Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
Meinung und Staat? Aus deutscher traditionell-liberaler Sicht hat der Staat nicht zu meinen. Der Staat hat zu ermitteln, zu entscheiden, zu regeln, zu besteuern und zu bewachen, aber er hat nicht zu meinen. Das Meinen gehört der Gesellschaft, nicht dem Staat, und das „Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens, des Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung“, das nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Meinungsäußerungen kennzeichnet, hat im Munde des Staates nichts zu suchen. Der Staat ist Adressat der Meinungsfreiheit, nicht ihr Träger. Er hat sie zu schützen und zu achten und zu pflegen, nicht zu konsumieren. Er hat Verfahren und Institutionen bereit zu stellen, die die geistige Auseinandersetzung unter freien und gleichen Verschiedenen möglich und offen halten. Nicht sie zu schließen, indem er sich selber ins Getümmel wirft. [...] Staat und Gesellschaft sind nicht so säuberlich zu trennen, wie es manch brave liberale Seele gerne hätte. Der Staat, der sich raushält, bezieht auch Position. Das vermeintlich Neutrale, Natürliche, Gewachsene ist fast nie neutral und natürlich einfach so gewachsen, sondern ist das Produkt gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, die es reproduziert und reproduzieren soll. Da ist immer irgendwo ein mehr oder minder formalisierter „Rat für deutsche Rechtschreibung“, dessen Ratschluss als neutral, natürlich und gewachsen erscheinen und durch den Staat, indem er sich raushält, als solcher anerkannt werden soll. [...] Der Staat, der sich raushält, bezieht auch Position. [...] Was immer das ist, liberal ist es nicht. (Max Steinbeis, Verfassungsblog)
Was Steinbeis hier völlig richtig beschreibt, ist auch aus der Außenpolitik bekannt. So existiert ja auch so etwas wie Neutralität nicht wirklich. Wer etwa im Krieg der Ukraine gegen Russland "neutral" ist, stellt sich auf die Seite Russlands. Wer im Zweiten Weltkrieg neutral war, unterstützte de facto Nazi-Deutschland (auch wenn Schweizer und Schweden das sicher gerne anders sehen würden). Wenn ich als Eltern mich aus einer Schlägerei meiner Kinder heraushalte, dann ist das nicht neutral; ich ergreife letztlich Partei für das stärkere Kind und/oder den Aggressor. Grundsätzlich und zwangsläufig führt Neutralität zu einer Unterstützung der etablierten Macht, zu einem Erhalt bestehender Systeme.
Nun ist der Erhalt bestehender Systeme, Strukturen und Dynamiken immer in irgendjemandes Interesse. Manchmal ist das ja sogar sinnvoll. Es kann im Interesse des Staates sein, sich aus Konflikten herauszuhalten. Es kann im Interesse des Staates sein, Position zu beziehen. Ob in der Innen- oder in der Außenpolitik. Was nicht möglich ist ist, eine allgemeingültige Regel zu formulieren, die die Auseinandersetzung erspart. Letztlich handelt es sich immer um Aushandlungsprozesse, egal bei welchem Thema. Und üblicherweise werden wir Eingriffe fordern oder ablehnen, wie es unseren eigenen Positionen entspricht.
2) Was nutzen Panzer ohne Ziele?
