Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Mythos namens Lohn-Preis-Spirale
Der zentrale, häufig jedoch vergessene Punkt ist ein anderer: Hohe Löhne und unternehmerischer Erfolg bedingen einander. Die erfolgreichsten deutschen Unternehmen sind solche, die mit die höchsten Löhne und besten Arbeitsbedingungen in Deutschland und weltweit anbieten. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen in der globalen Wirtschaft ist in den allermeisten Fällen nicht durch geringe Löhne und niedrige Preise erklärt, sondern durch hohe Produktivität und exzellente Qualität von Produkten „made in Germany“. Dies ist nur deshalb möglich, weil die Beschäftigten der deutschen Unternehmen hoch produktiv und motiviert sind. Nicht nur führt höhere Produktivität zu guten Löhnen, die Kausalität funktioniert eben auch in die entgegengesetzte Richtung. Hohe Löhne sind alles andere als hinderlich für das Wirtschaftsmodell Deutschlands – sie sind eine seiner Grundlagen. Der soziale und wirtschaftliche Ausgleich war und ist die große Stärke der sozialen Marktwirtschaft. Die Kosten von Pandemie, Krieg und Inflation sollten vor allem von den stärksten Schultern getragen werden. Die Bundesregierung sollte sich aus den Lohnverhandlungen heraushalten und nur anmahnen, dass Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen differenziert nach Branche und nach finanziellem Spielraum auf Augenhöhe miteinander verhandeln. Und sie sollte ein Paket von Zukunftsinvestitionen als ihren Beitrag zur konzertierten Aktion beschließen, um das Wirtschaftspotenzial in den kommenden Jahren zu erhöhen, den Druck auf die Inflation zu reduzieren und mehr Wachstum und Einkommen zu generieren. (Marcel Fratzscher, taz)
Eine direkte Kausalität zwischen unternehmerischem Erfolg und hohen Löhnen sehe ich ehrlich gesagt nicht. Ich würde das eher für die volkswirtschaftliche Ebene sehen. Unternehmer*innen können problemlos mit der Ausbeutung ihrer Angestellten erfolgreich sein; Voraussetzung ist nur, dass die meisten ihrer Konkurrent*innen das nicht auch machen, weil das resultierende race to the bottom langfristig die Kaufkraft senkt (kurzfristig können je nach Branchenstruktur ja durchaus noch Effizienzgewinne herausgeholt werden) und damit entweder eine Exportorientierung erzwingt (was das Problem auch nur verschiebt) oder zu Wohlstandsverlusten führt. Ansonsten stimme ich dem Artikel aber zu.
2) Ron DeSantis Would Kill Democracy Slowly and Methodically
Conservatives are defining out of existence the idea that the party itself, rather than one man, could be a threat to democracy. [...] And so, while Trump’s almost feral contempt for democracy and the rule of law represented a unique threat, the longer-term danger to the Republic was the institutional power of a movement that had never truly made its peace with democratic principles. DeSantis is a flawless sample of this belief system. [...] This dismissal of Trump’s project catastrophically misses its profound significance. He has recruited activists and candidates into the party inspired by his belief that Democratic election victories are inherently illegitimate. There is no longer any serious Republican effort to stop election truthers. Trump is winning the war for the heart of the party in a rout. Over the last year, the percentage of Republicans who describe the events of January 6 as a “riot” has declined from 62 percent to 45 percent, while the share who describe it as a “legitimate protest” has risen from 47 percent to 61 percent. What’s just as important as DeSantis’s longstanding suspicion of democracy and string of thuggish Orbanist maneuvers is his calculation that he can co-opt these same radical forces. The path to reconstituting the GOP as a party that we can entrust with the Republic involves shoving out at least some of its extremists while bringing the Never Trump wing back into the fold. DeSantis’s strategy is just the opposite. He has ignored the slice of Republicans who disdain Trump’s authoritarianism and courted anti-vaxxers, QAnon believers, and insurrectionists. And he has demonstrated repeatedly a “no enemies to the right” strategy that inevitably binds him to the party’s most fanatical elements. Whether a President DeSantis would be more or less dangerous than Trump is not a question I can answer with any confidence. Trump poses a greater danger of triggering an immediate constitutional crisis, while DeSantis is more likely to methodically strangle democracy through a series of illiberal Orbanist steps like he has modeled in Florida. I suppose the threat of a quick death is more dire than the threat of a slow one, but I have little confidence in projecting out these comparative dangers. The only meaningful conclusion I can make about the choice of Trump versus DeSantis is “neither.” (Jonathan Chait, New York Magazine)
Ich habe die Thematik ja auch schon im Podcast angebracht und sage es bereits seit Längerem hier im Blog: die Republicans sind keine demokratische Partei mehr. Sie sind daher grundsätzlich gefährlich. Natürlich gibt es in dieser Gefahr Abstufungen. Aber der Umgang mit 1/6 und die generelle Trumpifizierung weisen in eine eindeutige Richtung, und wie Chait kann ich nur feststellen, dass es einfach keine guten Optionen gibt. Aber: bevor Trump wiedergewählt wird, nehme ich jederzeit deSantis. Da besteht wenigstens die Hoffnung, dass er außenpolitisch kein so kompletter Blindgänger ist.
