Dienstag, 5. Juli 2022

Rezension: Alexander Thiele - Der konstituierte Staat: Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit

 

Alexander Thiele - Der konstituierte Staat: Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit

Eines der positiven Produkte der Corona-Pandemie war eine Flut von Podcasts, die von Leuten gemacht wurden, die viel zu sagen hatten, aber bis dato das Medium nicht für sich entdeckt hatten. Eine dieser Personen war Alexander Thiele, Verfassungshistoriker an der Universität Göttingen, der angesichts des Lockdowns für seine Studierenden und das interessierte Publikum einen Podcast zur Verfassungsgeschichte der Neuzeit produzierte. Dieser war - völlig zu Recht - sehr erfolgreich, und Thiele tat das, was Wissenschaftler*innen in solchen Fällen immer zu tun pflegen: er machte ein Buch daraus, indem er seine (ohnehin schon druckreifen) Skripte überarbeitete und um einen Fußnotenapparat ergänzte. Das Ergebnis ist ein sehr lesbares Buch zu einem (zumindest aus meiner nerdigen Perspektive) sehr spannenden Thema, das unbedingt empfehlenswert ist.

Thiele beginnt seine Darstellung mit einigen grundlegenden Definitionen von Verfassungen. So sieht er eine ihrer zentralen Funktionen in der Abgrenzung von Herrschaftsrechten, also einer Kontrolle der Regierenden. Als weiteres Merkmal moderner Verfassungen sieht er ihre grundsätzliche Revidierbarkeit, üblicherweise durch einen geregelten Veränderungsprozess. Verfassungen schreiben einen vergangenen Zustand nicht für alle Ewigkeit fest (ein Gedanke, der uns später bei der amerikanischen Revolution wieder begegnen wird). Ein weiteres Merkmal moderner Verfassungen ist die Garantie von Grundrechten. Zuletzt befasst sich Thiele noch mit der Frage der Souveränität im Verfassungsprozess: es ist ein Paradox, dass demokratische Verfassungen eigentlich nie demkratisch zustandekommen, sondern von einer schmalen Elite geschaffen und oktroyiert werden. Ihre demokratische Legitimation erreichen sie üblicherweise nicht durch ihre Verabschiedung, sondern erst hinterher durch Akzeptanz aller gesellschaftlichen Gruppen. Die Legitimation muss also historisch wachsen.

Den Beginn der modernen Verfassungsgeschichte setzt Thiele mit der US-Verfassung, die als erste die obigen Bedinungen erfüllt (deren Willkürlichkeit Thiele übrigens klar ist, nur: irgendeine Definition muss man verwenden). Der Fokus der amerikanischen Verfassungsväter lag klar auf den bürgerlichen Freiheitsrechten. Diese wurden in zwei Richtungen verteidigt: einerseits gegen den Zugriff eines zunehmend als fremd und illegitim empfundenen Staates, andererseits aber gegen Korrekturversuche von unten. Von einer demokratischen Verfassung kann man mithin also nicht sprechen, wie auch die Verfassungsväter immer Wert darauf legten, eben KEINE Demokratie schaffen zu wollen. Das amerikanische Verfassungsprojekt war von Anfang an konservativ und auf die Beschränkung des Staates gerichtet.

Das ist gut daran erkennbar, dass zu Anfang auch keine Grundrechte enthalten waren, weil die Verfassungsväter verhindern wollten, dass ihre beherrschende gesellschaftliche Stellung durch diese eingeschränkt werden könnte. Erst die Verabschiedung der ersten zehn Amendments sorgte also dafür, dass die US-Verfassung als moderne Verfassung angesehen werden kann. Neben den Grundrechten ebenfalls hochumstritten war die Veränderbarkeit: das Problem, dass die Generation der Verfassungsväter zukünftige Generationen nicht an ihre Vision binden konnte, war ihnen allen bewusst. Man diskutierte lange über ein Verfallsdatum nach 15 oder 30 Jahren, nach dem eine neue Verfassung hätte ausgearbeitet werden müssen; aus praktischen Gründen entschied man sich stattdessen dann dafür, den Amendment-Prozess einzuführen, der seither eigentlich alle modernen Verfassungen auszeichnet.

