Aus Politik und Zeitgeschichte - Rente
Spätestens seit Norbert Blüm uns versicherte, dass zwar Marmor, Stein und Eisen brechen, niemals aber die Rentenversicherungsanstalt (ich paraphrasiere) ist das Thema Rente, Zukunftsfähigkeit der Rente und Rentenreform aus dem politischen Diskurs kaum mehr wegzudenken. Verständlicherweise: Millionen von Menschen hängen in ihrem Lebensunterhalt auf Gedeih und Verderb von den monatlichen Zahlungen der Rentenversicherung ab, die bereits jetzt massiv aus dem Bundeshaushalt bezuschusst wird. Wie das in Zukunft weitergehen soll, ist völlig unklar. Ein guter Moment also (wie jeder andere Moment auch), sich mit der Rente zu beschäftigen. In der vorliegenden "Aus Politik und Zeitgeschichte" wird ein guter Rundumblick gewagt, der ein breites Themenspektrum abdeckt.
Im ersten Beitrag gibt Gerhard Bäcker einen guten Überblick über das System der deutschen Alterssicherung. Er beschreibt es als auf vier Schichten beruhend: die erste, mit Abstand größte, ist die Rentenversicherung (dazu die Beamtenpensionen und anderen Kassen für spezielle Gruppen wie Landwirte oder Selbstständigenverbindungen). Die zweite Schicht ist die betriebliche Altersvorsorge. Die dritte ist die private Vorsorge. Und die vierte die Existenzsicherung, also Sozialhilfe. Diese Schichten sind durch zwei Prinzipien verbunden: dem Äquivalenzprinzip, also der Idee, dass die Einzahlungen im Verhältnis zu den Auszahlungen stehen, und dem Solidarprinzip, also der Idee, dass die Gemeinschaft diejenigen stützt, die nicht genug eigene Anwartschaften haben. Diese beiden Prinzipien stehen in einem permanenten, unauflösbaren Konflikt.
Es ist nicht gerade eine atemberaubende Neuigkeit, dass die gesetzliche Rente sehr gering ist und kaum ein vernünfiges Auskommen im Alter sichern kann. Zwar hat die GroKo mit der "doppelten Haltelinie" einen völligen Einbruch für den Moment verhindert, aber das ist kaum mehr als ein Tropfen auf heißem Stein, Sandsäcke auf einem Deich, der ständig von Überflutung bedroht ist. Die betriebliche Altersvorsorge soll diese Lücke stopen helfen, ein Versprechen, das, höflich gesagt, bisher auf sich warten lässt. Gleiches gilt für die private Vorsorge. Teilweise sind die Probleme mit der zweiten und dritten Schicht sicherlich auf politische Fehler zurückzuführen, aber selbst in Ländern, in denen wesentlich mehr "Eigeninitiative" gepflegt wird (wie im UK) erreichen sie kaum 50% der Bevölkerung. Die Rente bleibt in allen Ländern ein ungelöstes Problem.
Claudia Vogel und Harald Künemund beschäftigen sich mit "Einkommen und Armut im Alter", zwei Wörtern, die leider nur allzugut zusammengehen. Über 90% der Deutschen beziehen Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung; rund 29% aus einer betrieblichen Altersvorsorge und immerhin rund 2% aus privater Vorsorge - nicht mehr als ein Rundungsfehler. Die Zitierung der durchschnittlichen Beträge erspare ich mir hier, um nicht weinen zu müssen. Die Zahl der offiziell armutsgefährdeten alten Menschen ist seit 2005 um 50% gewachsen und liegt bei knapp 16%. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber weitgehend bekannt und lassen sich auf die Formel von "zu wenig Einzahlungen bei zu viel Auszahlungen" eindampfen.
Kontroverser als diese Beschreibung des Status Quo dürften die Lösungsvorschläge Vogels und Künemunds sein. In der privaten Vorsorge erkennen sie keinerlei Lösungspotenzial, auch in der Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten nicht, die ja dann ihre eigenen Ansprüche erwerben würden und zudem zu wenige sind, um ernsthaft etwas an der Aufstellung des Systems zu ändern. Letztlich sehen die Autor*innen die einzige Möglichkeit in einer Steuerfinanzierung der Rente.