3) Fünf wirklich gute Klimanachrichten
Den bei Weitem größten Anteil an der rasanten Entwicklung von Offshore-Windenergie wird demnach China haben: bis 2030 entfällt der Prognose zufolge mehr als die Hälfte des globalen Wachstums im Bereich Offshore-Energie auf dieses Land. Auch Windenergie an Land wächst dort extrem schnell: Allein in diesem Jahr wird ein Onshore-Kapazitätszuwachs von 50 Gigawatt erwartet. [...] Auch Solarstromkapazität wächst in China rasant. Dem China Renewable Energy Engineering Institute zufolge kommt in dem Land allein im Jahr 2022 eine Kapazität von 100 Gigawatt dazu . Wenig überraschend: Sieben der zehn größten Hersteller von Fotovoltaikzellen haben ihren Sitz in China , und dort wird auch etwa 80 Prozent allen für Solarzellen nötigen Polysiliziums hergestellt . Auch das ist eine Folge europäischer Regulierungsfehler. Der einzige europäische Polysilizium-Hersteller in den Top 5 ist Wacker Chemie . Insgesamt wird China unterschiedlichen Prognosen zufolge allein in diesem Jahr erneuerbare Energiekapazitäten von 140 bis 154 Gigawatt zubauen. Das ist knapp dreimal so viel wie die gesamte derzeit installierte Fotovoltaik-Kapazität Deutschlands. Zusätzlich. In einem Jahr. Bis 2025 will China laut Fünfjahresplan insgesamt 570 Gigawatt erneuerbare Energiekapazität hinzufügen , also etwa halb so viel wie die Gesamtkapazität aller Kraftwerke der USA. Wenn das so weitergeht, prognostizieren die Fachleute von »Carbon Brief« , könnte China sein Ziel, den Gipfelpunkt seiner CO2-Emissionen zu überschreiten und den Ausstoß dann endlich zu senken, schon früher erreichen als geplant: 2026 statt 2030. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Diese Nachrichten sind zweifellos gut. Aber es ist auch ziemlich offenkundig, dass sie alle außerhalb Deutschlands passieren. Es muss einfach immer wieder gesagt werden: Schwarz-Gelb killte die Energiewende. Noch vor zehn Jahren waren CDU und FDP stolz darauf, dass die Beschäftigtenzahlen in der Photovoltaik und Windenergie massiv eingebrochen waren. Das verleugnen sie zwar heute, aber das ändert nichts an der Wahrheit. Die Energiepolitik ist das wohl größte Desaster, das uns Merkel hinterlassen hat, Resultat einer Schwarz-Rot-Gelb-Regierung. Es wäre an der Zeit, endlich umzustellen, aber die aktuelle Ampel-Politik ist nur marginal besser. Die Dimension der Herausforderung wird immer noch beharrlich ignoriert, und die 16 Jahre lang aktive Sabotage, die uns hinter den Stand von 2000 zurückgeworden haben, sind da echt keine Hilfe.
