Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) The Reckless Race to Confirm Amy Coney Barrett Justifies Court Packing
Ich halte die Argumentation, dass das court packing die Legitimität wiederherstellen würde, für völlig abwegig. Selbstverständlich wird es die Legitimität des Gerichts neutrale, über der Politik stehende Instanz noch wesentlich weiter beschädigen. Nur, dass ist unumgänglich. Denn der ganze Artikel basiert auf der absoluten Bullshit-These, der SCOTUS sein kein politischer Körper. Das ist aber reine Politfolklore, und mir ist echt unklar, warum das immer noch so weit verbreitet geglaubt wird.
SCOTUS ist ein politischer Körper, schon seit über 150 Jahren. Plessy v Ferguson war jetzt nicht unbedingt etwas, das sich aus einer objektiven Textanalyse ableiten würde. Die Democrats haben immer noch Phantom-Schmerzen vom Warren-Gerichtshof, aber es ist Zeit, die endlich abzuwerfen. Das Ding wurde schon längst von republikanischen Hardlinern gekapert. Die haben ihre Macht ausgenutzt, um ihn unter Kontrolle zu bekommen. Es gibt keinen Grund, nicht dasselbe zu tun.
2) Tweet
Wohl der peinlichste Text des eh schon peinlichen PiS-Propagandisten Michal Karnowski, den ich bisher las. „Die Deutschen stellten sich unter die regenbogenfarbene Standarte, da sie ein halb islamisches Land sein wollen.“ Und da #Polen sich wehrt, soll es „ausgehungert“ werden. https://t.co/ZZJ0VXOUS9
— Thomas Dudek (@thomas_dudek) October 4, 2020
Ich finde es immer wieder beeindruckend, für wie unglaublich dumm die Rechtspopulisten ihre eigenen Wähler halten. Die werfen einfach nur irgendwelche Schlagworte aneinander, in einer Reihenfolge, die in etwa der Syntax ihrer Sprache entspricht. Und dann tun alle so, als wäre das ein Satz mit Inhalt. Dabei ist es nur ein Signal. Ich würde ja das englische Unwort virtue signalling, den Cousin des Gutmenschen, dafür verwenden, aber es ist eigentlich vice signalling. Karnowski wirft einfach nur Gruppen zum Hassen hin. Homosexuelle! Muslime! Deutsche! Alles PiS-Feindbilder, und warum nicht einfach alles in einen Topf werfen? Da sterben Hirnzellen beim Zuschauen, aber die abgekapselten Parallelgesellschaften, aus denen diese Parteien ihre Anhänger ziehen und die sie herangezogen haben, immunisieren auch gegen diese Erkenntnis.
3) How Germany could break the migration deadlock
To make some progress on migration and improve refugees’ situation, the German Council presidency should work towards a solution within the coalition of the willing. This would be a bitter pill to swallow. The Germans should build on minor, often overlooked, achievements such as the Commission’s March initiative to relocate 1,600 unaccompanied refugee children from the Greek islands. Even negotiations within the coalition will be tough and time-consuming – but one could gradually expand on partial agreements to create a workable allocation mechanism. This would only be a short-term solution to avert total failure during the remaining three months of the German Council presidency. In the long run, it would fall short of the EU’s key principles of cooperation, solidarity, and inclusion. A permanent allocation mechanism that only involved some member states would be unfair and would fragment the EU even further. (Clara Sophie Cramer, European Council on Foreign Relations)
Ich habe an dieser Stelle schon mehrfach festgestellt, dass die Flüchtlingskrise eine unlösbare Krise darstellt. Natürlich kann Deutschland eine Koalition der Willigen anführen, aber es ist doch selbst nicht willig! Genauso wie vor 2015 hat Deutschland kein echtes Interesse daran, den Status Quo zu ändern. Wieder werden die Flüchtenden an den EU-Außengrenzen abgefangen und in Italien, Spanien und Griechenland in Lagern zusammengepfercht, wie bereits vor 2015. Warum also sollte Deutschland daran etwas ändern? Dieser Status ist so bequem. Und in ein paar Jahren, wenn das dann wieder zusammenbricht, ist man total überrascht. Je nachdem, wie sich das Land bis dahin entwickelt hat, kriegen wir dann für ein paar Wochen Willkommenskultur 2.0 oder wir machen gleich einen auf Kurz und Orban. Entschuldigt bitte den Zynismus, aber ich kann da einfach keinerlei positive Zukunft für irgendwen entdecken.
