Die USA sind eine besondere Nation, die aus dem restlichen westlichen Kulturkreis herausragt. Das war den Amerikanern selbst von Anfang an bewusst. Diese Besonderheit konnte verschiedene Formen annehmen. Es gab die Vorstellung, dass man ein leuchtendes Vorbild sei, dem der Rest der Welt folgen würde - "a shining city upon a hill", in der von Bibelreferenzen getränkten Sprache dieser Tage. Es gab auch die Idee, dass man etwas Besonderes war, gerade weil man sich vom "Old Europe" distanziert habe, und dass diese Trennung aufrechtzuerhalten sei. Allen gemein ist, dass man sie unter dem Banner des "American Exceptionalism" fassen kann, der Idee, die USA seien ein einzigartiges Land. Dieser These werden wohl nicht einmal die eingefleischtesten Amerika-Hasser widersprechen. Abgesehen von den intellektuell meist oberflächlichen Gedankenspielereien, die damit einhergehen, hatte die Idee jedoch stets auch politische Implikationen - und das können wir gerade wieder gut beobachten.
Unterschiedliche Parteien und Strömungen haben zu unterschiedlichen Zeiten den Exzeptionalismus für sich in Anspruch genommen. Im 19. Jahrhundert half er etwa, die Sklaverei zu legitimieren, indem der Süden der USA als ein besonders Land dargestellt wurde, in dem andere (bessere) Regeln galten als im heidnischen Norden oder dem Rest der Welt. Die Westexpansion über die Frontier wurde genauso mit dem Exzeptionalismus begründet; der Fortschritt treibe die USA in einer zivilisatorischen Mission voran, das Land zu erschließen.
[caption id="" align="aligncenter" width="580"] Der Fortschritt, als weiße Frau allegorisiert, führt die Pioniere mit dem Licht gegen die dunklen Wilden an[/caption]Die koloniale Expansion der USA ab den 1890er Jahren, die innerhalb kürzester Zeit zur Eroberung Kubas und Puerto Ricos, Hawaiis und diverser Atolle im Pazifik sowie der Philippinen führte, wurde mit ähnlich luftiger Rhetorik begründet, während "on the ground" die Gewalt regierte und etwa über mehr als ein Jahrzehnt genozidale Gewalt gegen die Filippinos ausgeübt wurde. Im Kalten Krieg kam kaum eine der zahllosen Interventionen ohne Rückbesinnung auf den Exzeptionalismus aus, und zuletzt rechtfertigte George W. Bush die Invasion des Iraks mit der zivilisatorischen Mission der USA. In der Außenpolitik ist das Leitmotiv seither etwas aus der Mode gekommen.
Nicht jedoch in der Innenpolitik. Nicht nur diente der Exzeptionalismus stets dazu, außenpolitische Abenteuer und Landnahmen zu rechtfertigen; stets war die Idee vom wahren Kern Amerikas auch ein Mittel im innenpolitischen Konflikt. Ich erwähnte bereits die Sklavenhalter, die sich als die wahren Erben der Gründervater des Landes sahen (nicht zu Unrecht, bedenkt man die hervorgehobene Rolle der Sklaverei bei der Gründung des Landes). Stets wurde der politische Gegner verdächtigt, kein "echter" Amerikaner zu sein, die Werte der USA aus dem einen oder anderen Grund zu verraten oder nicht zu repräsentieren.
Wir sehen dieses Muster in der Verfolgung der Linken durch die gesamte amerikanische Geschichte, von den Kämpfen gegen Big Business in der Gilded Age über die Anarchisten und Proto-Kommunisten der 1910er und 1920er Jahre zu den Repressionswellen der McCarthy-Ära. Abolitionisten wurden mit dem Vorwurf genauso bedacht wie Quäker, Amish People und Pazifisten. Glücklicherweise wirkte der Mythos des Exzeptionalismus auch in die Extreme; Nationalsozialisten und Kommunisten bekamen in "God's Own Country" nie einen Fuß auf den Boden.
Besonders virulent aber war die Abgrenzung gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten. Weder Afroamerikaner noch chinesische Einwanderer, weder Katholiken noch Italiener, weder Iren noch Muslime wurden vom harten Kern der Verfechter des Exzeptionalismus je als zugehörig akzeptiert. Aus heutiger Perspektive mögen die rassistischen Tiraden gegen Iren aus dem 19. Jahrhundert unverständlich wirken, die virulente Ablehnung eines katholischen Präsidentschaftskandidaten geradezu albern. Aber das gilt für kommende Generationen (hoffentlich) auch für die heute weit verbreitete Bigotterie gegenüber Muslimen.
