Montag, 4. Juli 2022

Ohne Lehrkräfte können Abtreibungen in der Ukraine nur noch mit Maske und Leitungswasser vorgenommen werden - Vermischtes 04.07.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Lehrermangel und größere Klassen – konsequente Vernachlässigung

Fakt ist also insgesamt, dass der Bildungssektor ein Personalproblem hat. Dieses verschärft sich, wenn man hinzuzieht, dass ein Drittel der Junglehrkräfte (!) die Schulen bereits nach fünf Jahren wieder verlässt. Ein Viertel aller (!) angehenden Lehrerinnen und Lehrer leidet unter Burn-Out-Symptomen. [...] Dass die Behebung von systematischen Problemen dieser Art politisch mithilfe von Symptom- statt Ursachenbekämpfung angegangen wird, sollte nicht verwundern. Also versuchen wir an dieser Stelle, die bisherigen Ideen nachzuvollziehen: So schlug der Baden-Württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) vor, die Mindestarbeitszeit für Teilzeit-Lehrkräfte zu erhöhen, um den Mangel an Schulen zu bekämpfen. So würden sofort 1.000 Stellen entstehen, denn die dazukommenden Stunden können ja wieder weiter verteilt werden. So die Argumentation. [...] Der weitere Vorschlag der Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, Karin Prien (CDU) klang schon an. Die Klassen sollen vergrößert werden. Auch das ist aus politischer Perspektive konsequent: Nur ein oder zwei Schüler*innen mehr in den Klassen, schon braucht man weniger Personen. “Schon ein Schüler mehr pro Klasse würde viel bringen. Auch wenn das oft bezweifelt wird: Aus Sicht der Unterrichtsforschung ist die Klassengröße in den meisten Fächern nicht relevant für die Lernergebnisse der Schüler.”, so die Bildungsforscherin Thiel in einem Interview mit der ZEIT. [...] Wenn alle Schüler*innen zur selben Zeit, in der selben Geschwindigkeit, zur selben Frage die selbe Antwort, am selben Ort geben sollen, dann spielt die Klassengröße in der Tat keine Rolle. Aber ich hatte die schon zitierten Ansprüche an die Lehrer*innen nicht so verstanden, dass wir ab jetzt nur noch Youtube-Videos abspielen. Denn dann, ja dann ist die Klassengröße egal. Lasst uns doch die gesamte Schule vor ein Video setzen, dann brauchen wir nur einen Lehrer! (Bob Blume)

Inzwischen ist die Teilzeit-Idee schon wieder vom Tisch; Kretschmann hat mal Expert*innen gefragt und festgestellt, dass das kaum zusätzliche Deputate bringen würde (das hätte ich ihm auch sagen können, aber hey, hauptsache mal dumm dahergeredet). Gleiches dürfte für die Vergrößerung der Klassengröße gelten. Aber um diese beknackten Vorschläge, die alle nur Symptombehandlung sind und das dahinterliegende Problem - den Lehrkräftemangel und die hohen Abbruchraten - überhaupt nicht angehen, sind eh nur politische Nebelkerzen.

Krasser finde ich die zitierten Zahlen. Das Vorurteil der mit Burnout in Frühpension gehenden Lehrkräfte ist ja seit Jahrzehnten verbreitet (ohne dass mal jemand fragen würde, warum das so ist und was dagegen tun würde, da werden atemberaubende Personalressourcen verschwendet), aber wenn Junglehrkräfte in diesen Raten abbrechen, dann muss das eigentlich ein absolutes Alarmsignal sein. Sie sind schließlich eigentlich die belastbarsten, und was man so von Kritiker*innen hört muss der Job ja eigentlich ein abgesichertes Schlaraffenland sein.