So it is with China and the United States. The two most powerful countries in any international system are almost destined to be at odds with each other for the simple reason that each is the other’s greatest potential threat. Beyond that, in the case of America and China, there also is an incompatibility in their respective strategic objectives, derived in part from factors of geography and tradition. China wants to dominate its own neighborhood, as America dominates its continent and surrounding waters, in order to ensure its security to the fullest extent possible. To that end, it wants to push the United States out of Asia “so it no longer has to worry as much about U.S. military power,” as Walt puts it, “and so that its neighbors cannot count on American help.” [...] But America also has its own basic strategic imperatives, and one is to ensure that China doesn’t consolidate geopolitical power in Asia because it would then be positioned to project power outward into other regions of the world, including America’s strategic neighborhood. That’s what the U.S.-China rivalry is all about, and it doesn’t really matter much what America says about Taiwan. What matters is power. [...] “It makes much more sense for the United States just to work with China’s neighbors to try and contain it and to prevent it from becoming a regional hegemon.” Can that work? Probably not if America remains bogged down militarily in the Middle East, picks fights unnecessarily with other nations, such as Russia, that could become China adversaries based on their own strategic considerations, continues to enervate itself through cannibalistic politics, and succumbs to incompetent national leadership. (Robert W. Merry, The American Conservative)
Ich bin kein großer Anhänger der neorealistischen Lehre, nach der objektifizierbare Interessen für das Handeln von Staaten ausschlaggebend sind. Dafür wurden diese "Interessen" gerade in der westlichen Welt zugunsten eines gemeinsamen Wertesystems zu grundlegend beiseite geschoben beziehungsweise verwandelt. Ich glaube auch nicht, dass die beiden größten Staaten zwingend in eine Konkurrenz- oder Rivalitätssituation geraten müssen.
Auf der anderen Seite ist es sicherlich auch richtig anzuerkennen, dass die chinesische Regierung nicht irrational handelt. Man sollte nicht den Fehler machen, sie zu dämonisieren und dann auf irgendwelche dummen Ideen in der Außenpolitik zu kommen (sagen wir, einen Handelskrieg ohne Konzept vom Zaun zu brechen). Daher ist die Perspektive natürlich trotzdem hilfreich, man sollte sie nur nicht verabsolutieren.
5) MMT Einsichten für den Green New Deal
Ökonomisch betrachtet ist die Finanzierungsfrage daher der triviale Part des GND. Das Parlament beschließt die Ausgaben, die für die massive Investitionsoffensive benötigt werden und das Finanzministerium tätigt die Ausgaben. Etwaige politische Hürden sollten dafür politisch gelöst oder umgangen werden. Die Fiskalregeln sind löchrig und könnten im Zweifel technisch umgangen werden, etwa indem die Ausgaben über die Europäische Investitionsbank, deren Anleihen direkt an die EZB verkauft werden können, getätigt werden. Im Sinne der Demokratie sollten jedoch idealerweise Aufklärung betrieben und die politischen Rahmenbedingungen entsprechend reformiert werden. [...] Im Kern des GND muss die Ressourcenfrage und nicht die Finanzierungsfrage stehen. Die Zitate des US-amerikanischen Finanzministeriums machen das deutlich. Ebenso wie es im Zweiten Weltkrieg nicht um das Auftreiben von Geld zur Mobilisierung nationaler Ressourcen ging, geht es auch beim GND nicht um Geld, sondern um die optimale Bewirtschaftung knapper realer Ressourcen mit dem Ziel der Maximierung des Gemeinwohls – einem hohen Lebensstandard, sozialer Sicherheit, ökologischer Nachhaltigkeit und Finanzstabilität. Das Geldsystem