Dienstag, 6. Oktober 2020

Eva Hermann diskutiert mit Oskar Lafontaine und Säbelzahntigern über die Wiedervereinigung des amerikanischen Isolationsimus - Vermischtes 06.10.2020

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Getting Rid of the Myth of ‘Isolationism’

The key thing to remember in all this is that the U.S. has never been isolationist in its foreign relations. The thing that Kupchan calls America’s “default setting” is not real. Isolationism is the pejorative term that expansionists and interventionists have used over the last century to ridicule and dismiss opposition to unnecessary wars. Isolationism as U.S. policy in the 1920s and 1930s is a myth, and the myth is deployed whenever there has been a serious challenge to the status quo in post-1945 U.S. foreign policy. Bear Braumoeller summed it up very well in his article, “The Myth of American Isolationism,” this way: “the characterization of America as isolationist in the interwar period is simply wrong.” We can’t learn from the past if we insist on distorting it. As William Appleman Williams put it in The Tragedy of American Diplomacy, “It not only deforms the history of the decade from 1919 to 1930, but it also twists the story of American entry into World War II and warps the record of the cold war.” Williams also remarked in a note that the use of the term isolationist “has thus crippled American thought about foreign policy for 50 years.” Today we can say that it has done so for a century. Our government eschewed permanent alliances for most of its history, and it refrained from taking sides in the European Great Power conflicts of the nineteenth century, but it never sought to cut itself from the world and could not have done that even if it had wished to do so. The U.S. was a commercial republic from the start, and it cultivated economic and diplomatic ties with as many states as possible. You can call the steady expansion of the U.S. across North America and into the Pacific and Caribbean “isolationism,” but that just shows how misleading and inaccurate the label has always been. (Daniel Larison, The American Conservative)

Jede Nation hat ihre Mythen, an die sich klammert und die im politischen Alltagsgeschäft permanent reproduziert werden. Wir haben das Wirtschaftswunder, während in den USA - neben dem Manifest Destiny, dem Wilden Westen und einigem mehr - die Idee des Isolationismus gerne hervorgekramt wird. Der American Conservative weist da sehr gerne darauf hin, weil diese Leute tatsächlich isolationistisch sind und logischerweise ihre ideologische Reinheit bewahren wollen.

Dabei ist ihnen aber zumindest unterbewusst klar, dass sie eine krasse Minderheit sind. Wie Larison in seinem Artikel ja auch feststellt, haben die meisten Amerikaner absolut kein Problem damit, das militärisch-wirtschaftlich-politische Gewicht ihres Landes herumzuwerfen. Was oftmals als "Isolationismus" bezeichnet wird ist ungefähr so isolationistisch wie Deutschlands Haltung gegenüber Interventionen. Wasch mich, aber mach mich nicht nass.

2) Since reunification, Germany has had its best 30 years. The next 30 will be harder

Answering the apparently simple question “How old is Germany?” is far from simple. But let me venture this bold claim: the last three decades have been the best in all that long and complicated history. If you can think of a better period for the majority of Germans, and their relations with most of their neighbours, I’d be glad to learn of it. In today’s world, roiled by populism, fanaticism, and authoritarianism, the Federal Republic is a beacon of stability, civility, and moderation – qualities personified by Chancellor Angela Merkel. But the national and regional challenges that Germany has faced over the last 30 years pale in comparison with the global ones it will face over the next 30. Unlike some other democracies, including southern European members of the eurozone such as Greece and Spain, this German democracy has not yet faced the test of a really major economic crisis. That is a result of its own great economic strengths, but also of the growth of export markets such as China opened up by globalisation, the advantages of having the euro (rather than a less competitively valued Deutschmark), and a reservoir of cheap skilled labour in east-central Europe. There is no guarantee of equally favourable geo-economic circumstances in the years to come, nor of a benign geopolitical environment. (Timothy Gardner Ash, European Council on Foreign Relations)

Ich würde Merkel Punkte mehr für stewardship als Gestaltung geben wollen. Aber ja, das Land war bemerkenswert stabil, obwohl wir mit Merkel drei große Krisen erlebt haben. Ich weiß nicht genau, wie viel Anteil sie persönlich daran hatte und wie viel davon auch einfach dem Fakt geschuldet ist, dass sie in der CDU ist (die SPD hätte längst mindestens eine Regierungskrise produziert, hätte sie in der Zeit den Kanzler gestellt). Aber eine erneute Litigierung der Merkel-Kanzlerschaft ist an der Stelle auch zweitrangig.