Am wichtigsten aber ist Blumes letzter Punkt hier: Klar sind die Klassengrößen recht egal, wenn man schlechten Einheitsunterricht macht. Aber einerseits steigt die Arbeitsbelastung von Lehrkräften mit jedem/jeder zusätzlichen Schüler*in an (Stichwort Korrekturen) und andererseits rauben zusätzliche Schüler*innen in den Klassen die Möglichkeit für genau das, was eh viel zu kurz kommt: individuelles Feedback und vernünftiges Lernen. Aber da die gleichen Leute, die das fordern, auch der Überzeugung sind, dass Schüler*innen dadurch etwas erlernen, dass es im Bildungsplan steht, verwundert das nicht weiter.

2) The Other Big Lessons That the U.S. Army Should Learn from Ukraine

Europe Over Asia. For the past several years, the Army has spent untold energy on justifying its relevance in a potential war with China. Without question, the Army would provide essential support for any war in the Pacific, including theater logistics and engineering, air and missile defense, and potentially long-range fires. But its new concept of multi-domain operations emphasizes offensive operations, especially in the Indo-Pacific. Yet as the chairman of the Joint Chiefs of Staff has noted, the Indo-Pacific is primarily an air and maritime theater, which necessarily limits the Army’s ability to employ its ground maneuver forces there. [...] No Place to Hide. Since February 24, Russian forces in Ukraine have become bright butterflies pinned to the world’s display board. The explosion of open-source intelligence — the vast array of social-media posts, smartphone photos, commercial drone videos, and cheap commercial satellite imagery — has revealed the precise locations of Russian military forces in ways that are unprecedented in the annals of warfare. [...] Rotary Wing at Risk. [...] Both sides have suffered enormous helicopter losses so far — with the Russians alone believed to have lost more than 170 helicopters to date. That compares with fewer than the 75 U.S. helicopters lost in combat during two decades of fighting Iraq and Afghanistan — far less deadly conflicts where the enemy had no air force and virtually no shoulder-fired missiles, much less swarms of lethal drones or advanced air defenses. [...] Exercise to Reality. [...] That means that the Army must figure out how to weather steep losses in soldiers, aircraft, and armored vehicles of all types while continuing to fight effectively. The U.S. military actively prepared for this eventuality during the Cold War, since a massive Soviet invasion of Western Europe would have inevitably caused enormous attrition. But the plans and skills required to adapt and effectively continue to fight in such a grim situation eroded quickly after the collapse of the Soviet Union and were never required in Iraq or Afghanistan. [...] Double Down on Security Force Assistanc. One of the clear success stories in Ukraine is the degree to which the U.S. military has helped strengthen the Ukrainian military since the 2014 Russian annexation of Crimea. In an effort that largely went unnoticed by the media and most military observers alike, a wide range of U.S. forces has quietly rotated in and out of Ukraine to train its military. These efforts have included training in both conventional and unconventional tactics, in using advanced U.S. weaponry, and in professionalizing its officer and NCO corps. (/, War on the Rocks)

Ein sehr spannender Artikel, den ich interessierten Lesenden nur zur gänzlichen Lektüre empfehlen kann. Besonders auffällig fand ich "Europe over Asia", weil bis zum russischen Überfall auf die Ukraine ja der "Pivot to Asia" galt. Wenn sich das US-Militär künftig tatsächlich auf beiden Feldern breit aufstellen will - gegen China und Russland - stehen da einige Umstrukturierungen bevor. Die Einrichtung eines permanenten Hauptquartiers in Polen, lange diskutiert, weist ja schon in diese Richtung. Es muss auch zwangsläufig mit Reduzierungen von US-Engagement in anderen Regionen einhergehen, und das kann nach Lage der Dinge nur  den Mittleren Osten betreffen.

Ebenfalls häufig unterschätzt scheint mir, dass die Taktiken der Armeen weitgehend aus asymmetrischen Konflikten herrühren. Gerade das mit den Hubschraubern zählt da rein; seit Vietnam ist die US-Armee ja gewohnt, viel mit Helikoptern zu machen. Ich habe keine Ahnung wie die NATO-Pläne zur Verlegung größerer Verbände nach Osten für den Ernstfall aussehen, aber ich kann mir gut vorstellen, dass die Logistiker*innen bei den Armeen gerade rauchende Köpfe haben wie zuletzt beim Durchrechnen des Schlieffen-Plans. Das ist an Komplexität ja kaum zu überbieten; die zu erwartende Front verläuft ja nicht mehr in der norddeutschen Tiefebene, sondern ein paar hundert Kilometer weiter östlich in Ländern, die nicht gerade riesig sind.