Es ist gegen diese Folie der einschränkenden und konservativ-abwehrenden US-Verfassung, vor der Thiele die französischen Verfassungen der Revolutionszeit setzt. Ihre bleibende Wirkung war, universale Menschenrechte direkt an den Beginn des Dokuments zu setzen und einen umfassenden Auftrag und Anspruch des Staats zu ihrer Durchsetzung zu formulieren. Das Scheitern der Revolution und ihre Rückabwicklung von der Terrorherrschaft erst zum Direktorat, dann zu Napoleons Diktatur lässt Thiele eine These formulieren, die sich wie ein Roter Faden durch das Buch zieht: zu demokratische Prozesse führen meist nicht zu mehr Demokratie, sondern schnell zu Diktatur. Belastbar sind tatsächlich eher von Eliten aufoktroyierte Verfassungen, die dann ihre Legitimation über Zeit erhalten und sich demokratisieren. Dieser skeptische Blick auf Revolutionen ist derzeit stark im Aufwind und begegnet uns etwa in der Demokratieforschung Hedwig Richters ebenfalls.

Thiele ist auch deutlich darin, dass der Sonderfall der europäischen Verfassungsgeschichte nicht Deutschland ist, sondern Großbritannien. Als einziger moderner westlicher Staat verfügt das Vereinigte Königreich über kein schriftliches Verfassungsdokument. Thiele erklärt dies damit, dass es in Großbritannien dank eines kontinuierlichen (wenngleich langsamen) Entwicklungsprozesses hin zu einer Ermächtigung des Bürgertums niemals genug Unzufriedenheit für eine Revolution gab. Auch eine eine Fremdherrschaft existierte nie, weswegen in Großbritannien nie ein radikaler Bruch stattfand, der ein zentrales Dokument erfordert hätte. Gerade angesichts des Brexits steht dies aber in Großbritannien mehr und mehr in Frage, und es bleibt offen, ob die Briten in Zukunft nicht diesen Sonderweg aufgeben und ebenfalls eine geschriebene Verfassung annehmen werden.

Nach diesen Grundlagen im angelsächsischen und französischen Bereich wendet sich Thiele umfassend der deutschen Verfassungstradition zu. Diese lässt er mit dem Kampf gegen Napoleon und der Formierung des Deutschen Bunds 1815 beginnen. Die Verabschiedung von Verfassungen war eines der zentralen Ziele der entstehenden Nationalbewegung (neben der Schaffung eines Zentralstaats), und sie wurde besonders in den süddeutschen Staaten auch früh erreicht, die sich in diesen Jahren konstitutionalisierten. Demgegenüber weigerte sich Österreich beharrlich, eine Haltung, der sich bald auch Preußen anschloss. Metternich nutzte den Deutschen Bund, dessen Machtdynamik Thiele als mit der UNO vergleichbar beschreibt, um den Konstitutionalismus zurückzudrängen.

Es gelang ihm zwar nicht, die süddeutschen Staaten gänzlich zur Aufgabe ihrer Verfassungen zu bewegen (im Gegenteil, Bayern gab sich eine, um sich, in typischem Partikularismus, dem Einfluss Metternichs zu entziehen). Aber die Karlsbader Beschlüsse von 1819 schufen ein extrem repressives Klima, gegen das zwar immer wieder aufbegehrt wurde - das Hin und Her von liberalen Forderungen und konservativer Reaktion prägte den gesamten Vormärz -, das aber bis 1848 weitgehend Bestand hatte. Der Reformdruck in Preußen, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Hand in Hand mit dem Konstitutionalismus ging, löste sich von diesem: unter dem Druck der politischen Verhältnisse erfüllten Hardenberg und die anderen Reformer zwar viele liberale Wünsche für die Ausgestaltung des Wirtschaftslebens, enthielten aber sowohl die nationale als auch die konstitutionelle Perspektive vor, die ein Desiderat der Liberalen blieb und diesen eine große Einheit und anhaltende Popularität bescherte.

An dieser Situation änderte die Julirevolution in Frankreich 1830 erstaunlich wenig. Es gab, anders als 1789, kein Überschwappen nach Deutschland, was Thiele vorrangig darauf zurückführt, dass trotz aller Repression die Situation erträglich war - noch hatte die Industrielle Revolution in Deutschland nicht Fuß gefasst, die Soziale Frage war noch nicht drängend. Ähnlich sieht es auch in Frankreich aus, wo die Revolution ebenfalls eher Episode blieb und die Monarchie nicht grundsätzlich angriff.