Ich fürchte, dass Timothy Gardner Ash Recht damit hat zu vermuten, dass die letzten 30 Jahre für Deutschland insgesamt wesentlich positiver waren als die nächsten. Und die letzten waren schon von einer sich krass öffnenden Schere zwischen Arm und Reich gekennzeichnet, die die Früchte dieser Stabilität äußerst ungleich verteilte. Gibt es künftig keine Früchte mehr, wäre das ziemlich mulmig machend.

3) Tweet


Was @derkutter hier aufwirkt, ist eine interessante Frage. Würde Eva Hermann heutzutage ebenfalls von der höflichen Gesellschaft ausgeschlossen werden und sich mit Gigs bei Compact und Co durchschlagen müssen? Oder würde man ihre Stimme nicht als notwendigen Beitrag zur Debatte betrachten und Cancel Culture beklagen? Ich fürchte, es ist Letzteres. Denn wie ich ja schon an anderer Stelle geschrieben habe, hat sich das Overton-Fenster in den letzten Jahren in beide Richtungen verschoben.

Es ist sowohl möglich, öffentlich wesentlich linkere Positionen zu vertreten als auch rechte. Es gehört vermutluch mit zu der Vertrauenskrise, die hier im Blog jüngst diskutiert wurde. Das früher deutlich vorhandene Bewusstsein dafür, welche Meinungen im "erlaubten" Spektrum sind, hat sich deutlich ausgefranst. Wo die Meinungselite - Politik, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft, etc. - da noch vor kurzer Zeit sehr homogen war, ist das nicht mehr der Fall. Mit all den Unsicherheiten, die damit einhergehen, und der entsprechenden Panik bei denen die glauben, von dieser Entwicklung benachteiligt zu sein. Da kommt dann so Unfug raus wie dass Echo im Interesse der "Debatte" antisemitische Leserbriefe abdruckt. Hoffentlich sortiert sich das bald wieder ein...

4) Wie Kampfbegriffe den Diskurs prägen

Es gibt Veränderungen in der Debattenkultur, und die Rede von Zensur und Sprechverboten ist eine abwehrende Reaktion darauf. Gesellschaftliche Vielfalt ist heute sichtbarer als früher. Mehr Menschen haben und nutzen die Möglichkeiten, sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen. Dabei werden Sprechpositionen, Verhalten, Denkmuster auf neue Weise befragbar. Es entstehen neue kommunikative Dynamiken und Ansprüche auf Partizipation werden offensiver vorgetragen: Wessen Wahrnehmungen und Erfahrungen zählen? Worüber wird öffentlich debattiert und wer sitzt an welchem Debattentisch? Welche sprachlichen und ästhetischen Formen der Repräsentation sind angemessen? Ist es in Ordnung, die Kultur anderer Menschen als Kostüm zu tragen? Ist es ein Problem, das N-Wort zu verwenden? Noch vor Jahren war es in journalistischen Berichten üblich, dass rechtsextremistische Gewalt stets als Fremdenfeindlichkeit bezeichnet wurde. Doch Rassist*innen fragen nicht nach Pässen, sie erklären Menschen zu Fremden. Wird es Konsens, Rassismus zu sagen, fallen zunehmend diejenigen auf, die weiterhin von Fremdenfeindlichkeit sprechen. Sie müssen sich fragen lassen, wieso sie ihre Begriffe nicht verändern. In vielen gesellschaftlichen Problemfeldern gibt es solche Konsensbildungen nicht, und es geht auch keineswegs nur um Begriffe. Es wird darum gerungen, was als veränderungsbedürftig angesehen werden sollte. Mit der Behauptung „Man darf ja gar nichts mehr sagen“, mit Begriffen wie Zensur oder Sprechverbot wird versucht, sich diesem erhöhten Begründungsbedarf zu entziehen und Kritik zu delegitimieren. Dass sich dabei auch Menschen, die sich für liberal und aufgeklärt halten, in die Defensive gedrängt sehen, bedeutet nicht, dass Sprechräume durch Political Correctness tatsächlich enger geworden sind. (Andrea Geier, Deutschlandfunk)

Ich habe zu diesem Artikel von Andrea Geier gar nicht so furchtbar viel beizutragen, ich möchte an dieser Stelle nur den Hinweis dalassen, mehr als den hier zitierten Ausschnitt zu lesen. Geier setzt sich sehr klug mit der Problematik auseinander und ist eine der führenden Kennerinnen auf dem Gebiet. Die Lektüre lohnt sich daher auch für GegnerInnen ihrer Thesen, schon allein, um zu verstehen, worum es und Progressiven tatsächlich geht und informierter ablehnen zu können.