3) „Leitungswasser ist immer Mineralwasser vorzuziehen“

Die Deutschen haben ein gespaltenes Verhältnis zum Leitungswasser. Immerhin 65 Prozent der 18- bis 64-Jährigen trinken laut des Statista Global Consumer Surveys regelmäßig Wasser, das in Flaschen abgepackt ist. In Ländern wie Frankreich, der Schweiz, Österreich, Dänemark oder den Niederlanden sind es deutlich weniger. Dabei sparen wir Geld, Plastik und müssen keine Kästen schleppen, wenn das Trinkwasser aus der Leitung fließt. [...] Deutschlands Trinkwasser ist ausgezeichnet, loben Verbraucherzentrale und Stiftung Warentest einstimmig. Die Behörden kontrollieren engmaschig und streng. [...] In den großen Wasserversorgungsgebieten mit Tausenden Abnehmern muss das Trinkwasser teils mehrmals täglich untersucht werden. Die Standards dafür legt die Trinkwasserverordnung fest. „Insgesamt wird bei den meisten Parametern der Grenzwert zu mehr als 99 Prozent eingehalten“, sagt Eckhardt. Auch Wasserexperte Rinke plädiert für das Wasser aus dem Hahn: „Leitungswasser ist immer Mineralwasser vorzuziehen. Es ist das am besten kontrollierte Lebensmittel überhaupt.“ (Svenja Gelowicz, Wirtschaftswoche)

Ich kenne so viele Leute, die nur abgepacktes Wasser trinken, weil sie dem Leitungswasser nicht trauen - eine unglaubliche Verschwendung von Geld und Plastik. Ich glaube, das ist mal wieder eines dieser Felder wo der Staat einfach gut daran täte, ein Budget für Eigenwerbung bereitzustellen und einfach mal eine Informationskampagne durchzuführen. Plakatwerbung, Fernsehspots, Werbung in den Social Media, das ganze Programm. Einfach nur dadurch, dass man das überhaupt zum Thema macht, könnte man hier glaube ich ziemlich große Verschiebungen erzielen.

4) The Anti-Abortion Movement Is Not Going to Start Caring About Families Now

Is there any sign that this could change? Consider the negotiations around the child tax credit. The American Jobs Plan created an enhanced benefit for families, which has proven to be one of the most successful social experiments in recent U.S. history by reducing child poverty by one-third. The measure, however, has failed to attract any Republican support and expired this year. Mitt Romney has tried to recruit members of his party to support a newer, bipartisan version of the plan. He unveiled his idea last year. The Niskanen Center, which helped Romney design the proposal, boasted that it would reduce the child-poverty rate from 12.41 percent to 8.37 percent. However, the measure was too generous to low-income families to attract any Republican support in Congress. So, recently, Romney retooled his plan and rolled out a newer version. The second, stingier version would, according to Niskanen, reduce the child-poverty rate to 10.8 percent. In other words, according to its own advocates, the new plan would be less than half as effective as the old one. In return for these concessions, Romney has gained a total of two Republican supporters in the Senate. If Romney wants to win enough Republicans to join with the Democrats and break a Republican filibuster, he will have to give back even more, and there’s hardly anything left to give back. [...] But nothing about the Dobbs decision hastens the creation of such an alliance. To the contrary, abortion is becoming more salient, and centripetal forces that held together the conservative alliance will be stronger rather than weaker. Abortion opponents will fight battles in every state and in every Congress for the foreseeable future. They have no incentive to break with the allies who have stood with them for decades. Now they will ask Republicans to accept higher levels of political risk to enact abortion restrictions that were previously off the table and which risk blowback against the party. They need the anti-government right more than ever. (Jonathan Chait, New York Magazine)