4) Adieu, liebe Schweiz: a foreign feminist’s farewell letter to Switzerland
The patriarchy in Switzerland has not even reached the stage where it realizes that maybe it shouldn’t be quite so complacent. Gender inequality’s principal defense is that women are so lucky to live in such a peaceful, prosperous, orderly country like Switzerland that criticizing troubling aspects (like xenophobia or sexism) is gauche. The “foreigners must be grateful, Swiss people too!” norm – combined with the tendency to “sweep problems under the rug” to avoid disharmony — works very well for those who benefit from it. It makes sense to defend the status quo if it has served you well. But for others, this element of the social contract is crushing. It is one thing for your rights to equality and dignity to be violated. It is another for people to refuse to acknowledge the violation – or worse, to suggest that it is justified for the greater good. It is a testament to the strength of the patriarchy in Switzerland that it has succeeded in defining the “greater social good” as the well-being of one half of the population while the “small price to pay” is just the “well-being” of the other half. Key to maintaining patriarchy in Switzerland is a tendency to shift the blame on the people who criticize it. You’re not happy? It’s your own fault! If you wanted a big career, why did you have children? If you did not not like traditional values, why did you move to Switzerland? If you didn’t want to be called arrogant, why did you ask for a promotion? If you did not want to be hurt by your husband, why did you insist on provoking him? If you wanted to be both a mother and have a career, why did you make this (single, minor) mistake? Selber Schuld! (Alexandra Dufresne, Ellex)
Ich habe mittlerweile aus verschiedenen Quellen gehört, dass die Schweiz relativ (also im (west-)europäischen Vergleich) noch ziemlich patriarchalisch unterwegs ist. An und für sich wenig verwunderlich wenn man bedenkt, wie lange es die Eidgenossen gebraucht hat, das Frauenwahlrecht einzuführen (1971, im letzten Kanton erst in den 1990er Jahren!). Ich habe wenig Bezug zum Land, deswegen hab ich keine große Idee, woran das liegen könnte. Aber ich würde mal vermuten, dass die Bedeutung des Bankensektors damit zumindest mal korreliert. Gibt es hier "Schweiz-Expert*innen", die da etwas mehr dazu sagen können?
Davon abgesehen zeigt sich hier einmal mehr, dass ein zu starkes Hinterhängen hinter gesellschaftlichem Wandel sowohl für Unternehmen als auch Volkswirtschaften ernsthafte Schäden nach sich ziehen kann. Wenn man qualifiziertes Personal verliert, weil man zu reaktionär unterwegs ist, ist das noch eine Sache, aber da hängen ja auch Opportunitätskosten dran, weil eine größere Unattraktivität ja manche Zuzüge überhaupt nicht passieren lässt. Die Schweiz ist von diesen Problemen sicher noch weit weg; wenige Länder in Europa sind für Zuwandernde attraktiver. Aber mittel- und langfristig können solche Prozesse schon zum Problem werden, mal ganz davon abgesehen, dass es ja auch für die Frauen in der Schweiz nicht so der Hit ist.