5) Tweet


Der Hinweis, wie unglaublich unbeliebt die "Sparpolitik" tatsächlich ist, sollte nicht nur bei den Democrats hängen, sondern auch bei Olaf Scholz. Er sollte nicht den Fehler machen, sein eigenes Kool-Aid zu trinken beziehungsweise in den Chor elitärer WirtschaftsjournalistInnen einzustimmen, die seit 40 Jahren immer denselben Artikel schreiben. Es gibt und gab noch nie eine Mehrheit für die Politik der "Schwarzen Null." Das heißt nicht, dass die "Schwarze Null" als Konzept nicht total beliebt wäre, aber die daraus resultierende Politik halt nicht. Es ist kein Zufall, dass noch jede CDU-FDP-Regierung mehr Schulden gemacht hat. Alles andere wäre elektoraler Selbstmord.

6) Ist es radikal, nicht mehr zur Normalität zurückzukehren?

Und doch ging und geht es vielen sehr gut. Die Pandemie hat nicht nur Angst und Anpassung hinterlassen, sondern auch Hoffnung und Vorstellungsvermögen, Selbstvertrauen. Das Leben kann sich abrupt und grundlegend ändern, wir kommen weiter zurecht. Die Art von Veränderung, die groß war und nicht vorstellbar, bevor sie da war, funktionierte. Erst holprig, aber für viele Menschen machbar. Sie zeigte Dinge auf, die gut tun. Die Pandemie öffnete Vorstellungsräume: Systemrelevante Berufe endlich besser bezahlen, dauerhaft flexibel im Homeoffice arbeiten, mehr Zeit mit der Familie, öfter selbst kochen, weniger achtloser Konsum, mehr Umweltschutz, mehr Fahrradwege! Doch die anfängliche Aufbruchsstimmung ist schon wieder verstummt. Erinnern Sie sich an diese Diskussionen? Sie werden kaum noch geführt. Das Streben nach der Normalität von vor Corona ist groß. Doch welche Normalität ist es eigentlich, die wiederhergestellt werden soll? Wäre jetzt nicht die ideale Zeit, um zu entscheiden, welche Dinge aus der Zeit vor der Pandemie wir zurückhaben wollen und welche nicht? Welche wollen wir vielleicht nur aus Gewohnheit zurück? Die Pandemie hat in ganz unterschiedlichen Bereichen gezeigt, was nicht glücklich macht, und außerdem, welche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konstrukte zerbrechlich sind. Wollen wir etwas, das einer Krise nicht standgehalten hat, tatsächlich zurück? Es gibt kaum etwas, das vor der Pandemie über gesellschaftliches Unrecht noch nicht bekannt war. Es ist nicht neu, dass vielen Kindern die Ausstattung fehlt, um digital lernen zu können, oder dass ihr Zuhause für sie ein gefährlicher Ort ist. Es ist nicht neu, dass die Arbeitsbedingungen in Fleischfabriken menschenverachtend sind und Erntehelfer*innen ausgebeutet werden. Es ist nicht neu, dass in Altenheimen und Krankenhäusern zu wenige Pflegekräfte sich um zu viele Menschen kümmern und dafür zu wenig Geld und Wertschätzung bekommen. Es ist nicht neu, dass arme Menschen weniger gesund sind und früher sterben als reiche. Es ist nicht neu, dass marginalisierte Gruppen, zum Beispiel Menschen mit Behinderungen, bei politischen Maßnahmen nie als Erste mitgedacht werden, obwohl sie eine besonders verletzliche Gruppe sind. (Theresa Bücker)

Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich kann diese Artikel von wegen "Lasst uns die Krise für radikale Neuerung X in Sektor Y nutzen!" nicht mehr lesen. Ich verstehe, dass das Hervorheben struktureller Schwächen - schlechte Bezahlung der Pflegekräfte, veraltete Bildungsstrukturen in der Schule, nur um zwei zu nennen - bei den entsprechenden Vorkämpfern von Reform oder gar Revolution Handlungsdrang auslöst. Aber ich gewinne dieser Tage ein echtes Gefühl dafür, wie sich Konservative angesichts von Entwicklungen wie BLM fühlen.