Let's be real: Wer war schon je "magnanimous in victory"? Ich erwarte das nicht von Republicans und würde es auch nicht von den Democrats erwarten; die haben ja das Weiße Haus auch in Regenbogenfarben angestrahlt, als Obergfell entschieden wurde. Nein, der victory leap ist absolut zu erwarten, genauso wie der Impuls, den Sieg als Wegmarke und nicht als Ziellinie zu sehen und weiterzupushen, solange bis die Gegenkräfte zu stark werden. Das ist die völlig normale Dynamik des Politikbetriebs.

Ich sehe für die Republicans genauso wie Chait auch keinen Grund für radikalen Ideologiewechsel. Warum sollten sie sich plötzlich um das Schicksal armer Menschen kümmern? Das ist eine völlig verblendete Hoffnung. Um im Bild zu bleiben: nach Obergfell gab es auch keine Welle der Sympathie für Evangelikale bei den Democrats, die plötzlich das Schulgebet als Trostpflaster für die Homo-Ehe eingeführt hätten. Es ist eher eine Verhärtung zu erwarten, schließlich hat die eigene Haltung gerade gesiegt.

Auch die von Chait angesprochenen internen Widersprüche waren schon immer da. Ich habe da vor Urzeiten schon mal drüber geschrieben, und das bleibt eigentlich grob weiterhin korrekt. Jede Partei hat Flügel, und Parteien von dieser Größe schon gleich zweimal. Dass diese sich widersprechen halten solche Organisationen eigentlich aus; man hat ja eine gemeinsame Mission und (in diesem Falle) ein gemeinsames Feindbild, das verbindet. Da kann man schon mal über andere Streitfälle hinwegsehen und "agree to disagree" sagen. Anders würde die Politik ja völlig zerfallen und sich in einer ständigen Totalblockade befinden.

5) Der Plan der Hochschulrektoren (Interview mit Anja Steinbeck und Peter-André Alt)

Also eine 10- statt einer 12-Jahres-Regelung?

Steinbeck: Die 12-Jahres-Regelung war eigentlich eine 6+6-Regelung, maximal sechs Jahre bis zur Promotion und weitere sechs für die Postdoc-Phase. Davon wollen wir weg. Es gibt Fächerkulturen, etwa in den Naturwissenschaften, in denen geht die Promotion bisweilen deutlich schneller als sechs Jahre, weil man sie im Rahmen eines großen Forschungsprojekts macht. Dafür benötigen die Menschen vielleicht als Postdoc länger, um ihr eigenes wissenschaftliches Feld zu finden. All das sollte unseres Erachtens möglich sein – solange ein Jahrzehnt insgesamt nicht überschritten wird. Wenn jemand mit etwa 25 seinen Master hat, lautet also die Idee: Mit 35 hat er oder sie Klarheit, wie es in ihrem Leben weitergeht. [...]

Wie lang soll die [Laufzeit der Befristung] sein?

Steinbeck: Über die Laufzeit sind wir uns, Stand heute, noch nicht einig. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass wir es bis nächste Woche sein werden. Ich persönlich halte drei Jahre für angemessen. Man könnte es auch abhängig machen von der Disziplin. Ich bin jedenfalls der Meinung, dass die Promotionszeiten in Deutschland insgesamt zu lang sind und man keine Anreize setzen sollte, sie weiter zu verlängern. [...]

Dann müssen Sie aber auch ehrlich sagen: Das wäre das Ende der Habilitation.

Steinbeck: Tenure Track und Habilitation müssen sich aber auch nicht zwangsläufig beißen. Ich würde mal behaupten, in den Rechtswissenschaften sind Promotion und Habilitation in zehn Jahren durchaus möglich und wenn man das nicht schafft, bleibt ja noch die W1. 

Wenn Sie es in den zehn Jahren aber nicht schaffen, fliegen Sie mit einer fast fertigen Habilitation und ohne Tenure Track aus dem Wissenschaftssystem. 