ist das zentrale Instrument, um die verfügbaren Ressourcen entsprechend der demokratisch legitimierten Zielvorstellungen zu steuern. Solange wir jedoch die Funktionsweise des Geldsystems nicht verstehen bzw. uns unsinnige politische Spielregeln auferlegen und das System zweckgemäß bedienen, sind wir wie ein Autofahrer, der mit der Gangschaltung nicht umgehen kann und sein Auto ständig abwürgt. Es wird Zeit, dass wir dieses wirkungsvolle Werkzeug verstehen. Genau hier setzt die ökonomische Denkschule der MMT an. Sie liefert das Handbuch zum Umgang mit dem Geldsystem und stellt einen Paradigmenwechsel in Sachen Wirtschaftspolitik in Aussicht. (Maurice Höfgen, Diem25)
Ich habe diese Entwicklung exakt vorhergesagt. Meine Erwartung wäre, dass sich diese Art der politischen Kommunikation - wir bezahlen alles durch die magische Kraft von MMT - am linken bzw. progressiven Rand auszubreiten beginnt, bis einE KandidatIn (vermutlich eine Frau, wenn man den aktuellen Dynamiken folgt) an die Spitze der Bewegung kommt und auf einen Schlag die bis dahin herausgebildeten MMT-affinen WissenschaftlerInnen, Politik-Operateure und NachwuchspolitikerInnen in die Institutionen bringt. Im Endeffekt, was mit Thatcher und Reagan passiert ist, als der ganze neoliberale Unsinn mit einem Schlag übernahm. Das war in etwa genauso belastbar, was die wissenschaftliche Grundlage angeht, und hat 40 Jahre konservative Dominanz gesichert.
6) Gleiches Recht für alle - auch bei Hausbesetzungen
Ein Urteil, das eindeutiger nicht sein könnte. Um die Räumung des besetzten Hauses „Liebig 34“ im linksalternativen Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg in letzter Minute zu verhindern, hatte der Anwalt der Bewohner einen Antrag beim Kammergericht eingereicht, um die Vollstreckung des Räumungsurteils vorerst auszusetzen. Ohne Erfolg, das Gericht erklärte diese Woche nicht nur die Räumung für rechtmäßig, sondern wies darauf hin, dass besondere Umstände, nach denen die Interessen der derzeitigen Bewohner höher als die des Eigentümers bewertet werden müssten, „weder vorgetragen noch sonst ersichtlich“ seien. Der Rechtsstaat hat gesprochen. Trotz des eindeutigen Urteils wurden aber sofort Forderungen erhoben, die Räumung nicht durchzusetzen. Nicht etwa nur aus der linksextremen Sympathisanten-Szene, für die das Haus ein zentrales Symbol des „anarcha-queer-feministischen“ Kampfes ist, sondern auch von Vertretern der Politik. Genauer, von Grünen und von Linkspartei-Politikern. [...] Was vor allem ein fragwürdiges Rechtsstaatsverständnis bei Grünen und Linkspartei offenbart. Wer nur genug gewalttätigen Widerstand mobilisiert, bei dem werden höchstrichterliche Urteile nicht vollzogen. Eine perverse Anreizstruktur, bei der nicht nur die Gewalttäter von morgen herangezüchtet werden (es lohnt sich!), sondern die den gesetzestreuen Bürger, der sogar sein Knöllchen begleicht, wie einen Idioten dastehen lässt. [...] Das Recht darf der Gewalt niemals weichen. Darum muss das Haus eben auch nicht „trotz“ des massiven gewalttätigen Widerstands geräumt werden. Sondern gerade deshalb. (Tobias Blanken, Welt)
Ich stimme Blanken völlig zu, und ich habe absolut null Verständnis für diese beknackten Hausbesetzereien und die Gewalt gegen Polizisten. Umso problematischer ist es, wenn die Polizei in Berlin sich als politischer Akteur geriert und offen ankündigt, das Recht selektiv gegen ihre politischen Gegner durchzusetzen. Die begreifen sich als Bürgerkriegsparteien, alle beide. Aber wir haben wieder einmal das Thema, dass die Polizei das Gewaltmonopol hat. Die können nicht einfach entscheiden, das Recht selektiv gegen ihre "Gegner" durchzusetzen. Es braucht endlich diese Untersuchung und ein Durchgreifen gegen diese Mentalität. Und dann können wir auch gerne wieder auf die Linksradikalen aus der "Alternativen Szene" durchgreifen.