Was meine ich damit? Ich will es an einem Beispiel deutlich machen. Ich bin ein passiver Mitleser am Randes des Twitterlehrerzimmers, eines losen Verbunds von Lehrkräften, die sich eher auf der modernen, reformorientierten Seite sehen und vor allem über Digitialisierung des Unterrichts sprechen. Ich verstehe, dass diese Leute zutiefst frustriert sind, wenn man ihre jahrelang entwickelten Gedanken einer digitalen Didaktik ignoriert und stattdessen nun unter dem Druck von Corona den Präsenzunterricht einfach nur auf Microsoft Teams verlegt (siehe etwa Bob Blume: "Der falsche Fortschritt").

Aber gleichzeitig habe ich einfach keine Kraft dafür, in diesen anstrengenden Zeiten neben der Bewältigung der Pandemie und allem, was da beruflich, familiär und privat dran hängt, auch noch die Grundlagen meiner Profession zu überdenken. Ich bewundere die Leute, die das machen, und ich denke auch, dass sie absolut richtig liegen. Aber trotzdem denke ich immer öfter: "Boah Leute, lasst mich in Ruhe, ich will nur meinen Job machen." Das ist falsch, aber ich bin einfach am Ende der Aufnahmekapazität für so was. Lange Rede, kurzer Sinn: Veränderung ist anstrengend.

7) Linkenpolitiker fordern Lafontaine zum Rücktritt auf

Oskar Lafontaine sieht sich mit Rücktrittsforderungen aus seiner eigenen Partei konfrontiert. Grund ist ein gemeinsamer Auftritt mit Thilo Sarrazin. Mitglieder der Linken fordern, der frühere Parteichef solle seinen Posten als Fraktionsvorsitzender im saarländischen Landtag abgeben. In einer Mitteilung schreibt der Zusammenschluss "Antikapitalistische Linke" (AKL): "Die AKL fordert, dass Oskar Lafontaine unverzüglich alle politischen Ämter niederlegt, in denen er die Politik der Linken vertreten müsste." Zur Begründung heißt es, Sarrazin sei "ein landesweit bekannter Rassist, der gerade und nach langem quälenden Verfahren aus der SPD ausgeschlossen wurde" und eine "rechtsradikale Ikone", die von einem Mitglied der Linken nicht öffentlich aufgewertet werden dürfe. Dieser gemeinsame Auftritt sei parteischädigend. Lafontaine war am Montagabend in München gemeinsam mit dem CSU-Politiker Peter Gauweiler und dem früheren Berliner Finanzsenator und Buchautor Thilo Sarrazin aufgetreten, um über Sarrazins neues Buch zu sprechen. Sarrazin wurde im Juli wegen rassistischer und islamfeindlicher Aussagen aus der SPD ausgeschlossen. Sein Bestseller "Deutschland schafft sich ab" gilt als eine der wichtigsten Wegmarken der Etablierung der neuen Rechten in Deutschland. [...] Lafontaine sagte bei der Veranstaltung laut einem Bericht des "BR", ein unbegleitetes Flüchtlingskind koste rund 5000 Euro im Monat und das könne er einer Sozialrentnerin nicht erklären. Es werde zu viel Geld für zu wenige Notleidende ausgegeben. (Kevin Hagen/Jonas Schaible, SpiegelOnline)

Auf solchen Veranstaltungen wächst zusammen, was zusammengehört, um es mal in den Worten Willy Brandts auszudrücken, als dessen Enkel sich Lafontaine immer so gerne inszeniert hat. Der Mann war schon immer gut dabei, wenn es darum ging, Populismus aller Variationen zu verquicken. Als Kanzlerkandidat und SPD-Vorsitzender in spe gehörte er zu den maßgeblichen Konstrukteuren der "Das Boot ist voll"-Rhetorik der 1990er Jahre, die so unmittelbar mitverantwortlich für die ausufernde Gewalt gegen Asylbewerbende war. Und 2005 keilte er im Wahlkampf gegen "Fremdarbeiter".