Ich erzähle diese lange Geschichte des amerikanischen Exzeptionalismus aber nicht einfach nur um ihrer selbst Willen, obwohl sie natürlich spannend und erhellend ist. Viel mehr hilft sie uns zu verstehen, welche Legitimationsmuster die Republicans heute für sich in Anspruch nehmen, die aktuell die Partei sind, die sich in die Tradition des Exzeptionalismus stellen (das muss nicht so bleiben).
Das ungemein effektive politische Narrativ der Republicans ist es, ihre eigene Wählerschaft als "echte Amerikaner" darzustellen, während die Wählerschaft der Democrats dies nicht ist - ein Narrativ, das von der breiten Mehrheit der öffentlichen Intellektuellen wie der Medien vor allem 2015/16 hook, line and sinker geschluckt wurde. Diese Idee ist eine Spielart des Narrativs, das ich in jedem Land findet - dass PolitikerIn A eine viel stärkere Verbundenheit mit DurchschnittswählerInnen hätte als PolitikerIn B. Im Biertest - die Frage, mit welcheR KandidatIn man am liebsten ein Bier trinken würde - ist der sowohl bekannteste als auch abgeschmackteste Indikator dieser Frage.
Aber ob nun Gerhard Schröder oder Angela Merkel Volkes Stimme besser vertreten (das letzte Mal, dass diese Frage in Deutschland ernsthaft einen Wahlkampf dominierte) ist das eine; niemand in einer demokratischen Partei würde hierzulande auf die Idee kommen, öffentlich "echte Deutsche" zu definieren. In den USA spielt diese Frage schon deswegen eine andere Rolle, weil es schwierig ist, "amerikanisch" ethnisch zu definieren. Wie wir sehen werden, gelang dies zwar trotzdem. Aber anders als die Deutschtümelei müssen Blut-und-Boden-Ideologien in den USA anders verpackt werden, um zu funktionieren.
Die zugrundeliegende Spaltung in den USA verläuft vor allem zwischen zwei geographischen Trennlinien: Den Küstenregionen und dem Landesinneren einerseits und den eher städtischen gegenüber den eher ländlichen Regionen andererseits. Als "echte Amerikaner" gelten im aktuellen Narrativ die weitgehend dünn besiedelten Staaten des Mittleren Westens. Die Südstaaten nehmen hier eine Sonderrolle ein; sie gehören zwar ebenfalls zur republikanischen WählerInnenkoalition, haben aber ihre eigene Identität, die sich nicht für das Feiern auf nationaler Ebene eignet (sehr wohl aber zum Gewinnen von Wahlen in selbigen Staaten).
Die "echten Amerikaner" sind Individualisten. Sie besitzen Land, zumindest genug, dass ein Haus darauf stehen kann, im Idealfall aber eine Farm (auf der sie dann in kariertem Hemd, Lederstiefeln und breitem Hut fotografiert werden). Sie sind weiß und heterosexuell. Sie sind nicht formal gebildet. Sie besitzen Waffen. Sie glauben an traditionelle Rollenbilder. Sie sind Patrioten. Einen starken Staat wollen sie bei Polizei und Militär, sonst aber nirgendwo.
Dieses Selbstbild fällt natürlich nicht nur zufällig mit der Selbstdarstellung der republikanischen Partei zusammen. Sie haben es über Jahrzehnte in mühevoller Kleinarbeit gepflegt und mit sich in Verbindung gebracht. Aber irgendwo auf diesem Weg wandelte sich diese Sicht von einer politischen Erzählung, mittels derer man eine gemeinsame Identität und einen gemeinsamen Bezugs- und Fluchtpunkt schuf zu einer Ideologie, von deren Wahrheitsgehalt man überzeugt war. Anstatt ein anzustrebendes, aber nie zu erreichendes Ideal darzustellen, wandelte es sich in Seiten eines kalten Bürgerkriegs.