Was übrigens auch auffällig ist: Bei dem ganzen Thema der Hausbesetzung durch Linksradikale gibt es keinen einzigen Beitrag in den Leitmedien, in dem gefordert wird, man müsse mit den Linken reden. In dem gewarnt wird, dass wenn man sie pauschal als linksradikal verurteile, man nur Wasser auf die Mühlen der MLPD schütte. In dem erklärt wird, eine breitere Debatte über Hausbesetzungen habe das verhindern können. Und das gibt es auch alles zu Recht nicht! Kein Fußbreit den Radikalen. Aber warum wird dem rechten Rand so großzügig zugestanden, was beim linken Rand common sense ist? Und siehe da, wenn man die Radikalen nicht normalisiert und ihnen massig Raum zugesteht, bleiben sie ein Randphänomen.
7) Why Liberals Pretend They Have No Power
This tension underscores a deeper paradox of liberalism that has arguably reached its apex in the Trump era. Since the president’s election four years ago, the political and intellectual leaders of America’s supposedly reform-minded opposition have issued warnings about the existential threat that Trump poses to democracy. Amid it all, senior Democrats have mostly maintained both the regular operation of government and a standard of congressional etiquette that connotes normalcy more than it does any state of exception: applauding the president’s speeches, approving his military budgets, awarding him new domestic spying powers, and even fast-tracking his judicial nominees. A line from one 2019 CNBC report detailing the overwhelming House approval of Trump’s marquee NAFTA renegotiation sums up the absurdity of this posture: “Democrats also wanted to show they can work with Trump only a day after they voted to make him the third president impeached in American history.” [...] Liberalism in the Trump era has thus become a kind of strange pantomime act in which elite politicians deploy the rhetoric of imminent threats and national emergency only to behave like hapless passengers trapped aboard a sinking ship. Although it has certainly found its most potent expression in Washington, this posture of feigned powerlessness has gradually come to infect the broader culture and ideology of American liberalism as a whole. (Luke Savage, The Atlantic)
Die Democrats sind, um die Fragestellung der Überschrift in aler Kürze zu beantworten, einfach eine Mitte-Links-Partei. Das ist tief in ihrer DNA. Sie sind nicht radikal, auch wenn ihr Rand und ihre Basis sich in den letzten vier Jahren etwas stärker bewegt haben. Die eigentliche Partei aber, ihre AmtsträgerInnen und FunktionärInnen, sind nicht bereit, mehr als inkrementelle Veränderungen des Status Quo mitzutragen. Die Polarisierung und Radikalisierung in den USA sind nun einmal asymmetrisch. Jede Analyse, die dieses fundamentale Fakt nicht anerkennt, wird immer um sich selbst laufen und zwar lauter periphere, möglicherweise auch kluge und zutreffende, Punkte machen, aber eben nicht die eigentliche Frage beantworten können.
Natürlich ist diese Machtlosigkeit eingebildet. Die Democrats KÖNNTEN jederzeit genauso Hardball spielen wie die Republicans. Sie WOLLEN es aber nicht. Ihnen sind die Normen und Institutionen wichtig, sie wollen sie bewahren und verzweifelt zurück zu den alten Tagen. Das hat eine ganze Reihe von Folgen, sowohl positive (Demokratie!) als auch negative (krasse blinde Punkte für benachteiligte Schichten, siehe das folgende Fundstück). Aber man muss dieses Fakt einfach anerkennen.