Der Vorsitzende des Philologenverbandes Baden-Württemberg, Ralf Scholl, plädiert für die Rückkehr zum Leistungsprinzip im Unterricht. "Was wir an unseren Schulen brauchen, und was gar nichts kosten würde, ist die klare Ausrichtung: "Leistung muss sich wieder lohnen", [...] "Schule ist ohnehin immer ein Schonraum, auch mit diesem Leistungsprinzip. Aber sie darf nicht zu einem alleinigen Schonraum verkommen," so der Chef des Lehrerverbands, der gymnasiale Lehrkräfte vertritt. "In viel zu vielen Schulen ist das Leistungsprinzip mittlerweile tabu!", heißt es in dem Beitrag. Herausragende Leistungen würden nicht mehr positiv hervorgehoben und als Orientierung für alle herangezogen. "Vielmehr ist seit einem guten Jahrzehnt 'das Nicht-Beschämen der Schüler' das Prinzip, an dem sich viel zu viele Lehrkräfte orientieren." [...] Lehrkräfte haben aus Scholls Sicht die Aufgabe, von den Schülern immer etwas mehr zu verlangen, als "von selbst" kommt: "Etwas mehr Tempo, etwas mehr Tiefgang." Das liefere den Kindern und Jugendlichen die nötigen Erfolgserlebnisse und stärke sie für ihr künftiges Leben. "Die Orientierung an anspruchsvollen Bildungszielen ist uns aber weitgehend verloren gegangen, sowohl für den Hauptschulabschluss wie für die Mittlere Reife und das Abitur", schreibt Scholl. [...] Er spricht von einer "Verachtung von Noten" an vielen Gemeinschaftsschulen. "Die Vergabe von vielen wertlosen Zeugnissen ist aber gerade kein Kennzeichen einer guten Schule oder eines guten Schulsystems!" (SWR)
Wann immer irgendwelche Lehrkräfte in den Medien den Zugang zum Gymnasium beschränken und seine spezielle Rolle erhalten wollen sind die Chancen sehr gut, dass sie vom Philologenverband sind (und älter, weiß und männlich...). Der Philologenverband lehnt auch alle pädagogischen und didaktischen Neuerungen weitestgehend ab. Er ist gegen Digitalisierung, er ist gegen alternative Prüfungsformen, er ist gegen neue Bildungspläne - konservativ eben. Aber der Philologenverband ist auch, anders als die GEW, eine effektive Gewerkschaft. Er ist ständig in den Medien vertreten, hat enorme politische Wirkmacht und beherrscht das Spiel des politischen Framings erstklassig.
Kommen wir zum "Leistungsprinzip". Es ist ein Beispiel für die Framing-Fähigkeiten des Verbandes. Was damit gemeint ist: das zentrale Abprüfen spezifischer Inhalte und Kompetenzen durch Tests, bei denen eine Normalverteilung erzielt wird. Ich halte davon bekanntlich nicht viel, aber es ist eine valide Position. Das Framing ist aber deswegen so effizient, weil es dem Philologenverband gelingt, diverse unterschwellige Prämissen mitlaufen zu lassen: jede Reform untergrabe das "Leistungsprinzip", wer etwas anderes will "verschenkt" Noten, nur ihre Ansicht hält das "Niveau" aufrecht. Das ist Grütze. Aber es funktioniert. Und die Gegenseite ist super mies darin, das zu kommunizieren.
6) Der deutsche Sozialstaat ist festanstellungssüchtig
Die Folgen hat man schon während der Pandemie erkennen können, wo insbesondere Soloselbständige in so vielen Bereichen geradezu lächerlich behandelt wurden, während viele Großunternehmen per Kurzarbeit solide durch die Pandemie getragen wurden. Aber auch die Gesetzeslage ist in so vielen Facetten schlicht selbstständigenfeindlich. [...] Außer für Selbstständige, für die gibt es keinen Mutterschutz oder »Urlaub« und natürlich auch keine Fortzahlungen. Privat versicherte Selbstständige bekommen in der Regel nicht einmal Mutterschaftsgeld. Aber auch gesetzlich versicherte Selbstständige bekommen es nur dann, wenn sie einen besonderen Tarif abgeschlossen haben. So geht es weiter und weiter, man darf sich gar nicht zu intensiv damit beschäftigen, sonst fragt man sich, wie Selbstständige überhaupt bisher Kinder bekommen und warum alleinstehende selbstständige Mütter nicht schon längst alles angezündet haben. [...] Nebenbei können nur so, mit dem positiven Fokus auf Selbstständigkeit und Gründungsgeist, auch die Neugründungen entstehen, die am Anfang ganz klein sind und irgendwann den Kontinent ernähren. Und deshalb ist Selbstständigkeit, insbesondere in Netzwerken, verbunden mit Mischformen aus Festanstellung und Selbstständigkeit, die Arbeitsform der Zukunft. Eigentlich schon der Gegenwart, aber die braucht in Deutschland ja immer etwas länger als woanders. Denn Deutschland kann so reich sein, wie es will – das mit Abstand größte deutsche Vermögen bleibt das Beharrungsvermögen. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
Die von Lobo hier dargestellte Problematik bezeichnet man als "Pfadabhängigkeit". Der deutsche Sozialstaat wurde in den 1870er Jahren auf dem Prinzip der Sozialversicherung durch Normalarbeitsverhältnisse aufgebaut, und auf diesem "Pfad" hat er sich seither immer bewegt. Der größte Teil der Arbeitnehmenden ist in den Versicherungen inkludiert, finanziert den Sozialstaat durch seine Beiträge und profitiert davon. Alle anderen sind raus: Beamte, weil der Staat eine Fürsorgepflicht hat; Frauen und Kinder, weil die konservative Kernfamilie sie versorgt; Selbstständige, weil die ihre eigenen Versorgungswerke haben. Zumindest in der Theorie.
