Sonntag, 30. August 2020

Eine überbewertete Demo

Am gestrigen Samstag demonstrierten rund 30.000 Menschen in Berlin gegen eine Reihe verschiedener echter oder eingebildeter Zustände. Die Demo hatte bereits im Vorfeld für reichlich Wirbel gesorgt; die Stadt Berlin hatte sie in einer fragwürdigen Entscheidung mit einer noch viel fragwürdigeren Begründung zu verbieten versucht. Wenig überraschend hob das Gericht diese Entscheidung wieder auf und erlaubte die Demonstration - unter Auflagen, wie die Einhaltung von Sicherheitsabständen und das Tragen von Masken. Dass eine Demonstration gegen das Einhalten von Sicherheitsabständen und das Tragen von Masken den Sicherheitsabstand nicht einhalten und die Maske nicht tragen würde, dürfte ebenso wenig überraschend gewesen sein. Folgerichtig löste die Polizei die Veranstaltung auf, worauf die Demonstration, begleitet von sporadischen Festnahmen, noch einige Stunden weiterging, ehe sie ihren Höhepunkt in dem "Sturm" einiger DemonstrantInnen auf den Reichstag fand, wo sie von drei Polizisten abgehalten wurden das Gebäude zu betreten, bis Verstärkung eintraf und dem Spuk ein Ende bereitet. Diese Ereignisse halten Bundesdeutschland mittlerweile seit drei Tagen in Atem.

Die eigentliche Demo

Die harsche Kritik am Handling der Demo durch die rot-rot-grüne Stadtregierung ist mittlerweile von einer nicht minder harschen Kritik an der Polizeileitung abgelöst worden, nicht zuletzt von derselben rot-rot-grünen Stadtregierung, die zu gerne den Eindruck zu erwecken versucht, die Verantwortungskette ende nicht beim Berliner Innensenator. Diese langweilig-berechenbaren politischen Manöver sind repräsentativ für die ganze Demo, die in einer Art diskutiert wurde, als ob Wohl und Wehe der Republik sich daran entscheiden würde.

Auf der einen Seite das eher rechte Spektrum der Republik, das sämtliche Aussagen zur unglaublichen Gefahr von Demonstrationen und der Notwendigkeit zum harten Durchgreifen (Wasserwerfer!), die noch jede Demo des Schwarzen Blocks oder Antifa begleiteten, über Bord warf und stattdessen forderte, die Anliegen Ernst zu nehmen und mit den Leuten zu reden. Dazu wurde händeringend die Gefahr für den Rechtsstaat und die Demokratie betont, die einem Demoverbot oder auch nur einem abfälligen Wort auf den Fuß folge.

Auf der anderen Seite das eher linke Spektrum der Republik, das sich über Nacht zu Fans von Demoverboten und hartem Polizeidurchgreifen entwickelte und die heldenhafte Polizei lobte, die unter keinen Umständen Fehler machte, wenn sie willkürlich DemonstrantInnen verhaftete oder Attila Hildemann in einen schmerzhaften Schwitzkasten nahm.

Ich halte beides, falls das nicht hinreichend durch die Artikelüberschrift angedeutet wurde, für übertrieben und die Demo selbst völlig überbewertet. Wenn nach maximaler Öffentlichkeitsaufmerksamkeit und der Schützenhilfe noch wirklich jeder Zeitung und Nachrichtensendung nur 30.000 Verwirrte ihren Weg nach Berlin finden - dann spricht das sehr für den Geisteszustand der Republik. Wenig überraschend ist die Unterstützung für ein härteres Durchgreifen bei Verstößen gegen die Pandemie-Schutzmaßnahmen über alle Parteigrenzen hinweg extrem hoch - mit der bemerkenswerten, aber wenig überraschenden Ausnahme der AfD.

  Bedenkt man zusätzlich, dass diese Demo die wohl merkwürdigste Allianz an DemonstrantInnen seit 1925 hervorrief - Rastafari-Locken in Birkenstocksandalen und Batikhemden, Regenbogenflaggen schwenkend und Kumba-Ya singend Arm in Arm mit beglatzten Neonazis in Springerstiefeln, die die alte Reichsflagge schwenkten und "Deutschland, Deutschland über alles grölten" und neben sich Impfungsverweigerer aus dem Milieu von Prenzlauer Berg - vor einem Jahr hätte man dieses Bild noch als völlig wirr verworfen. Obwohl diese Allianz also maximal breit aufgestellt war, schafften sie nur 30.000 Menschen auf die Straße. Da schafft die Antifa allein in Hamburg jedes Jahr zum 1. Mai zuverlässig mehr, und da geht mehr zu Bruch, ohne dass die Demokratie gefährdet wäre.