In diesem Moment verliert die Gegenseite jegliche Legitimation. Das hat ernsthafte Konsequenzen. Die erste davon ist, dass das demokratische Mehrheitsprinzip zur Bedrohung wird. Die Republicans sind eine Minderheitenpartei; ihre Version des "wahren Amerika" schließt deutlich mehr als 50% der Bevölkerung aus. Das allein sollte Alarmglocken schrillen lassen. In der sicheren Erkenntnis, in Mehrheitsentscheidungen zu unterliegen, haben die Republicans ihren Tonfall geändert. Stellvertretend können wir hier Senator Mike Lee nehmen:
Democracy isn’t the objective; liberty, peace, and prospefity are. We want the human condition to flourish. Rank democracy can thwart that.
— Mike Lee (@SenMikeLee) October 8, 2020
Gesprochen wie ein KPCH-Funktionär. Wie der Historiker Mike Duncan ausführt, herrscht nun die Idee vor, dass die republikanische Partei den wahren Volkswillen repräsentiere und daher über den Regelungen des Mehrheitswahlrechts stehe. Wie immer, wenn solche Konzepte bemüht werden, schließen die Konzeptionen von "Volk" viele Gruppen aus. So ist es kaum überraschend, dass Kamala Harris aktuell in republikanischen Kreisen sowohl für ihr Geschlecht als auch für ihre Ethnie attackiert wird. Bis heute akzeptieren die meisten Republicans, bis hinauf zu Trump, die Legitimität der Obama-Regierung nicht.
Argumentiert wird hierbei gerne mit der Verfassung, und was diese erlaube oder nicht erlaube. Es ist wichtig, dabei festzuhalten, dass "verfassungsgemäß" und "demokratisch" nicht zwingend übereinstimmen müssen:
The argument, in other words, is over the nature of American democracy. Is it expressed solely in the Constitution, so that a constitutional action is inherently democratic? Or is the Constitution only a tool for realizing the principles of American democracy as they develop over time? If it’s the second, then an action can be both constitutional and undemocratic, which ought to take it off the table as a legitimate move in political combat. [...] Constitutional government depends on good faith adherence to the spirit as well as the letter of the law. Discard the former, and there’s nothing in the latter to keep a democracy (or if you prefer, a republic) from falling into unenlightened despotism.
So schreibt Jamelle Bouie in einem klugen Artikel für die New York Times. Es ist auch nicht das erste Mal in der US-Geschichte, dass die Verteidiger der constitution as written die Gegner der Demokratie sind:
There may have been a settlement that would allow Missouri into the United States. But there was nothing to resolve these irreconcilable views of the Union itself. Where slavery was concerned, Van Cleve writes, there was no “rule of law” — no agreed upon foundation for adjudicating conflicts. One side believed the United States was a moral union, the other believed it was a compact of states founded on popular will. Between the two, there was “no basis for agreement on what constituted legitimate political sovereignty in the Union.” There is no one-to-one comparison from the past to current events; there never is. But drawing on the Missouri controversy, I do have an observation to make about our present situation. Once again, under the guise of ordinary political conflict, Americans are fighting a meta-legal battle over the meaning of both the Union and the Constitution.
Sobald das "gesunde Volksempfinden" regiert, können Mehrheitsentscheidungen nicht mehr relevant sein, weil einzig und allein das Gefühl dessen beherrschend ist, was die "echten Amerikaner" wünschen. Dafür braucht es aber, wie in jeder Ideologie oder Religion, Übersetzer und Interpreten. In diesem Fall ist es die republikanische Partei und der dahinterstehende Propagandaapparat von FOX News und Konsorten, die diese Entscheidung treffen.
Sie sind damit ungeheuer wirkmächtig. Die Narrative sind eingängig und tief im amerikanischen Selbstbewusstsein, in den Traditionen der Nation und ihrer langen Geschichte verwurzelt. Noch immer haben die Progressiven keine echte Antwort darauf, kein Gegenkonzept für den "echten Amerikaner" - ein Dilemma, das wir hier in Deutschland auch haben, wo den reaktionären Deutschland-Ideen der AfD keine allseits anerkannte Erzählung gegenübersteht, was es eigentlich heißt, Deutsch zu sein - oder europäisch. Hier im Blog wurde diese Frage schon öfter verhandelt, etwa hier, hier und hier.
Es ist aber bereits hilfreich zu erkennen, dass es sich um ein politisches Narrativ handelt und welche fundamental undemokratischen Vorstellungen sich damit verbinden. Welche Gruppen ausgeschlossen werden und aggressiv auf Abgrenzung bedacht das Ganze ist. Das würde zumindest für eine Immunisierung sorgen. Ob auf dieser oder jener Seite des Atlantiks.
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