Steinbeck: Wir haben in Düsseldorf juristische Juniorprofessuren mit Tenure Track, auf denen können Sie sich parallel habilitieren. Das geht schon.

Alt: Wenn man das nötige Stellengerüst dafür hat. (Jan-Martin Wiarda)

Das alte System ist völlig kaputt, darüber braucht man überhaupt nicht sprechen, aber die hier vorgestellten Reformen sorgen halt endgültig dafür, dass die akademische Karriere eigentlich nur Oberschichtenkindern zur Verfügung steht. Die Sprache von Steinbeck und Alt ist da auch auffällig. "Klarheit im Leben haben" ist natürlich schön, aber wenn ich Leuten sage "ab jetzt bist du arbeitslos und die letzten 10 Jahre waren für den Popo" ist das zwar Klarheit, aber keine, die sich irgendwer wünscht. dasselbe gilt für die "Anreize", die man nicht setzen will. Als ob das Problem wäre, dass Doktorant*innen es so toll finden, sich von befristeter Stelle zu befristeter Stelle zu hangeln! Das Problem sind nicht die Anreize, sondern das zugrundeliegende Defizit. Es ist die gleiche Symptombekämpfung, die wir in Fundstück 1 für die Schulen gesehen haben. Man macht diese Dinge, damit man das eigentliche (teure, aufwändige) Thema nicht angehen muss und wälzt die Verantwortung nach unten ab.

6) Die größten Wasserschlucker Deutschlands

Mit insgesamt rund 500 Millionen Kubikmetern Wasser pro Jahr gehören die Tagebaue von RWE zu den Spitzenreitern – sie verbrauchen so viel wie rund elf Millionen Bürgerinnen und Bürger. Aber ans Einsparen denkt der Essener Konzern nicht: „Die größte Wassersparmaßnahme ist der Kohleausstieg“, so ein Sprecher auf Anfrage. Mit jedem nicht mehr betriebenen Kraftwerksblock sinke der Bedarf. Mit anderen Worten: Frühestens mit dem geplanten Kohleausstieg im Jahr 2030 können die von RWE verwendeten Wasserquellen wieder für Trinkwasser oder die Bewässerung von Feldern mit Weizen, Salat oder Kartoffeln genutzt werden. Bis dahin zahlt der Konzern nach eigenen Angaben höchstens fünf Cent für einen Kubikmeter Trinkwasser oder auch das ebenfalls aufbereitete Brauchwasser. Bürgerinnen und Bürger zahlen für dieselbe Menge Trinkwasser durchschnittlich knapp vier Euro. [...] Ein Grund für diese Verschwiegenheit könnte sein, dass BASF nahezu nichts für einen Kubikmeter Wasser, also 1.000 Liter, leisten muss: Insgesamt zahlte der Weltkonzern nach Angaben des rheinland-pfälzischen Umweltministeriums im Jahr 2020 rund neun Millionen Euro – also weniger als 0,75 Cent pro Kubikmeter. Sein Konkurrent Alzchem, der an vier Standorten in Bayern vor allem klimaschädlichen Stickstoffdünger für die konventionelle Landwirtschaft herstellt, zahlt offenbar nichts: „In Bayern bestehen derzeit noch keine Regelungen über die Erhebung von Wasserentnahmeentgelten“, schreibt der Konzern auf Anfrage. [...] Nicht nur die Schwerindustrie ist auf Wasser angewiesen. Auch Branchen, die auf den ersten Blick nicht als wasserintensiv gelten, pumpen enorme Mengen aus Flüssen und dem Grundwasser. (Annika Joeres/Gesa Steeger/Katarina Huth, Correctiv)