Einen anderen Strang der Reformdebatte nehmen Götz Richter, Anita Tisch, Hans Martin Hasselhorn und Lutz Bellemann in "Arbeit und Alter(n)" ein. Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie die ein höheres Renteneintrittsalter erreicht werden kann. Interessant finde ich die Ethik ihres Ansatzes. Sie erklären, dass die Finanzierungsprobleme auf eine gestiegene Lebenserwartung zurückgingen. Das mache es akzeptabel, das Renteneintrittsalter entsprechend zu erhöhen (siehe dazu auch weiter unten der Beitrag von Supan).
Die Autor*innen befassen sich im Rahmen des Beitrags auch mit den drei Kategorien des Renteneinritts: nicht mehr arbeiten dürfen, nicht mehr arbeiten können, nicht mehr arbeiten wollen. Alle drei Kategorien erfordern ihre eigene Betrachtung, was im Diskurs allzu häufig vermischt wird. Nicht mehr arbeiten dürfen ist das bekannte Problem, wenn ältere Menschen wegen der weit verbreiteten Altersdiskriminierung in Unternehmen keinen Job mehr finden (wesentlich seltener ist, dass Menschen quasi in Rente gezwungen werden, obwohl sie weiter erwerbstätig bleiben wollen). Das gehört dann häufig zum nicht arbeiten wollen: wer durch einen erzwungenen Jobwechsel keine äquivalent bezahlte Stelle mehr findet, sieht wenig Grund darin, nicht bereits früher in Rente zu gehen, wenn kein finanzieller Gewinn mehr im Arbeiten besteht. Das kann keine noch so gute Politik beheben. Und dann bleibt das nicht arbeiten können, vor allem bei schwer körperlich Tätigen. Die Autor*innen weisen aber darauf hin, dass das immer weniger Menschen betrifft (gleichwohl, ohne eine gute Lösung parat zu haben).
Interessant sind hier auch die im Beitrag zitierten Selbsteinschätzungen der Arbeitenden: je schlechter der Job, desto weniger lang glaubt man, ihn machen zu können. Das ist wenig überraschend, aber in der Selbsteinschätzung gibt es insgesamt nur zwei (!) Berufsgruppen, die glauben, bis 67 arbeiten zu können: Ärzt*innen und Geschäftsführende. ALLE anderen Gruppen geben (teils signifikant) niedrigere Werte an, und vermutlich nicht unrealistischerweise. Das bleibt für mich das größte ungelöste Problem der ganzen Debatte, denn die wenigsten Leute gehen voll leistungsfähig mit 67 in Rente.
Axel-Börsch Supan beschäftigt sich in "Der lange Schatten der Demokratie" mit den politischen Handlungsfeldern der Rentenreform in Deutschland. Er befasst sich zuerst mit dem demografischen Faktor, den er in drei zu differenzierende Ursachen zerlegt: die Steigerung der Lebenserwartung, den Pillenknick und die langfristig gesunkenen Geburtenzahlen. Die letzten beiden sind letztlich "historisch" und damit Einmaleffekte; es ist die Steigerung der Lebenserwartung, die Supan als Hauptproblem ausmacht. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch die "doppelte Haltelinie" der GroKo als eine "Scheinlösung" und verlangt "echte Alternativen".
Ein Vorschlag Supans ist ein Altersquotient: dieser soll garantieren, dass sowohl Renten als auch Löhne Kaufkraftsteigerungen haben, aber dass die Renten nicht mehr so stark steigen wie früher. Dadurch sinke das Rentenniveau nicht, es steige "nur" nicht mehr so schnell wie bisher. Andere Alternativen wie das österreichische System, bei dem ein hohen Einstiegsniveau einem sehr niedrigen Steigerungsniveau gegenübersteht, verwirft Supan: Bereits jetzt muss die österreichische Politik mit "Ausnahmen" gegensteuern. Für mich ist das wenig überraschend. Die scheinbar eleganten Lösungen, die auf irgendwelchen Automatismen beruhen (siehe auch CO2-Steuer) sind super anfällig für politische Einmischung. Was das Renteneintrittsalter betirfft ist der Clou, dass er eine Automatisierung im Verhältnis von grob 2:1 vorschlägt: für zwei Jahre gewonnene Lebenszeit werde die Eintrittsgrenze ein Jahr verschoben. Das garantiere weiterhin, dass der Großteil des Alters "frei" ist, beteilige die Menschen proportional am gewonnen Alter und passe auch automatisch nach unten an, wenn die Lebenserwartung wieder sinkt. Das finde ich zumindest wesentlich fairer als das bisherige "Malochen für die Alten", einfach nur weil man das Pech hat, in der falschen Generation geboren worden zu sein.