1848 dagegen sah die Lage anders aus. Thiele betont stark die Änderung der der sozialen Situation - die Lebensverhältnisse hatten sich durch Urbanisierung, technologischen Wandel und unmenschliche Bedingungen in den Fabriken massiv verschlechtert -, die einen großen Veränderungsdruck geschaffen hatte, der mit liberalen Wünschen ein Bündnis einging. Noch allerdings waren die Menschen tief im Honoratiorensystem verwurzelt; bei den Wahlen zum Vorparlament etwa siegten vorrangig hervorgehobene liberale Persönlichkeiten moderater oder konservativer Einstellung (bereits das Paulskirchenparlament war dann deutlich demokratischer aufgestellt, Resultat eines Radikalisierungsprozesses).

Das Scheitern der Revolution führt Thiele hauptsächlich auf die Einzelstaaten zurück. Die Revolutionäre hatten die doppelte Herausforderung, nicht nur bestehende Systeme umwerfen beziehungsweise reformieren zu müssen - was angesichts monarchischer Doppelspiele und der fehlenden Kontrolle der Paulskirche über das Militär ohnehin praktisch unmöglich war; Thiele stellt klar fest, dass die Monarchen dank ihrer Entschlossenheit, die Revolution mit dem Militär niederzuschlagen, kaum zu besiegen waren - sondern auch, ein Territorium zu konstituieren. Dieses aber hätte naturgemäß die Einzelstaaten entmachtet, und diese, nicht so sehr der preußische König, blockierten die Schaffung eines deutschen Nationalstaats.

Abschließend kommt Thiele zu dem Ergebnis, dass die Paulskirchenverfassung typisch für ihre Zeit war, indem sie einen Dualismus zwischen einer monarchischen Exekutive einerseits und einer liberalen Legislative andererseits konstruierte. Beide Gewalten arbeiteten nicht zusammen, sondern standen sich als Antagonisten gegenüber. Auch begründete 1848 nicht das Volk die Verfassung, sondern eine Elute. Diese Konstruktion wird besonders an der preußischen Verfassung von 1850 sichtbar, deren entsprechende Anlagen dann von Bismarck auf Spitze getrieben werden. Thiele ist es aber wichtig hervorzuheben, dass das für das Europa jener Zeit typisch war; die Sonderwegsthese lehnt er also auch hier entschieden ab.

An dieser Stelle bietet er zudem einige Ausblicke auf den Verfassungs- und Nationasbildungsprozess in Italien, Lateinamerika und Kanada. Er konstatiert Deutschland sehr ähnliche Prozesse in Italien, wo eine kriegerische Einigung durch einen Hegemonialteilstaat erfolgte, der dann die Verfassung oktroyierte. Diese blieb formal bis 1949 in Kraft, war aber eigentlich spätestens seit Mussolinis Machtübernahme (über die Antonio Scurati hervorragend schrieb) Makulatur. Auffällig ist die Orientierung an bestehenden Vorbildern auch bei den im 19. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erreichenden Staaten Lateinamerikas, die weitgehend Verfassungen nach dem amerikanischen Modell übernahmen (mit, sagen wir, eher gemischten Ergebnissen). Zuletzt betrachtet er Kanada, das schrittweise mehr Autonomie bekam, wodurch die Fehler im Umgang mit den späteren USA vermieden wurden und Kanada bis heute enge Bindungen zu Großbritannien behält.

Thieles Darstellungen zum deutschen Einigungsprozess sind wenig spektakulär und fassen vor allem die bekannten Vorgänge zusammen. Auch seine Analyse der Verfassung des Kaiserreichs enthält keine Überraschungen, die man nicht bereits bei Oliver Haardt und Hedwig Richter gelesen hätte. Das macht das Kapitel nicht schlecht. Die Herausbildung eines Ministerialsystems, gegen das Bismarck sich lang gestemmt hatte, gehört seither zur deutschen Verfassungswirklichkeit, ebenso wie die starke Stellung des Kanzlers oder der föderale Staatsaufbau (den natürlich die Paulskirchenverfassung bereits vorweggenommen hatte). Das größte Problem bleibt der Antagonismus zwischen Exekutive und Legislative, der sich aber im Verlauf des Kaiserreichs immer mehr abschmirgelte und spätestens 1917 zu einer Art parlamentarischer Verantwortlichkeit führte, die im Oktober 1918 dann auch formalisiert wurde - für jene kaum vier Wochen, in denen das Reich eine konstitutionelle Monarchie wurde, das große "was wäre wenn" der deutschen Verfassungsgeschichte.