Solange die realen Kosten von Umweltverschmutzung und Klimakrise nicht dort liegen, wo sie entstehen, können die eigentlich potenten Marktmechanismen auch nicht an der Lösung beteiligt sein. Ich bin absolut dafür, den Löwenanteil der Bewältigung der Klimakrise durch die Kräfte des Freien Markts machen zu lassen, aber das setzt halt voraus, dass die Preismechanismen richtig funktionieren. Und das tun sie auf so vielen Ebenen nicht, ob bei CO2-Emissionen, ob bei Wasserentnahme, ob bei Nuklearenergie. Massive Subventionen verzerren das Bild, und die abzubauen ist einerseits politisch eine Mammutaufgabe und andererseits selbst wenn man die politischen Herausforderungen außer Acht lässt ungeheuer disruptiv. Aber angehen muss man das. Ich hoffe da immer auf die FDP, die ja eigentlich in der Ampel dafür prädestiniert wäre, diese Argumente anzubringen. Und nicht mit Milliardensubventionen gegenzuwirken...

7) Roe Is the New Prohibition

The great debate on alcohol offers, a century later, a fascinating parallel with the contemporary one on abortion. In each instance, the battle commenced with big triumphs in the courts for legalization. In 1973, the U.S. Supreme Court found a constitutional right to abortion; in 1856, the highest court in the state of New York struck down an early prohibition law as a violation of property rights. Defeat in the courts drove the pro-life and prohibition sides toward mass mobilization. Meanwhile, victory in the courts lulled the original winning sides into complacency. Gradually, the balance of political power shifted. The pro-life/prohibition sides came to control more and more state legislatures. State and federal courts slowly reoriented themselves to the pro-life/prohibition sides. At last came the great moment of reversal for the formerly defeated: national Prohibition in 1919, the Dobbs case in 2022. Prohibition and Dobbs were and are projects that seek to impose the values of a cohesive and well-organized cultural minority upon a diverse and less-organized cultural majority. Those projects can work for a time, but only for a time. In a country with a representative voting system—even a system as distorted in favor of the rural and conservative as the American system was in the 1920s and is again today—the cultural majority is bound to prevail sooner or later. (David Frum, The Atlantic)

Mein Bauchgefühl ist, dass Frum mit seinem Vergleich hier Recht hat. Natürlich ist das eine lange Sicht; wir sprechen hier von mehreren Jahrzehnten, und aktuell betroffenen Frauen ist es ein geringer Trost, dass wir bis zur Mitte der 2030er Jahre mit einem republikanischen overreach und einer entsprechenden Gegenreaktion rechnen dürfen. Aber Fakt ist, dass die Konservativen vierzig Jahre lang engagierte Basisarbeit betrieben und die politische Hälfte des Landes komplett auf dieses Thema ausgerichtet haben. Sie ernten jetzt die Früchte. Wie schnell das gegebenenfalls umschlägt, bleibt abzuwarten. Die Prohibition war wesentlich heftiger als das Abtreibungsthema, und sie hielt immerhin fast 15 Jahre.

8) Liberals talk pretty one day. I hope.

All of this throat clearing is in service of a simple point: both of these legal theories are fairly easy to understand and explain. What's more, to most people they make sense. There are lots of problems with originalism below the surface, but the notion that original intent matters is pretty persuasive if you don't know about those problems. Likewise, it also makes sense that you should understand economic consequences if you're going to make law in the realm of economics. [...] Unless you're already ensconced in the legal world, I assume you didn't really understand a word of that. Right? And that's not a hit on Lithwick—although she could have done better. The fact is that the liberal theory she's talking about here—using the language of substantive due process and "bodily autonomy"—is neither simple nor persuasive to the ordinary schmoe. Nobody ever explains it well at a layman's level. Conservatives say, "Abortion isn't mentioned anywhere in the Constitution and it was illegal almost everywhere before 1973." In response, liberals stutter and stammer and reel off a few hundred incomprehensible words about a complicated and unintuitive legal doctrine. So do I have a point to make here, as I promised? Indeed I do: we liberals need to talk prettier. Constitutional law is just one area in which liberals, regardless of whether they're right or wrong, speak in an opaque, convoluted language that ordinary people can barely make sense of. If we want to win the war of public opinion—and in a democracy that's really the only war that matters—we need to do better. (Kevin Drum, Jabberwocky)