Ich glaube nicht, dass Lafontaine ein Rassist ist, genauso wenig, wie etwa Horst Seehofer oder Markus Söder welche sind. Letztlich wird Lafontaine von demselben Paradigma angetrieben, das Franz Josef Strauß mit der Losung "rechts von uns ist nur die Wand" ausgegeben hat: Die Idee, dass man WählerInnen mit solchen Gedankenhaltungen in eine demokratische Partei integrieren könne. Dass das grundsätzlich möglich ist, haben CDU/CSU, SPD und FDP über Jahrzehnte bewiesen. Das muss man nicht diskutieren.

Was dieser Tage in der Debatte aufbricht sind vielmehr die Kosten dieser Inklusion. Denn wann man Rassisten und andere eher zweifelhafte Gestalten in seine Partei integriert, geht das zwangsläufig auf Kosten der entsprechend Gehassten. Lafontaine mag mit seiner Kalkulation Recht haben, durch wütende Wendeverlierer und bornierte weiße ArbeiterInnen (pars pro toto) mehr Stimmen zu gewinnen als er bei progressiven Frauen oder migrantischen NeuwählerInnen (ebenfalls pars pro toto) verliert. Aber man sollte sich nicht einreden, dass das ein Spiel ohne VerliererInnen sei.

8) Söder bedauert sein Verhalten im Asylstreit mit Merkel

„Wir alle haben zur Verschärfung des Streits beigetragen – auch ich. Ich habe mich dann aber auch korrigiert“, sagte der bayerische Ministerpräsident in einem Interview, [...] Durch die erbitterte Auseinandersetzung mit Merkel „entstand der Eindruck, wir stünden mehr auf der ,dunklen Seite der Macht‘“, sagte Söder. „Das hat sich einfach nicht gut angefühlt.“ Es sei ein Irrglaube gewesen, man könnte Wähler von der AfD zurückholen: „Das war eine falsche Strategie. Es war eine Fehleinschätzung, die AfD nicht schon früher hart anzugreifen.“ [...] Den Wahlkampf vor der Landtagswahl 2018 in Bayern habe er als „politische Nahtoderfahrung“ wahrgenommen, bekannte der Regierungschef. [...] Konkret bedauerte Söder den umstrittenen Kreuzerlass vom April 2018: „Manches würde ich heute anders machen, gerade auch in der Form.“ Seinerzeit hatte das bayerische Kabinett auf Söders Initiative hin beschlossen, dass im Eingangsbereich jeder Landesbehörde künftig ein Kruzifix hängen soll. Bayern sei ein „liberal-konservatives“ Land, betonte Söder jetzt. „Die CSU darf sich nicht auf das Konservative verengen.“ (Welt)

Dass Söder jetzt Kreide frisst, ist natürlich vor allem ein wahltaktisches Manöver - und ein Schub für die Verkaufszahlen seiner Biographie, wenngleich er daran nicht direkt verdient (dafür aber politisches Kapital). Es ist aber über die Frage seines persönlichen Erfolgs aus zweierlei Gründen interessant. Einerseits ist da die historisch-strategisch Ebene: Ich sage schon seit Jahren, dass das Ranwanzen an die AfD ein Fehler war und ist, und es ist gut zu sehen, dass Söder das inzwischen einsieht (eine Erkenntnis, die Lindner noch abzugehen scheint).

Andererseits ist da aber auch die gegenwärtig-strategische Ebene. Denn bei aller Liebe für Söder, der Mann hat keinen Sinneswandel, der nicht durch eine fundierte politische Lageanalyse unterfüttert wäre. Wie viele andere Unionsgranden hat auch er offensichtlich den Schluss gezogen, dass die Modernisierung der CDU durch Merkel nicht mehr rückgängig zu machen ist. Diese Union ist eine andere Partei, und in der kann nur überleben, wer mit dem Strom schwimmt.

9) Mehr Covintelligenz, bitte!