Es ist unmöglich, von diesem Pfad signifikant abzuweichen (alle potenziellen Rentenreformer*innen können davon ein Lied singen, ebenso wie die Agenda2010-Verantwortlichen), aber die gesellschaftlichen Änderungsprozese machen immer mehr erforderlich, dass zusätzliche Maßnahmen eingeführt werden, weil die Zeiten, in der die meisten Männer in Fabriken malochten und die Frauen den Haushalt machten irgendwie vorbei sind. Man nehme für solche Maßnahmen nur die Mütterrente als Beispiel, die vorhandene Versorgungslücken stopft, indem sie neue Berechtigte schafft - aber halt leider keine Einnahmen generiert. Die Selbstständigen sind in diesem System ebenfalls nicht vorgesehen, weil sie politisch zersplittert sind und über weite Strecken der deutschen Geschichte keine sozialpolitisch relevante Größe waren.
Das hat sich mittlerweile geändert. Nirgendwo wurde dies deutlicher als in der Pandemie, wo der deutsche Staat vor allem zwei Gruppen sträflich vernachlässigte: Selbstständige und Familien. Beide sind es gewohnt, was die Sache nicht eben besser macht, und wer das riesige Pech hat, zu beiden Gruppen zu gehören (viel Glück, selbstständige alleinerziehende Mutter im vierten Schwangerschaftsmonat) ist mal so richtig gearscht, um es drastisch auszudrücken. Und es gibt offensichtlich politikseitig keinerlei Interesse daran, die Lage der Selbstständigkeit zu verbessern. Das ist einerseits verständlich - Pfadabhängigkeit und so - aber andererseits eine grobe Unterlassungsleistung.
7) Nato’s “comeback” pivots on America’s troubled politics
Biden declared in Madrid that the US would support Ukraine for “as long as it takes” and proclaimed that Vladimir Putin wanted “the Finlandisation of Nato, but he got the Natoisation of Finland”. In many respects that makes him a good president for this moment. Yet it also makes him an artefact of a passing age, a last hurrah for the transatlantic relationship more than a harbinger of its reinvigorated future. And for that line of argument, American politics is churning out ever-more evidence. The Supreme Court’s decision to revoke the federal right to abortion is just the latest example of a system collapsing into polarisation and dysfunction. It is a reminder of how, though American demographics are tilting towards the left (liberal cities, diverse populations and millennial and post-millennial social values), the hard right’s superiority when it comes to ruthless political audacity is going from strength to strength. And as that superiority grows, so too do the chances of a total political breakdown in the US. [...] The fundamental truths are these. Nato is virtually nothing without US power. And US power rests on the stability and consensus of US society. And the stability and consensus of US society are crumbling. And so for all that the alliance is back, and for all that is a good thing, its return is extremely perilous. And sooner or later Team Nato will have to stop celebrating its own comeback and face up to that fact. (Jeremy Cliffe, New Statesman)
Cliffe spricht hier ein außenpolitisch weiterhin sehr reales Problem an. Bidens Wahl hat uns in Europa, besonders aber Deutschland, eine kurze Atempause gegebene. Mehr aber auch nicht. Wenn die Republicans wieder an die Macht kommen, stehen uns wieder sehr unruhige Fahrwasser bevor, und sollte Trump noch einmal Präsident werden, haben wir ein richtiges Problem. Hat irgendjemand das Gefühl, dass die Bundesrepublik im Speziellen oder Europa im Allgemeinen sich darauf angemessen vorbereiten? Ich nicht. Weitgehend scheint nicht einmal das Problem anerkannt zu werden. Das kann noch heiter werden. Die Polikrise wartet nicht.