Passend zu Fundstück 7 haben wir hier gleich einmal mehr das Thema, dass die Progressiven einfach wesentlich schlechter in politischer Kommunikation als die Konservativen sind. Das betrifft ja nicht nur das Abtreibungsthema, sondern auch Wirtschaftspolitik, Klimakrise, Sicherheitspolitik und vieles mehr. Die Konservativen haben viel bessere, greifbarere, verständlichere Slogans und Politiken. Auf der anderen Seite stehen gerne entweder Seminare (wie es Kevin Drum oben ausführlich kritisiert) oder missverständliche/überzogene Slogans (ich sage nur "Defund the Police"). Solange sich das nicht ändert, ist das für die Progressiven immer eine uphill battle.

9) Experten: Corona-Maßnahmen waren nur teilweise wirksam

"Die genaue Wirksamkeit von Schulschließungen auf die Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus ist trotz biologischer Plausibilität und zahlreicher Studien weiterhin offen", heißt es im Bericht beispielsweise - auch weil man den Effekt von einzelnen Maßnahmen hier nicht prüfen könne. [...] Der Effekt von 2-G- oder 3-G-Maßnahmen sei in den in den ersten Wochen nach der Booster-Impfung oder der Genesung hoch. "Der Schutz vor einer Infektion lässt mit der Zeit jedoch deutlich nach." Deshalb empfehlen sie: Sollte sich die Politik wieder einmal zu solchen Zugangsbeschränkungen gezwungen sehen, so solle sie bei den derzeitigen Varianten und Impfstoffen in jedem Fall eine Testpflicht auch für Geimpfte einführen. Auch die Maskenpflicht beurteilen die Experten differenziert: Sie könne "ein wirksames Instrument in der Pandemiebekämpfung" sein. Entscheidend sei aber, dass Masken richtig getragen würden - und das müsse in der Öffentlichkeit viel deutlicher betont werden als bisher geschehen. "Eine schlechtsitzende und nicht enganliegende Maske hat jedoch einen verminderten bis keinen Effekt." [...] Nach Einschätzung der Experten hat der Abschlussbericht allerdings nur eine eingeschränkte Aussagekraft. Es fehlten Daten und eine fachübergreifende begleitende Forschung, um die Wirkung einzelner Regelungen genau untersuchen zu können, schreiben sie. (Christina Berndt/Kassian Stroh, Süddeutsche Zeitung)

Der Bericht, so umstritten er und die Kommission auch sind, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ich habe bereits im April 2020 (!) geschrieben, dass wir einen Corona-Untersuchungsausschuss brauchen, der die Wirksamkeit der Maßnahmen überprüft. Wir sind vermutlich noch zu nah am Geschehen, als dass schon viele belastbare Informationen rauskommen können, aber ohne diese Untersuchungen stochern wir komplett im Nebel.

Die ersten sehr grundsätzlichen Lehren scheinen mir bisher zu sein: Lockdowns und Kontaktbeschränkungen sind super um die Welle zu brechen und nehmen dann an Nützlichkeit rapide ab; sie kaufen uns also Zeit, um Impfungen zu entwickeln und auf weniger schlimme Mutationen zu warten (also effektiv das, was wir gemacht haben, Minus bessere Feinsteuerung). Die Masken sind super effektiv drinnen, wenn man sie richtig trägt. Nicht richtig getragen sind sie besser als keine Masken. Soweit, so eingängig. Sind wir mal gespannt, was weiter rauskommt. Völlig unklar scheint ja bisher der Effekt der Schulschließungen zu sein.

10) Why Are Democrats Letting Republicans Steamroll Them?