Ähnlich sieht es auch bei der Betrachtung der Weimarer Reichsverfassung aus, die wohl bekannteste deutsche Verfassung überhaupt (was die Analyse angeht). Thiele macht deutlich, dass es sich um keine schlechte Verfassung handelte. Die Legende, wonach Konstruktionsfehler in der Weimarer Verfassung ausschlaggebend für den Untergang der Republik waren, führt er vor allem auf eigennützige Narrative der frühen Bundesrepublik zurück, die sich einerseits in Abgrenzung zu Weimar legitimierte und andererseits versuchte, die Schuld an Hitler von den eigenen Eliten abzuschieben. Thieles Zerstörung einiger Mythen, die sich wahnsinnig hartnäckig halten, ist sehr willkommen. Dazu gehört auch die angeblich fehlende Verbindlichkeit des Grundrechtekatalogs.

Im Zusammenhang mit Hitlers "Machtergreifung" befasst er sich vor allem mit der Legalitätsfrage. Um es kurz zu machen: die Präsidialkabinette, vor allem aber Hitlers Kanzlerschaft, waren verfassungswidrig und illegal. Der oft wiederholte Mythos, dass sie im Rahmen der Weimarer Reichsverfassung abgelaufen wären - was gerne als Beleg für ihre Konstruktionsfehler hergenommen wird - ist einfach nicht zu halten.

Wenig überraschend daher konstatiert Thiele für die NS-Zeit eine Auflösung des konstituierten Staats; die NS-Diktatur existiere IN einer Verfassung, HATTE aber keine. Mit Ernst Fraenkel spricht er von dem "Doppelstaat" aus Maßnahmen- und Normenstaat: zwar existierte letzterer grundsätzlich weiter, lag aber immer unter dem Zugriff des extralegalen Maßnahmenstaats, der jede Verfasstheit ad absurdum führte. Dem Zusammenbruch 1945 ging somit ein längerer Zerfallsprozess jeder verfassungsmäßigen Ordnung voraus, in dem sich die deutsche Staatsrechtslehre nicht unbedingt glänzend positionierte.

Nach dem Krieg entstanden zwei deutsche Staaten. Beide bekamen Verfassungen, aber beide Verfassungen wurden, einmal mehr, aufoktroyiert. Dem Grundgesetz hat das genausowenig geschadet wie die mangelnde Souveränität Deutschlands bis 1990; für die DDR dagegen wird man kaum von einer Verfassung in den etablierten Normen sprechen können. Das Selbstverständnis als "sozialistische Demokratie" machte freie Wahlen ebenso unmöglich wie Gewaltenteilung. Das Konzept einer Opposition war auch ein Widerspruch in sich, akzeptiert man die Prämisse der DDR als Vertretung des gesamten Volkes. Grundrechte, so macht Thiele klar, gab es in der DDR nur für das Kollektiv, und da dieses durch den Staat vertreten wurde, konnte dieser schrankenlos walten. Auch die Zentralisierung der DDR einerseits und er föderale Aufbau der BRD andererseits zeigen deutlich, dass Autokraten und Bundesstaaten nicht zusammengehen, was Thiele Anlass für einen Aufruf zu mehr Begeisterung für den Förderalismus nimmt.

Bezüglich des Grundgesetzes betont Thiele einerseits eben jenen Föderalismus, weist aber andererseits auf die recht niedrigen Hürden von Verfassungsänderungen hin. Von Schuldenbremse bis Förderalismusreform wurde das Grundgesetz häufig, und allzu oft unnötig, geändert. Der politische Spielraum in Deutschland ist deswegen relativ klein, woran auch das Bundesverfassungsgericht nicht unerheblich Anteil hat; ich habe das hier im Blog auch bereits diskutiert.

Zuletzt noch ein kurzer Verweis auf die EU: ihr spricht Thiele, wenig überraschend, jede Verfassungsmäßigkeit ab. Er übernimmt stattdessen den Begriff des StaatenVERbunds. Es ist möglich, dass sich daraus in Zukunft noch ein Staatenbund entwickeln wird, der dann auch eine eigene Verfassung besitzt; aktuell sieht es nicht so aus, als würde das passieren. Dies delegitimiert die EU nicht, ist aber für das Verständnis der Geschehnisse wichtig.

Abschließend sei noch einmal die absolute Empfehlung für den Band wiederholt, mit der ich die Rezension begonnen habe.

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