Ich empfinde auch die Interpretation dieses "Sturms auf den Reichstag" als eine Art Fanal, ein Schritt vor aktiver Gewalt, als übertrieben. Ich verstehe auch, dass die Polizei da nicht mehr Leute stationiert hat. Obwohl dieser "Sturm" zwar vorher angekündigt war, handelte es sich doch nur um Rhetorik. Man sollte diesen Leuten nicht den Gefallen tun, sie als eine Bürgerkriegspartei zu begreifen und entsprechende Gegenmaßnahmen zu treffen; ein ostentatives Zurückhalten der Polizei ist da deutlich zu begrüßen (wenngleich dies offenkundig auch auf die Einstellung der Polizei zurückzuführen ist, dazu später mehr).

Ich erinnere mich selbst an eine Demonstration im Herbst 2005 gegen Studiengebühren in Stuttgart (eine von zwei Demos, auf denen ich je war). Auch damals gab es um den Landtag natürlich eine Bannmeile. Ordnende und Teilnehmende waren informiert, es gab Handouts, auf denen sie eingezeichnet war. Ich war damals Teil einer kleinen Gruppe, die auf die brillante Idee kam, die Bannmeile zu stürmen. Es schien in der emotionalen Situation eine gute Idee zu sein, und so rannten wir laut brüllend im Pulk auf den Landtag zu und erfreuten uns des Anblicks einiger Anzugträger, die in das Gebäude hinein rannten. Den Eliten hatten wir es gezeigt!

Polizei war keine zu sehen, schließlich war das Betreten der Bannmeile verboten und es hatte keinerlei Anzeichen gegeben, dass jemand dort hin wollen könnte. Die mutigsten Demonstranten damals klopften gegen die Scheiben der Landtagscafeteria. Das Gebäude betrat niemand, obwohl nur eine einzelne, wenig beneidenswerte Gebäude-Security im Weg stand. Die meisten hielten zehn, zwanzig Meter Abstand (ich auch, mein revolutionärer Eifer war schon damals wenig ausgeprägt). Kurz darauf traf Polizei ein, bildete einen Cordon, etablierte eine Zone von vielleicht dreißig Metern um den Landtag, und dann starrten sich Demonstrierende und Polizei für drei Stunden an, ehe die Novemberkälte ihr Übriges tat, um die Demo aufzulösen.

Mein Punkt ist: Eine Demo ist eine ziemlich aufgeputschte, emotionale Situation, in der Leute schnell dumme Dinge tun. Meine Wette wäre, dass die Demonstranten, wenn sie dann erfolgreich den Reichstag "gestürmt" hätten, nicht die geringste Ahnung gehabt hätten, was sie, in der Lobby stehend, tun sollten. Wie Hunde, die kläffend einem Auto nachrennen, hatten sie wohl keinen blassen Schimmer was sie tun sollten, wenn sie es tatsächlich einfingen. Dass die Polizei davon überrascht war, verstehe ich und halte ich auch für keinen riesigen Planungsfehler, für den nun Köpfe rollen sollten - auch wenn genau das die Forderung ist.

Die Teilnehmer

Auch wenn ich mich despektierlich über den Umfang und die Zusammensetzung der Demo geäußert habe, ist es doch Anlass zur Sorge, dass sich eine solche Querfront bildet. Nicht zu Unrecht wurde darauf hingewiesen, dass in den 1920er Jahren auch zahlreiche esoterische Gruppen gemeinsame Sache mit Rechtsextremisten machten (während die stalinistische Linke merkwürdigerweise keinen Anschluss an diese vielen Spinnerbestrebungen fand). Auch wenn die Zahlen, wie Mitte der 1920er Jahre auch, aktuell noch völlig irrelevant sind, ist es ein Phänomen, das man im Blick behalten sollte. Vor allem dann, wenn man eine Behörde mit dem einzigen Zweck ist, so etwas im Blick zu halten. Wie immer hat der Verfassungsschutz hier auf ganzer Linie versagt und war sowohl von den Bündnissen als auch der Kompatibilität der Ziele völlig überrascht.

