkennen.
Ein weiteres Beispiel: Das satirische Lied von der "Umweltsau" löste Morddrohungen aus, ohne dass es eine große Debatte über Identitätspolitik gegeben hätte. Von Armin Laschet zu Carsten Linnemann zeigten sich CDU-Politiker empört; Political Correctness indes wollte hinter dieser Empörung niemand vermuten, ebenso wenig eine Empörungskultur. Dass der WDR das Video sofort von seiner Homepage löschte, führte zu keiner Debatte über eine Cancel Culture.
Das heißt nun nicht, dass Cancel Culture ein spezifisch rechtes Phänomen wäre. Mit Sicherheit nicht. Mein Argument ist viel mehr dasselbe, das ich bereits im Fall der Identitätspolitik gemacht habe: das Phänomen ist so alt wie die Menschheit, und es ist politisch farbenblind. Leute empören sich über Meinungen, die sie für verurteilenswert halten. Sonst würden sie sie ja auch nicht verurteilen. Während ich es indiskutabel finde, öffentlich racial profiling als legitime Polizeitaktik zu verteidigen, empfinden eher konservativ geprägte Menschen es als furchtbar, der Polizei strukturellen Rassismus zu unterstellen.
Jenseits der Publizistik
Das heißt auch nicht, dass dieses Phänomen harmlos wäre. Ich habe in diesem Blog bereits vor fünf Jahren explizit kritisiert, das Arbeitsrecht als politische Hexenjagd zu missbrauchen. Es ist gefährlich, wenn vergleichsweise harmlose Äußerungen dazu führen, dass die eigene wirtschaftliche Basis gefährdet ist. Schon alleine, weil wirtschaftliches Handeln - sprich, mein täglicher Broterwerb - und politische Meinungen üblicherweise wenig miteinander zu tun haben. Das ist in manchen Branchen natürlich anders; die Politik selbst, der Journalismus und auch meine eigene Profession gehören sicher zu den Berufen, in denen andere, sensiblere Maßstäbe gelten.Aber nichts desto trotz ist es problematisch, wenn unreflektierte Herdenmentalitäten zu massivem sozialen Druck gegen Einzelpersonen führen, wenn Existenzen gefährdet sind, weil jemandem eine Meinung nicht passt oder weil sich jemand im Ton vergriffen hat. Besonders hier gilt, was ich ebenfalls bereits im Blog thematisiert habe: der Wert der Entschuldigung wird viel zu gering geschätzt.
Insgesamt aber zeigt sich am Verlauf der vergangenen Debatten um Political Correctness und Identitätspolitik, dass wenig gesamtgesellschaftlich so heiß gegessen wird, wie es medial gekocht wird. Einerseits handelt es sich bei diesen Debatten sowieso um Elitendebatten, die bei der Mehrheit der Menschen kaum ankommt; anders ist kaum zu erklären, dass das Nicht-Thema der Zigeunersoße so zuverlässig jedes Mal aufs Neue einen eintätigen Shitstorm entfachen kann. Andererseits ist die Zahl der tatsächlich Betroffenen winzig. Jeder auf diese Art aus dem Beruf gecancelte ist eine Person zu viel, gewiss, aber das Massenphänomen, als das es in den hysterischen Debatten immer dargestellt wird, ist es nicht. Und drittens handelt es sich, einmal mehr, um kein linkes oder rechtes Phänomen, sondern schlicht um ein menschliches.
Es ist deswegen weiterhin wichtig, dass - wie bereits hier im Blog thematisiert - die "ideologischen Nachbarn" die Augen offen halten. Protest gegen Cancel Culture muss von Konservativen kommen, wenn die nächste Umweltsau durch's Dorf getrieben wird, und sie muss von Linken kommen, wenn jemand versehentlich eine unglückliche Formulierung bezüglich Frauen oder ethnischer Minderheiten benutzt hat. Alles andere ist reine Parteipolitik, performative Kommunikation, die nur der eigenen Identitätsfeststellung dient und nichts mit Meinungsfreiheit zu tun hat.
Gleichzeitig sind alle Seiten dazu aufgerufen zu versuchen zu verstehen, woran sich ihr Gegenüber jeweils reibt. Ich muss versuchen zu verstehen, warum meine progressiven Ansichten einem Konservativen sauer aufstoßen, während der seinerseits zu verstehen versuchen sollte, worum es überhaupt geht (an dieser Stelle sei lobend Rüdiger Bachmann erwähnt, der sich indessen an einer bürgerlichen Lesart der Identitätspolitik versucht). Zuspitzungen von "Alles Rassisten!" oder "Alles linker Mob!" sind zwar schöne Gruppenbildungsmaßnahmen, tragen aber wenig zum allgemeinen Verständnis bei. Und darum geht es uns allen ja, zumindest ostentativ.
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