In "Rentensysteme im Umbau" beschreibt Bernhard Ebbinghaus das Problem, Rentensysteme umzubauen. Denn praktisch jeder dieser Umbauten stößt auf das "Doppelzahler-Problem", bei dem eine Generation sowohl das alte als auch das neue System mitbezahlen muss. Deshalb, so Ebbinghaus, seien die Reformhorizonte auch immer so lang. Er erkennt auch an, dass nicht die Demografie per se relevant ist, sondern die wirtschaftliche Produktivität der arbeitenden Generation; eine Erhöhung der Erwerbsquote und bessere Bildung (für bessere und besser bezahlte Jobs) seien daher gangbare Strategien. Um nicht prekäre Beschäftigung im Alter die Regel zu machen, brauche es aktive Arbeitsmarktpolitik (Ebbinghaus konstrastiert hier die irischen und skandinavischen Erfahrungen). Dazu gehöre auch, Arbeitsplätze altersgerecht zu machen.
Skeptischer ist Ebbinghaus bezüglich der Privatisierung; nicht so sehr, weil sie nicht grundsätzlich gangbar wäre, sondern weil es hier ohne obligatorische Systeme wie in der Schweiz zu keinem ausreichenden Deckungsgrad kommt; die bereits erwähnte Zahl von gerade einmal 50% im liberalen britischen System stammt aus diesem Beitrag. Auch gibt es bisher keine Lösungen für unterbrochene Erwerbsbiografien durch Arbeitslosigkeit oder Schwangerschaft sowie Erziehungszeiten, die bereits bestehende Ungleichheiten eher verschärfen würden.
Jörg Tremmel dagegen schaut auf die ethische Dimension des Begriffs der "Generationengerechtigkeit" und versucht sich an einer Definition, was hiermit überhaupt gemeint sein kann. Dabei räumt er zuerst die These ab, dass die bestehende Generation der Nachwelt gar nichts schulde. Weder gelte die Nicht-Identität-These noch die These der "reichen Zukunft", auf die man die Probleme verlagern könne. Er zeigt sich skeptisch, weil gerade angesichts der Klimakrise nicht klar sein könne, ob das überhaupt zutrifft. Tremmel erklärt, dass es grundsätzlich gerecht sei, wenn eine Generation wenig einzahlt und wenig bekommt und wenn sie viel einzahlt und viel bekommt, auch wenn das nicht zeitlich synchron abläuft (also etwa eine Generation hohe Renten bekommt, während die aktuell arbeitende niedrige erwartet). Nur, diese Voraussetzungen sind natürlich rein theoretisch, weil sie in der Realität so nicht existieren.
Die Generationengerechtigkeit werde auch durch die unterschiedliche Größe der Generationen auf die Probe gestellt, ebenso durch die steigende Lebenserwartung. Beides werde aber zumindest teilweise durch die steigende Produktivität ("Reiche Zukunft") ausgeglichen, zumindest aktuell. Das Gewicht verschiebe sich aber zunehmend auf die jüngere Generation. Temmel plädiert daher für einen Nachhaltigkeitsfaktor: stiegen die Belastungen für die Rente, müssten diese Belastungen von Jüngeren und Älteren zu gleichen Teilen getragen werden. Dies sei aber, gerade auch wegen dem politischen Gewicht der Rentner*innen, nicht der Fall.
Insgesamt war der Band für mich eine lohnende Lektüre. Es gab zwar keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse, aber die stringente Logik der Beiträge und ihre Kohärenz machen sie durchaus lesenswert.
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