Wofür ich weder Verständnis noch Geduld habe ist dagegen die übliche Verteidigung der nicht rechtsextremen Demonstrierenden, von wegen man sei ja selbst nichts rechts und habe mit den ganzen Neo-Nazis nichts zu schaffen:
[Der Sprecher] hebt den Zeigefinger: "Der Spruch ist wahr: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!" In der Welt, auch in Afrika, habe man so viel Gutes getan. "Infrastruktur, Bildung, Wohlstand, was auch immer", sagt er über die Kolonialzeit. Über den Völkermord an den Herero oder den an den Nama sagt er nichts. In der Kolonialzeit hätte Afrika geblüht - und es hätten "keine Massen hierherfliehen" müssen. Da klatschen viele, mehrere brüllen "Jawoll!". Eine Frau sitzt währenddessen nicht weit von ihm auf einer Absperrung. Sie ist mit Bollerwagen gekommen, darin sind Wasserflaschen und Schilder, auf denen es ums Impfen geht. Sie dreht sich zu einem Paar, das neben ihr steht: "Das ist mir alles ein bisschen zu viel Deutschland". Dafür sei sie ja nicht hergekommen. Doch sie bleibt sitzen - und klatscht am Ende auch wieder mit. [...] Man kann die organisierte radikale Rechte hier nicht übersehen. Man würde der Wirklichkeit zwar nicht gerecht, beschriebe man diese Veranstaltung als durch und durch rechtsextrem. Man würde der Wirklichkeit aber auch nicht gerecht, beschriebe man nicht, dass die Massen durchsetzt waren mit Menschen, die mit ihren Flaggen, T-Shirts und Tattoos offensichtlich als Rechtsextreme zu erkennen waren. Auf die Frage, ob er nicht glaube, dass hier viele seien, die es mit der Freiheit nicht so haben, antwortet ein Mann, doch, da wollten sicher einige nur Freiheit für ihre eigene Gruppe. Es scheint ihn nicht sonderlich umzutreiben, er muss jetzt auch weiter, dem Demonstrationszug folgen. Man könnte die Haltung so zusammenfassen: Ach so, ja, Nazis sind auch da. (SpiegelOnline)
Wer mit solchen Mengen von Rechtsextremisten marschiert, und das mit Ansage vorher, der nimmt das hin. Das macht die anderen Demonstrierenden nicht zu Rechtsextremisten. Es macht sie aber zu Menschen, die überhaupt kein Problem damit haben, gemeinsame Sache mit Rechtsextremisten zu machen. Es mag für die Selbstwahrnehmung dieser Leute ein relevanter Unterschied sein. In der Praxis ist es das nicht. Ich kann auch nicht am 1. Mai neben dem Schwarzen Block demonstrieren, den Aufrufen zur Gewalt gegen Polizisten zuklatschen und dann mit geworfenen Pflastersteinen nichts zu tun haben wollen.

Man kann sich auch über die Absurdität von Flaggen Russlands, Schwedens, der Gay-Pride-Bewegung, der USA und des deutschen Reichs nebeneinander lustig machen. Irgendwelche logische Verbindungen gibt es dazwischen nicht, vielmehr schließen sie sich gegenseitig aus. Aber dasselbe gilt für die Paradoxie des Redens von "Liebe" und "Widerstand" im selben Atemzug. Sascha Lobo hat in seinem Podcast letzthin den absurden Leserkommentar zu einem seiner Artikel zitiert, wo jemand ihm für die Zeit nach der Machtübernahme androhte, er und "die anderen" (also JournalistInnen, PolitikerInnen und Menschen wie die LeserInnen dieses Blogs) würden dann "ihre gerechte Strafe" erhalten und gleichzeitig behauptete, er würde "auch für Ihre Meinungsfreiheit" demonstrieren. Sinn macht das nicht, es ist ein Konglomerat an Schlagworten, die man zur identitären Selbstvergewisserung aneinanderreiht.