8) Why Democrats Can’t Have Nice Things
If Democrats really wanted to win some swing states they should have found a way to fix the water in Flint. They might have persuaded Mike Bloomberg to spend his money creating new jobs in Ohio instead of buying felons’ votes in Florida. Dems never talked to the voters they need the most. In fact, quite the opposite. They stomped their feet in a four-year tantrum and called them racists when Midwesterners never got appropriately offended by Trump. These people worked hard for what they have only to hear that dismissed as privilege. The NYTcalls them “the worst of us.” Call them the missing whites on election day. [...] If Trump wins again, it will be safe to say Dems lost this election in 2016 when they failed to see the change the nation wanted and pushed Bernie aside. That gave Trump his first term. But rather than learn anything in the cold morning and seek redemption, the Dems basically did the same thing in 2020, albeit with the more likable Joe Biden. But Biden carries most of the same old-school baggage, inherits the still open wounds from the Obama years, and has that stanky taint of corruption after 47 years in government. (Peter van Buren, The American Conservative)
Ich bin immer noch nicht überzeugt von der These, dass eine scharfe Wendung der Democrats (oder SPD, oder Labour...) hin zum ökonomischen Linkspopulismus die Rettung der Partei wäre. Ja, sicher, vielleicht gewinnen sie damit wieder ein paar Stimmen unter der weißen Arbeiterschaft zurück. Aber was die Befürworter dieser Strategie eben immer ausklammern ist, dass sie fundamental unvereinbar mit dem inklusiven Bürgerrechts-Ansatz ist, den die Partei seit vielen Jahren vertritt.
Die "alte" Sozialdemokratie basierte immer auf dem Ausschluss bestimmter benachteiligter und marginalisierter Gruppen aus ihrer Politik und ihrer Attraktivität. In der Bundesrepublik waren das früher etwa die Gastarbeiter oder die Frauen, für die die SPD wenig im Angebot hatte. Die Schichten, die van Buren den Democrats hier zur Konzentration anempfiehlt, wollen keinesfalls Teil einer multiethnischen Koalition sein. Ihre Gegnerschaft hierzu überschattet alles. Wollen die Democrats diese WählerInnen zurückgewinnen, dann müssten sie die anderen Gruppen aufgeben.
9) Kein Konsens über die Werte: Zum Versagen des Rates in der europäischen Rechtsstaatskrise
Ende September legte die deutsche Ratspräsidentschaft einen ausformulierten Entwurf vor, der die von Charles Michel vorgeschlagenen Abschwächungen übernahm. Sie stieß damit auf Widerspruch von beiden Seiten: Während Polen und Ungarn auch dieser Vorschlag noch zu weit ging, lehnten ihn die drei nordischen Mitgliedstaaten, Belgien und die Niederlande aus Protest gegen die übermäßige Verwässerung ab. Die notwendige qualifizierte Mehrheit erreichte der Entwurf jedoch. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel besaß sogar die Chuzpe, die Gegenstimmen von beiden Seiten als Bestätigung zu nehmen, dass der deutsche Entwurf ausgewogen sei. In der Konsenslogik des Rates ist der richtige Weg offenbar immer der Mittelweg – selbst wenn es sich um einen Mittelweg zwischen Verteidigern und Gegnern des Rechtsstaats handelt. Das freilich will das Europäische Parlament nicht einfach akzeptieren und droht nun seinerseits mit einer Ablehnung des mehrjährigen Finanzrahmens, wenn der Rat sich beim Rechtsstaatsmechanismus nicht weiter bewegt. Umgekehrt erhält aber auch Ungarn weiterhin seine Vetodrohung aufrecht. Die Verhandlungen in den nächsten Wochen dürften deshalb – auch das nichts Ungewöhnliches im Konsenssystem der EU – zu einem chicken game ausarten, bei dem beide Seiten bis zuletzt damit drohen, alles zum Platzen zu bringen. Da aber niemand wirklich Interesse an einem Scheitern des mehrjährigen Finanzrahmens hat, wird am Ende wohl ein wie auch immer gearteter Kompromiss stehen. Ob er für die Rechtsstaatlichkeit in Europa irgendeinen Nutzen bringt, wird erst die Zukunft zeigen. (Manuel Müller, Der Europäische Föderalist)
Es ist ziemlich frustrierend, das Lavieren der EU-Regierungen gegenüber dem Aufstieg von Autokratien und dem Verfall der Rechtsstaatlichkeit in ihren Grenzen zuzusehen. Die Hoffnung auf eine Besserung, das zeigten die vergangenen Jahre in meinen Augen deutlich, kann nur in einer Stärkung des EU-Parlaments bestehen. Ein echter, gewählter Körper ist eben souveräner als irgendwelche Räte, in denen die RegierungsvertreterInnen miteinander verhandeln, und wird immer auch mehr europäische Eigenidentität haben. Das Parlament ist das schlagende Herz der Europäischen Union, und jede Reformmaßnahme sollte sich auf dieses konzentrieren.