8) How Do You Solve a Problem Like Donald Trump?
By this point, there appears to be more than enough evidence in the public record to justify the prosecution of the former president. The question is whether seeking his indictment would be wise—and on that issue, I reluctantly, but firmly, come down on the side of No. [...] The case for indicting Trump comes down to the claim that it should be illegal to attempt the overthrow our democracy by disregarding the outcome of an election, and there should be severe legal consequences for doing so. Otherwise Trump himself (and other would-be tyrants to follow) will be emboldened to try it again. This is a powerful argument. [...] But of course this isn’t realistically achievable. The line between law and politics is permeable. Laws are made by politicians, and prosecutors are either elected or appointed by those who are. [...] The rule of law itself would be on trial in any prosecution of Donald Trump, and I’m not at all sure it would end up exonerated in the eyes of tens of millions of Americans. The additional damage to our capacity for self-government could be considerable. [...] Donald Trump is at bottom a political problem. Which means he can’t be defeated in a courtroom. He needs to be taken down at the ballot box by such a wide and indisputable margin that it’s impossible to mistake him for anything other than a loser. If we can’t accomplish that, then the fact that he’s eluded conviction and a jail sentence will be the least of our problems. (Damon Linker, Eyes on the Right)
Ich habe das hier im Blog schon öfter geschrieben: ich bin völlig Linkers Meinung. Die Idee, dass man das Problem Trump et al durch juristische Verfolgung lösen könnte, ist einerseits hoffnungslos naiv und andererseits hochgradig gefährlich. Vielleicht denke ich da zuerst als Historiker, aber was Cäsar wie nichts anderes motivierte, den Rubikon zu überschreiten, war die juristische Verfolgung, die er zuhause zu befürchten hatte. Man sollte seine Gegner nicht in die Ecke drängen, wenn man nicht fähig und entschlossen ist, sie dann auch zu erledigen, und eines ist sicher: die Democrats wie die demokratischen Institutionen sind weder fähig noch entschlossen.
Selbst unter den besten Umständen aber wäre mit einer republikanischen Retourkutsche zu rechnen, ganz egal, wie berechtigt das Vorgehen gegen Trump ist und wie sehr es der Partei selbst eigentlich helfen würde. Die GOP hat ja sogar bereits damit angefangen; man denke an Benghazi oder den (glücklicherweise dilettantischen und fehlgeschlagegenen Versuch, Hunter Biden anzugreifen). Man muss ihnen nicht auch noch Munition liefern. Insgesamt führte dieses Vorgehen zu einer massiven Destabilisierung des amerikanischen politischen Systems, und das brauchen wir gerade wirklich nicht auch.
9) American Government-by-Lawsuit Is a Disaster
In the first place, courts also have no particular incentive to be responsive to the constitutional rights of prisoners, or anyone else for that matter. It’s not like the people in federal courtrooms fill out an exit survey after some verdict has been rendered. Indeed, judges and justices virtually never get punished for gross abuse of the legal process, or even abject senility. [...] More importantly, the American court system in general and the Supreme Court in particular have been central architects of a gulag-scale system of mass incarceration without parallel in the rich world—and that goes back long before the Rehnquist Court. [...] All that is just scraping the surface of appalling Court precedent on criminal justice matters. The rights “enjoyed” by the millions of American prisoners are just about the worst possible evidence in defense of judicial review that could be imagined. [...] A major reason why American infrastructure costs so much, for instance, is that most big proposals are instantly swarmed with lawsuits from any interested party, which invariably raises costs due to the expense of lawyers and fees. Then, because courts move at a snail’s pace at the best of times and provide innumerable mechanisms for participants to drag the process out even more, construction is delayed, further jacking up the cost of financing, materials, and labor. Similarly, a core reason why federal rulemaking has become incredibly sclerotic is the blizzard of lawsuits that buries any rule that does anything good. Agencies have thereby been beaten into a defensive crouch, and spend years and huge amounts of money attempting to lawsuit-proof their work against any possible attack. (Ryan Cooper, The American Prospect)
Ich sehe diesen Artikel vor allem als Ergänzung meiner Kritik aus dem letzten Vermischten. Der Supreme Court maßt sich eine Rolle im politischen Prozess an, die er nicht haben sollte und die fundamental undemokratisch ist. Dieses Phänomen ist wahrlich nicht auf die USA begrenzt; wir haben die Debatte mit dem BVerfG bereits hierzulande seit, was, 30 Jahren? 40? Der politische Prozess sollte in den Händen derjenigen Gewalt sein, die dafür gewählt und legitimiert ist. Weder Regierung (noch so ein Trend) noch Judikative sollten diese Rolle usurpieren. Nicht, dass die Parlamente da nicht unschuldig wären; die Abtretung von Verantwortung läuft ja auch schon sehr lange. Aber so langsam wird es problematisch.