Ich mag's nicht so gern, wenn Politiker mich wie ein Kleinkind behandeln, das zu doof ist, sich die Strümpfe selbst anzuziehen. Ich möchte mir nicht von Markus Söder vorschreiben lassen, ob ich auf einer Isarbrücke stehen bleiben darf, um Enten anzugucken. Ob ich nach 20 Uhr Alkohol kaufen oder – noch schlimmer! – sogar trinken darf. Mit wem ich mich wo und wie treffe, möchte ich weder Angela Merkel noch einem angeblich Regierenden Bürgermeister überlassen. Ich will, dass wir Bürger als mündige Wesen behandelt werden. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass man die eigene Mündigkeit auch hin und wieder mal unter Beweis stellen sollte. [...] Dass etwas nicht verboten ist, bedeutet nicht zwingend, dass man es auch machen muss. Selbst denken ist nicht nur erlaubt, es ist manchmal sogar hilfreich. Eine gewisse Grundinformiertheit über das Virus und wie es sich verbreitet darf man von mündigen Bürgern erwarten. Es braucht dafür keinen Einzelunterricht durch die Bundeskanzlerin. [...] Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich fühle mich echt nicht wohl in der Rolle des Corona-Blockwarts. Aber ich verzweifle immer öfter an der Gedankenlosigkeit mancher Mitbürger. Weil uns jetzt, da es kälter wird und das Leben sich notgedrungen nach drinnen verlagert, ein paar harte Wochen und Monate bevorstehen. Selbst wenn es einem persönlich schnuppe ist, ob man sich infiziert oder nicht, trägt jeder von uns eine Verantwortung, die größer ist als wir selbst. Gerade wenn wir wollen, dass Kinder auch im Winter Kitas und Schulen besuchen, dass möglichst wenig Arbeitsplätze verloren gehen und die Alten und Schwachen Corona überstehen, sollte ein jeder die letzten Reserven an Disziplin und Solidarität mobilisieren. Nur ein paar Monate noch. Sonst erklären uns die Politiker bald wieder, wo wir stehen, sitzen und trinken dürfen. (Markus Feldenkirchen, SpiegelOnline)

Da ist sie wieder, die viel gelobte Freiheit und Mündigkeit. Es ist gut, dass Markus Feldenkirchen darauf hinweist, dass die nicht im luftleeren Raum stattfinden. Ich finde es grundsätzlich gut, wenn mündige BürgerInnen handeln und nicht von der Politik in jedem Schritt vorgeschrieben werden müssen. Andererseits gehört zu Mündigkeit und Freiheit aber eben auch Verantwortung. Allzu oft scheint das als ein Freifahrtschein verstanden zu werden. Aber es ist auch Teil von Freiheit und Mündigkeit, wenn man dann von seinen peers an der behaupteten Mündigkeit gemessen wird - und gegebenfalls Kritik erntet. Diese auszuhalten und gegebenenfalls umzusetzen gehört halt auch zur Mündigkeit. Anders gesagt: Wer nicht von "privaten Blockwarten" (mieser Vergleich im Übrigen) ermahnt werden will, die Maske gefälligst auch über die Nase zu ziehen, muss das halt dann notgedrungen dem Staat überlassen. Freiheit bedeutet halt nicht, andere Leute gefährden zu können.

10) Überall Säbelzahntiger! Großartige Säbelzahntiger!

Solange er seine Aussage nicht widerruft oder das Gegenteil für zutreffend erklärt, existiert die erlogene Wahrheit im öffentlichen Raum als Schrödingers Fratze der politischen Täuschung, in der eine nicht belegte Wahrheit und eine nicht widerlegte Lüge gleichzeitig existieren können und deckungsgleich sind. In dieser Uneindeutigkeit kann man alles sein, was man will. Seine Kunst kulminiert in seiner "We'll see what happens"-Catchphrase, die er als Antwort auf jede Frage hinsichtlich seiner politischen Führung zückt. In seinem Essay "The Art of Political Lying" schreibt der irische Schriftsteller Jonathan Swift: "Wenn eine Lüge eine Stunde lang geglaubt wird, hat sie ihren Zweck erfüllt." Insofern erfüllen alle Lügen Trumps ihren Zweck - und mehr als das.  [...] Sogar politische Lügen funktionieren, weil wir darauf geeicht sind, zunächst alles für voll zu nehmen, was jemand äußert. Erstens, weil wir begreifen: Unser Gesellschaftsvertrag baut darauf auf, dass wir darauf vertrauen müssen, dass das, was uns jemand sagt, erst mal stimmt; ansonsten wäre Gesellschaft nicht machbar, sondern wir würden in einer postapokalyptischen Anarchie leben, und/oder es wäre wie auf Tinder. [...] Das stürzt uns als Kommentierende, Weiterverbreitende sowie alle Medienschaffenden in ein Dilemma: Wie schreibt man über jemanden, bei dem nahezu jede Behauptung eine Erfindung ist? (Samira El Ouassil, SpiegelOnline)