10) Schrecken schärfere Strafen wirklich ab?
Anders ausgedrückt: Die Frage danach, ob eine Strafverschärfung präventiv wirkt, also potenzielle Täter abschreckt und die Rechtstreue fördert, lässt sich nicht so einfach mit Fallzahlen beantworten. Aber es finden ausweislich der Antwort auch keine Versuche statt, in aufwendigeren Forschungsvorhaben dieser Frage auf den Grund zu gehen. Umso regelmäßiger werden aber neue Strafverschärfungen rechtspolitisch mit der Begründung ins Spiel gebracht, auf Abschreckung zu zielen. [...] In ihrer Antwort verweist die Bundesregierung auch auf diese Regelung. "Ausgehend davon ist auch nach dem Jahr 2013 nicht bei jeder Änderung einer Strafvorschrift eine Evaluierung vorgesehen. Eine Evaluierung wird vor allem dann vorgesehen, wenn grundlegende systematische Änderungen erfolgen oder aber große Unsicherheit über die Wirksamkeit einer Gesetzesänderung besteht." [...] Strafrechtsexperten verweisen gerne auf einen zentralen Aspekt:. Die Abschreckungsidee setze voraus, dass bei der Begehung von Straftaten rational abgewogen werde. Wer aber in einer Situation handelt, die emotional aufgeladen oder durch Drogen oder Medikamente beeinflusst ist, für den wird das Abwägen seiner Tat mit einer höheren Strafandrohung wohl eher keine große Rolle spielen. So sahen es auch Wissenschaftler in einer Stellungnahme 2016 an den Landtag von Schleswig-Holstein. Es ging damals um Strafverschärfungen zum Schutz von Einsatzkräften. (Dr. Markus Sehl, Legal Tribune)
Es ist faszinierend zu sehen, dass die allseits stets erhobene Forderung nach härteren Strafen, egal bei was, nie empirisch überprüft wurde. Die zugrundeliegende Annahme im Übrigen - dass sie eine abschreckende Wirkung auf potenzielle Straftäter hätten - ist mittlerweile durch zig Studien widerlegt worden. Es gibt dafür in der Kriminologie keinerlei Anhaltspunkte. Generell gibt es weder für Gefängnisstrafen noch für Strafen generell sonderlich viel stützende Empirie. Kriminologisch sind sie ziemlich nutzlos bis schädlich.
Aber sie sind ungemein mächtig, wenn es um Politik geht. Der Volkswille straft gerne, und die Forderung nach härteren Strafen kann sich hoher Zustimmungsraten grundsätzlich sicher sein. Diese dunkle Seite der menschlichen Seele funktioniert schon seit Menschengedenken, da kann die Forschung noch so oft feststellen, dass es nicht funktioniert.
11) Tweet
„Statt einzugreifen, wurde die verängstigte Frau ermahnt, damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen – schließlich könne das Image der Partei darunter leiden.“ https://t.co/u3W9FWD0LR
— Kai Kollenberg (@kollenbergkai) October 9, 2020
Ich habe nicht allzu viel Substanzielles, was ich hierzu sagen kann; es ist einfach ungeheuerlich deprimierend. Ich packe den Hinweis vor allem wegen der ideologischen Nachbarschaft hier rein. Die LINKE ist mit Sicherheit nicht immun dagegen, Sexismus in ihren Reihen nicht nur zu dulden, sondern sogar aktiv zu befördern (und ich lehne mich mal aus dem Fenster und würde die unter Fundstück 8 besprochene Problematik da als ursächlich mit reinnehmen). Oder Antisemitismus, oder sonstwas. Und das ist völlig inakzeptabel. Dass es da keinen größeren Aufschrei gibt, ist zum Kotzen.
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