10) Reingefallen!
Nun ist die Konfrontation mit einer solchen Pokerpolitik natürlich eine Herausforderung. Für die FDP vor allem taktisch, weil sie in steter Sorge lebt, die Union könnte ihr die letzten konservativ gestimmten Wählerinnen abspenstig machen. Für die Grünen liegt die Herausforderung wiederum zuvorderst im Moralischen. Schließlich treffen sich bei den Grünen ausnehmend viele vernunftorientierte Menschen, die gern gewissenhaft über Lösungen sprechen möchten und am Ende gewinnt das bessere Argument. Auf Provokationen, Polemik oder, wie in Söders Fall, hochkonzentrierten Quatsch reagieren sie (wie man schon im Wahlkampf hervorragend studieren konnte) unsouverän, empört ob der Bösartigkeit. Die Sache ist nur: Empörung ist genau das, was Söder bezweckt. Seit die Union in Berlin in der Opposition ist und Markus Söders Beliebtheitswerte höchstens noch mittelprächtig sind, befindet sich der bayerische Ministerpräsident auf einer öffentlichen Selbstsuche. Er verfügt nicht länger über einen Hebel, über den er aus Bayern die Bundespolitik prägen kann, seinen kurzzeitigen Seriositätsanfall als Spielmacher des Teams Vorsicht hat er erfolgreich überwunden und braucht nun vor allem eins: Aufmerksamkeit. Und weil Söder Söder ist, ist ihm dafür keine Provokation zu plump, Hauptsache, es knallt. Ob es Söder allerdings auch in Zukunft gelingen wird, aus Bayern die Berliner Debatten zu bestimmen, hängt weniger von der Genialität seiner Wortneuschöpfungen ab als von der Frage, ob die Regierungsparteien auch in Zukunft jedes Mal ins kollektive Wettentrüsten verfallen, wenn Markus Söder sich entscheidet, ein Interview zu geben. Nicht jeden Unsinn muss man entkräften, nicht bei jeder Provokation muss man "Populismus" rufen, denn ganz grundsätzlich gilt: Einen Markus Söder darf man nicht ernster nehmen, als er sich selbst nimmt. (Robert Pausch, ZEIT)
Nur als Referenz, wovon Pausch redet. Söder fordert: "Wir brauchen massive Steuersenkungen:flachere Tarife bei der Einkommensteuer, die massive Senkung der Mwst auf Strom, Benzin, Heizen und Nahrungsmittel. Zudem ein 365-Euro-Jahresticket für ÖPNV in ganz D, Tankrabatt für den ganzen Winter und ein Winter-Wohngeld für alle Haushalte", und gleichzeitig die Einhaltung der Schuldenbremse. Das ist so offenkundig Bullshit, ich bewundere seine Fähigkeit, das ohne rot zu werden rauszubekommen. Jeder weiß, dass es Bullshit ist. Und alle tun so, als wäre es irgendwie ernstzunehmen. Demokratische Rituale, man muss sie einfach lieben.
