Freitag, 22. Juli 2022

Rezension: John Green - The Anthropocene, reviewed

 

John Green - The Anthropocene, reviewed (Hörbuch) (John Green - Wie hat Ihnen das Anthropozän bislang gefallen?)
Die Idee, dass wir im Anthropozän leben - also dem geologischen Zeitalter, dass sich durch die Gestaltungskraft des Menschen auszeichnet - ist mittlerweile ziemlich Standard geworden. Ob Plastik in den Weltmeeren, Versiegelung der Böden, Versalzung von Gewässern oder natürlich die allgegenwärtige Klimakrise - überall hinterlassen wir Menschen unseren Fußabdruck und verändern den Planeten. Auch das mittlerweile wohl sechste Massensterben geht auf unser Konto. Von den Dodos zu hawai'ianischen Singvögeln ist niemand vor unserer mörderischen Ignoranz sicher. In dieser Sammlung von Essays beschäftigt sich John Green mit den Facetten dieses Zeitalters und nähert sich der menschlichen Natur an. Es ist eine großartige, weit gefasste Reise durch das Anthropozän, persönlich und gleichzeitig allgemeingültig, wunderbar geschrieben und eindrücklich verfasst.


Anhand der kanadischen Wildgans etwa erkundet er das Verhältnis zwischen Tier und Mensch im Anthropozän: erst von Jägern bis zur Ausrottung gejagt, indem sie gefangene Wildgänse flugunfähig machten und als Köder nutzten - um die Köder aber wie geliebte Haustiere zu hätschen und zu pflegen - legte die Art nach Verbot des Lebendköders eine massive Erholung hin. Das Einerlei der Vorstädte bietet ihnen einen idealen Lebensraum, und in vielen Regionen des amerikanischen Suburbia sind die Wildgänse mittlerweile eine Pest. Trotzdem erinnern sie Green stets an die wilde Natur.

Das Verhältnis von Mensch und Tier spielt auch bei seinen Gedanken zu domestizierten Tieren eine Rolle. Fast alle Säugetiere, die auf der Erde existieren, sind Haus- und Nutztiere. Was uns nicht nützt, töten wir, wenngleich oftmals unbewusst durch Vernachlässigung, weil wir es nicht bewahren. Der einzige Schutz neben dem Faktor Nützlichkeit ist es, wenn die Jungtiere einer Spezies uns an unsere eigenen Babys erinnern. Ob das für oder gegen uns spricht, bleibt offen.

Diese Betrachtungen stehen neben mehreren Essays, die sich mit dem menschlichen Zeitverständnis und unserem Ort in der Zeit befassen. So zeigt Greene etwa, wie jung wir Menschen als Rasse sind. Elefanten sind um ein Vielfaches länger auf der Erde unterwegs als wir, und dasselbe gilt für eine ganze Reihe von Spezies, auch solche, die wir mittlerweile ausgerottet haben oder im Begriff sind auszurotten.

Gleichzeitig gibt es uns Menschen aber doch schon länger, als unser Geschichtsbewusstsein uns oft Glauben macht. Die Lascaux-Höhlenmalereien etwa sind rund 12.000 Jahre alt, und es gibt noch ältere Zeugnisse menschlichen Schaffens. So fremd uns die Malereien auch sind - bis heute ist unklar, welchen Zwecken sie dienten und was sie genau symbolisieren, und wir werden es wohl nie erfahren -, so vertraut ist uns der Aufwand, der zu ihrer Erstellung betrieben worde, inklusive dem Bau von Gerüsten. Auch, dass weltweit diverse Kulturen die gleiche Kunst unabhängig voneinander entwickelten ist ebenso faszinierend wie mysteriös.

Überhaupt, die Kunst. Green betont auch in mehreren Essays, dass wir Menschen eine kollaborative Spezies sind. Für ihn ist das ein bestimmendes Merkmal. Michelangelo bemalte die Sixtinische Kapelle nicht alleine, sondern mit einer Menge von Helfern, und für Green verblasst Edisons Leistung der Erfindung der Glühbirne vor der kollektiven Leistung der Schaffung eines Energienetzes, das in der Lage ist, Millionen und Abermillionen von Glühbirnen verlässlich mit Strom zu versorgen. Immer wieder lenkt er den Blick auf diese Wunder inkrementeller menschlicher Zusammenarbeit, ob in Kunst oder Technik.

Auch unser Verständnis vergangener Epochen stellt Green auf den Prüfstand, wenn er etwa über Velociraptoren spricht, jene Fleisch fressenden Dinosaurier, deren Popularisierung durch das "Jurassic Park"-Franchise so gar nichts mit den real existierenden Lebewesen zu tun hat - so wie auch die Dinosaurier im "Jura-Park" mehrheitlich der Kreidezeit entstammen. Aber Fakten kommen nun mal nicht in den Weg einer guten Geschichte, und im Geschichtenerzählen sind wir Menschen spitze.

Was uns dabei nicht gelingt, ist alle Sinne anzusprechen. Zwar schaffen wir Bild und Ton sehr verlässlich, aber der Geruchssinn bleibt weiterhin unmöglich. Das 80er-Jahre Phänomen der Sratch-n-Sniff-Stickers dient Green dabei ebenso zur Veranschaulichung wie der fehlgeschlagene Versuch einer VR-Achterbahn, Meeresaromen zu simulieren.

Die Vielzahl der Essays lässt sich hier unmöglich wiedergeben, aber die Themen reichen weiter von Monopoly zur amerikanischen Platane, von der QWERTY-Tastatur zu Disney World, von der Pest zu Auld Lang Syne. Allen Essays ist gemein, dass sie sowohl subjektive Eindrücke Greens als auch allgemeingültige, weitreichende Überlegungen enthalten. Es ist gerade diese Verbindung des beinahe autobiografischen, das immer wieder in die Essays einfließt, und ihre Tiefgründigkeit, die den eigentlichen Reiz des Buches ausmachen.

Das Werk ist auch das erste Buch, das mich zum Weinen brachte. In einem besonders berührenden Essay beschreibt Green seine Erfahrungen als Kaplan in einem Kinderkrankenhaus (und das Googlen von Namen). Ich will gar nicht weiter ins Detail gehen, aber ich musste während dieses Essays nicht ein-, sondern gleich zweimal Tränen verdrücken, und weil ich das Hörbuch hörte, war das am Bahnhof. Aber was muss, muss.

Überhaupt, das Hörbuch. Green spricht die englische Fassung des Hörbuchs selbst, und wer ihn und seine Videos kennt weiß, dass der Mann erzählen kann (er begann seine Schreibkarriere auch beim Radio). Allein deswegen sei es an der Stelle sehr empfohlen. Die Genese des Buchs, das sei zuletzt als Kuriosum erwähnt, kommt aus dem gleichnamigen Podcast Greens, in dem er viele der Themen bereits verarbeitet hatte; das Buch ist sozusagen eine Überarbeitung dieses Podcasts, eine Veredelung des Formats.

Ich gebe dem Buch 5 Sterne.

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