For a number of years now, Democrats and Republicans have been approaching national politics very differently from one another. This month’s stunning, norm-breaking, public-opinion-defying Supreme Court rulings are only the latest result. And if Democrats don’t change their behavior, the situation is only going to get worse for them. The simplest way to summarize the situation is that Democrats value democratic norms over policy achievements, and Republicans feel the opposite. [...] This is a pattern we’ve seen repeated ever since. Republicans attempt some unprecedented and shocking move; horrified Democrats respond by trying to be the adults in the room; and then the Democrats go unrewarded for it. To be sure, a country is probably better off with one responsible party than with zero. But in important ways, this kind of asymmetry can be dangerous, making the government less and less representative of its people. [...] When a norm violation is met by another, that gives both parties an incentive to find a new equilibrium down the road, and suggests to the first violator that they may have gone too far. If the majority’s rulings to end the federal right to abortion and restrict the states’ ability to regulate guns were met with an attempt to add four justices to the court — even if that attempt failed — it would send a message that there is a price to be paid, and that a future Congress might finish the job. (Seth Masket, Politico)

Es gibt keinen Ausweg aus dem Dilemma, auch wenn Masket sich hier klar für eine Variante ausspricht. Die Democrats können entweder versuchen, das Spiel der Republicans mitzuspielen und ebenfalls Institutionen anzugreifen, deren Legitimität zu zerstören und die eigene Basis zu radikalisieren, oder versuchen, die Institutionen zu erhalten.

Ich halte Masket für wesentlich zu optimistisch, was die Erfolgsaussichten ersterer Strategie angeht: Wenn man sich mit Schweinen im Schlamm bekämpft, werden beide dreckig, nur dass es den Schweinen nicht ausmacht. Die Republicans können immer radikaler sein, immer größere Schäden an der Demokratie in Kauf nehmen, weil es sie weniger stört. Ich halte die Eskalationsdrohung für wenig glaubwürdig.

Auf der anderen Seite von "Auge um Auge" steht das Hinhalten der anderen Wange, das genauso wenig erfolgversprechend ist, weil es die Gegenseite ständig für ihre Regelbrechungen belohnt - siehe Supreme Court. Es gibt einfach überhaupt keine gute Option, weil die Initiative bei der Gegenseite liegt. Wenn die Hälfte des politischen Spektrums kein Problem damit hat, die Demokratie zu zerlegen, kann die andere Hälfte einfach recht wenig tun.

Resterampe

a) Sehr empfehlenswertes Interview mit Kim Stanley Robinson.

b) Guter Thread zum Thema "resentment politics".

c) Noch mehr Informationen zum Thema "evangelikale Radikalisierung" und Roe v Wade.

d) Kubicki-Liberalismus, mal wieder.

e) Vladimir Subok, dessen großartiges Buch zum Untergang der UdSSR ich hier besprochen habe (und das zu den Autokraten im Kreml hier), schreibt über Putins Aussichten.

f) Sehr lesenswerter Verriss des ersten Bands von Egon Krenz' Autobiografie.

g) Eine Reihe von Links zum Ende von Roe v Wade: absolut zutreffende Kritik an der zirkulären Logik der Entscheidung, Ausblick auf die kommenden Revisionen, Erläuterung der Entscheidung durch eine deutsche Verfassungsrechtlerin, die weiteren Aussichten

h) Der Supreme Court hat auch entschieden, dass (christliche) Schulgebete wieder verpflichtend eingeführt werden können, weil religiöse Freiheit. Konsequenterweise wird die Trennung von Kirche und Staat auch gleich abgeräumt.

i) Geschlechtergerechte Sprache sorgt dafür, dass sich Betroffene als klüger und kompetenter wahrnehmen.

j) Falls jemand das noch braucht, echt miese Vorzeichen für die Midterms und ein katastrophales Zeugnis für die Democrats.

k) Dekonstruktion des Mythos von FDRs "court packing".

l) Spannende Rezension zu dieser Geschichte des Neoliberalismus, die auf meiner viel zu langen Leseliste steht.

m) Schön, dass Larry Summers das so offen sagt; nicht schön, was er sagt.

n) Diese kleine Geschichte der bayrischen Tracht ist einfach perfekt.

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