Resterampe
a) Ich weiß nicht recht warum, aber ich habe das Gefühl war zur Lindner-Hochzeit sagen zu müssen. Ich hab null Problem damit. Wäre ich Lindner, würde auch auf Sylt heiraten. Wäre ich Merz, würde ich auch meinen eigenen Privatjet hinfliegen (ich meine, wie cool ist das denn). Meine einzige Kritik ist eine, für die Lindner nichts kann: wenn Baerbock auf Sylt geheiratet hätte, und wenn ihre Sicherheitsleute den Steuerzahler*innen deswegen Kosten verursacht hätten - we wouldn't hear the end of it. Dieser Doppelstandard gehört angeprangert. Aber Lindner wünsch ich in seiner Ehe alles Glück der Welt, und hoffentlich hatte er ne schöne Party.
b) Dass Boris Johnson je PM werden konnte ist einfach Irrsinn.
c) Ja, es gibt keinen Ausweg, aber das kann es doch wohl einfach nicht sein.
d) Autojustiz, ein weiteres der unendlich vielen Beispiele von Rechtsbeugung zugunsten der Autofahrenden in Deutschland.
e) Historischer Rückblick auf die Inflation der 1970er und den Volcker-Schock.
f) Gender-Debatte als konservative Identity-Politics, Tory-Edition
g) Die Beliebtheitsfrage bei der US-Präsidentschaftswahl ist auch nur noch eine Frage, wer unbeliebter ist.
h) Wenn schon Michael Hüther ein Umdenken fordert...
i) Der Ukrainekrieg gefährdet den Kohleausstieg. Die CO2-Steuer reicht nicht mehr aus. Wie ich immer sagte: tolles Instrument, aber muss zwangsläufig politisch flankiert werden.
j) Die Bestechungsgelder aus den Maskendeals dürfen natürlich behalten werden, weil der Bundestag sich immer noch weigert, die Regeln endlich umzusetzen.
k) Musst erst mal schaffen, dich darüber aufzuregen, dass auf Jeffersons PLANTAGE die SKLAVEREI thematisiert wird.
l) Bothsiderismus, 1941-Edition.
m) Die Telekom verkauft das Funkmastennetzwerk an zwei Investoren aus Nordamerika und man muss sich fragen ob wir bezüglich Resilienz und kritischer Infrastruktur überhaupt nichts gelernt haben.
n) Das Sofortprogramm der Regierung sieht so schlecht gar nicht aus; ich bin besonders erfreut darüber, wie offen Wissing gegenüber vernünftigen Maßnahmen ist (egal wie unzureichend).
o) Wohl wahr.
p) Ich werfe ja bei den reflexhaften Forderungen nach Schuldenabbau und Steuersenkungen seitens CDU und FDP gerne vor, dass jedes Problem wie ein Nagel aussieht, wenn man nur einen Hammer hat. Hier haben wir ein schönes Beispiel für das linke Äquivalent. Die grüne Version ist wohl, als Antwort überall ein Tempolimit zu fordern.
q) Korrekte Erklärung der Framing-Probleme von Fachkräftemangel und Vollbeschäftigung.
r) Gute Erklärung zur Schwarzfahrthematik.
s) Thread zur Radikalisierung der Ökonomen.
t) Als Nachtrag zu Boris Johnsons Zerstörungsorgie aus dem letzten Vermischten hier noch die Hochschullandschaft.
u) Als Nachtrag zu unserer Debatte im Podcast über den relativen Konservatismus der USA diese Karte. Ich halte es angesichts der starken Unterschiede auf bundesstaatlicher Ebene aber weiterhin für eine weitgehend sinnfreie Kategorisierung.
v) Die mangelnde Regulierung der Robocalls und der Schaden, den sie in den USA anrichten. Spannende Analyse.
w) Dieser drop off von Schüler*innen an einer US-Schule ist jenseits von absurd.
x) Autoland Deutschland, Fahrtkostenerstattungsedition.
y) Das Verwaltungsgericht hat eine Lehrerin rechtskräftig wegen absichtlichem Unterlaufen der Corona-Maßnahmen verurteilt. Wichtiges Signal.
z) Marc Buschmann erkennt die Wirksamkeit von Masken in Innenräumen an und bereitet schon mal auf eine Wiedereinführung der Maskenpflicht im Herbst vor. Gut, dass die Vernunft da einkehrt.
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