Die Reaktionen

So sehr ich die grundsätzlich zurückhaltende Reaktion der Polizei gegenüber der Demo auch begrüße, so wenig kann ich einige Analysen pauschal ablehnen, die weniger positiv für die Ordnungskräfte sind. Ein Grundtenor, den ich in meiner natürlich eher linken Twitterblase wahr genommen habe, ist der Vorwurf, dass diese Zurückhaltung auch damit zu tun habe, dass man sich dem Publikum dieser Demo etwas näher fühlt als, sagen wir, der typischen Antifa-Demo. Auch hier kann ich ein gewisses Grundverständnis nicht in Abrede stellen; die radikale Linke schließlich macht aus ihrer Polizeifeindlichkeit ("All Cops Are Bastards") ja nicht gerade einen Hehl. Die Abneigung basiert durchaus auf Gegenseitigkeit. Wenig überraschend wenn man bedenkt, dass die Polizei schon in der Ausbildung auf das Feindbild links getrimmt wird. Dies entschuldigt aber nicht die viel zu große Nähe zum rechtsradikalen Rand bei vielen Ordnungshütern, ob nun in Polizei oder im Geheimdienst. Das ist das eine. Überraschend ist auf der anderen Seite, dass seitens diverser hochrangiger Polizeibeamter auch eine große Sympathie zu den Corona-Leugnern besteht:
Ich habe keine Ahnung, wo dieser Überlapp herkommt und wie repräsentativ das ist; ich würde annehmen, dass es eher die Ausnahme ist. Aber auch hier wäre es sicherlich gut, ein Auge drauf zu haben.

Ein anderer Bereich, der eine nähere Beschäftigung erfordert, ist der mediale. Meine Einschätzung, dass die Demo völlig überbewertet ist, erfordert ein Subjekt, das die Überbewertung vornimmt. Und hier haben wir wieder einmal die Dauerdebatte seit Pegida: Begegnet man randständigen radikalen Gruppen am besten durch ausführliche, kritische Berichterstattung; durch den Versuch, die Anliegen der Mitläufer und wenig radikalen peripheren Mitläufer ernst zu nehmen und sie vom radikalen Kern zu isolieren; oder soll man sie ignorieren? Abseits dieser drei Ansätze habe ich (aus dem demokratischen Spektrum) bisher nichts gesehen. Ich bin offensichtlich ein großer Verfechter des dritten Ansatzes, aber die Logik der anderen Ansätze ist jetzt nicht unbedingt objektiv falsch. Letztlich ist alles eine Wette darauf, nach welcher grundsätzlichen Mechanik das alles abläuft. Meine ist bekanntlich die, dass die Aufmerksamkeit ein Netto-Gewinn für Radikale und Extremisten ist, den man ihnen vorenthalten sollte, und dass die Mitläufer wegen dieser Aufmerksamkeit mobilisiert werden.
Denn grundsätzlich ist es natürlich richtig, dass die Demonstrierenden eine winzige Minderheit sind. Das habe ich ja eingangs bereits festgestellt. Aber JEDE Demonstration ist eine Minderheit, aus physikalischen Gründen allein. Und die einzige Wirkung von Demonstrationen ist ja, dass über sie berichtet wird, damit sie politischen Druck aufbauen. Demos, die nur von denen wahrgenommen werden, die sie aktiv beobachten, sind nutzlos. Und ja, mir ist bewusst, dass das ein Widerspruch zu meiner vorherigen Position ist. Komplett ignorieren ist daher schon alleine aus demokratietheoretischer Sicht nicht möglich. Aber:
Zumindest sollte hoffentlich Einigkeit herzustellen sein, dass die Medien es unterlassen sollten, eine falsche Neutralität zu wahren. Nicht jedes Thema ist auf zwei gleichwertige Pro-Contra-Standpunkte einzudampfen, zwischen denen man sich bequem in der Mitte positionieren und dann intellektuell überlegen fühlen kann. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie erfordern, dass die Grundrechte auch kompletter Idioten, die für ihr Recht auf die Gefährdung ihrer Mitmenschen und das Verbreiten abstruser Theorien, eingehalten und geschützt werden. Das heißt aber nicht, dass man sie dafür verhätscheln oder gar respektieren müsste. Das Grundgesetz schützt das Recht dieser Leute, sich öffentlich zum Affen zu machen; da ist es nur recht und billig, sie entsprechend zu behalten. Meinungsfreiheit schützt nicht vor der Reaktion derer, an die diese Meinung herangetragen wird. Sie SZ hat diese Gedanken ganz gut zusammengefasst.

Fazit

Um einige Grundgedanken zu wiederholen:
  • Die Demo wird in ihren Auswirkungen und ihrer Signalwirkung überhöht.
  • Die Polizei hat einen normalen Job gemacht, ohne dass hier besonders kritisiert oder gelobt werden müsste.
  • Die Demo zeigt aber auch Schwächen in der öffentlichen Debatte.

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