Es ist ein praktisch unauflösbares Dilemma. Einerseits sollen JournalistInnen berichten, was gesagt wurde und was passiert ist, ohne eine Vorauswahl zu treffen und ohne durch ihre Subjektivität alles zu verzerren. Aber andererseits sind diese Handlungen (Luhmann, ich hör dich trapsen) nicht neutral, geschehen nicht im luftleeren Raum. Denn dadurch, dass etwas berichtet wird, wird es "wahr" - auch, wenn es sich im Nachhinein als falsch herausstellt. Diverse Prominente, über die schon einmal etwas Falsches geschrieben wurde, und praktisch jedeR, der/die jemals das zweifelhafte Vergnügen hatte, Gegenstand der BILD-Berichterstattung zu werden, kennt dieses Problem.

Aber andererseits können JournalistInnen auch nicht einfach aufhören, zu berichten, oder einfach immer pauschal bei allem annehmen, dass es gelogen ist. Und gerade, weil sie das nicht können, können Autokraten wie Trump das zu ihrem Vorteil nutzen und immer lügen. Ich sehe hier die Verantwortung nur teilweise bei den Medien, denn zu dem Karussell gehören zwei: einerseits die, die berichten, und andererseits die, die das entsprechend rezipieren. Wenn trotz permanenten Nachweisens der Lüge keine Änderung bei den Belogenen eintritt, muss man von Absicht ausgehen. Die USA sind ja nicht die Sowjetunion; die Lügen kommen ja nicht von regierungsamtlicher Seite. Sie anzuzweifeln, geht nicht mit Repression einher. Es ist ein freiwilliger Akt, sich ihnen zu unterwerfen. Dass 40% des Landes damit offensichtlich kein Problem haben, lässt einige sehr düstere Rückschlüsse zu.

11) "Da muss man sich schon fragen: Hast du Unrecht getan?" (Interview mit Petra Pau)

Pau: Das ist sehr pauschal gefragt. Aber nehmen wir zum Beispiel den Antisemitismus: Der war Teil des Sozialismus sowjetischer Prägung. Eine kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist aber auch unter westdeutschen Linken bitter nötig. [...] 

SPIEGEL: Als Teil einer rot-rot-grünen Koalition im Bund wären die Linken 30 Jahre nach der Einheit endgültig etabliert in Gesamtdeutschland. Ist das Land bereit für eine Linke an der Regierung?

Pau: Ja.

SPIEGEL: Gleichzeitig gibt es Widerstand gegen eine Regierungsbeteiligung aus den eigenen Reihen. Ist die Partei bereit?

Pau: Man tritt im politischen Geschäft an, um neue Mehrheiten zu erringen und Veränderungen herbeizuführen. Wenn die Linke dafür nicht bereitsteht, hat sie keine Funktion mehr. (Kevin Hagen/Jonas Schaible, SpiegelOnline)

Ich habe die Teile von Paus Interview, die sich mit der Rezeption der Wende beschäftigen, bereits in meinem Artikel diskutiert. Daher hier nur die Teile genommen, die für dieses Thema relevant sind: Es ist auffällig, wie Pau sich von der "alten" LINKEn, die ich in dem Artikel ja auch kritisiert habe oder in Fundstück 7 oben, zu distanzieren versucht. Ich bin völlig bei ihr, dass die Partei einerseits keine Funktion hat, wenn sie nicht für Regierungen bereit steht, und andererseits nur dann für eine solche in Frage kommt, wenn sie die ganzen Probleme in den Griff bekommt.

Dazu zählt ihr Verhältnis zur DDR-Vergangenheit ganz vorne dran, dazu zählt natürlich die Außenpolitik (ein Thema, das Pau hier wohl bewusst ausspart), dazu gehört eine Anerkennung von Problemen wie Rassismus und, vor allem, Antisemitismus in der Partei. Es steht zu hoffen, dass es die Paus dieser Partei sein werden die sich durchsetzen und nicht die Lafontaines.

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