Was wir brauchen, ist Politik; genauer gesagt eine Politisierung der Waffenlieferungen an die Ukraine. Ein solcher Schritt mag auch zu innenpolitischen Konflikten führen, was viele Menschen angesichts der ernsten Lage nicht befürworten werden. Demgegenüber argumentiere ich jedoch, dass es primär darum gehen muss, gut begründete, aber streitbare Alternativen aufzuzeigen. [...] Interessen, Zielkonflikte und Wertentscheidungen sind integraler Teil von Politik. Die Politikwissenschaft hat deshalb zahlreiche Modelle entwickelt, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Eines davon, das sogenannte „governor’s dilemma“, betont zunächst einmal, dass Regierungen ihre Ziele meist nur indirekt erreichen können – mit der Unterstützung von Helfer*innen. Dies gilt sowohl in der Innen- als auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Das Dilemma besteht nun darin, dass diese Helfer*innen entweder sehr kompetent im Sinne der Zielerreichung sind oder dass sie sehr einfach zu kontrollieren sind. Aus der Perspektive der Regierung jedoch wäre beides wünschenswert: kompetente Helfer*innen, die leicht kontrollierbar sind; d.h. sie sollen effiziente Helfer*innen sein, aber nicht plötzlich unabhängig von der Regierung agieren und unter Umständen eigene Ziele verfolgen. Die Kontrollschwierigkeiten gründen einerseits auf mangelnder Information: Die Regierung ist nicht vor Ort und kann schlecht beurteilen, was die Helfer*in tut. Andererseits geht es vor allem um politische Macht: Je kompetenter die Helfer*in ihren Job macht, desto mehr Macht bekommt sie über die Regierung und desto stärker verliert letztere die Kontrolle. Das Problem für die Regierung ist nun: Der einzige Weg zurück zur Kontrolle ist, die Kompetenz der Helfer*in zu unterminieren. Dies ist das Dilemma: entweder hohe Kompetenz oder effektive Kontrolle. Beides gleichzeitig geht nicht. Aus dieser Perspektive sind deutsche Waffenlieferungen der Versuch, die Ukraine so kompetent wie möglich zu machen, um deutsche, vielleicht europäische Ziele und Interessen zu erreichen. [...] Das „governor’s dilemma“ zeigt auf, dass Waffenlieferungen nicht nur die Kompetenz der Ukraine zur Selbstverteidigung erhöhen, sondern gleichzeitig auch die Kontrollmöglichkeiten der unterstützenden Länder verringern. So lange sich die Interessen in sehr hohem Maße decken, wie dies heute der Fall ist, erscheint das als unproblematisch. Dies kann sich im weiteren Verlauf des Krieges jedoch ändern; die gelieferten Waffen werden bleiben. (Moritz Weiss, Verfassungsblog)
Dieser Artikel ist unbedingt lesenswert und für mich das erste überzeugende Argument gegen Waffenlieferungen. Ich merke anhand solcher Diskussionen immer wieder, dass ich in den letzten vier Jahren zwar einen rapiden Lernprozess in Sachen Außen- und Sicherheitspolitik hingelegt habe, dass aber Yodas Worte weiter voll zutreffen: Viel zu lernen du noch hast. Ich kann jetzt natürlich nicht beurteilen, inwieweit die Kompetenz der Ukraine in deutschem Interesse ist und wann die Grenze überschritten wird. Aber ich kann aus meinem eigenen Fachgebiet, der Geschichtswissenschaft, Beispiele ziehen. So etwa bekam es der Sowjetunion nicht übermäßig, sowohl Nordkorea als auch Nordvietnam zu ermächtigen: Nordkorea brach einen Krieg vom Zaun, den Stalin wahrlich nicht haben wollte, und Nordvietnam tat nie wirklich das, was Moskau gerne gehabt hätte. Umgekehrt kam die USA ihre Ermächtigung der Mudjaheddin in Afghanistan teuer zu stehen, denn das die gelieferten Waffen bleiben, wie Weiss das ausdrückt, war schmerzlich offenkundig. Angesichts solcher Dilematta bin ich immer wieder froh, keine Verantwortung in der Sicherheitspolitik tragen zu müssen.
Auf die Berichterstattung seiner Medien angesprochen, verteidigt er sie als angemessene Reaktion auf die alles dominierende linke Haltung der Konkurrenz. Wie so viele Vertreter der Rechten benutzt er das Wort «Elite» als Beschimpfung. Wie so viele von ihnen hat er sich in das Establishment eingefressen, gegen das er anschreiben lässt. Wie so viele verfügt er über ein Vermögen in Milliardenhöhe und bietet sich dennoch als Stimme der Übergangenen an. [...] Was Murdoch auszeichnet, hat er mit Richard III. gemeinsam, dem Mörderkönig von William Shakespeare: Ihn interessiert nur die Macht. Geld hat er genug, Ansehen braucht er nicht, auf den Respekt kann er verzichten. Kein Medienmann wird auf der Welt so gefürchtet und gehasst wie er. Das eine geniesst er, das andere ist ihm egal, mit ein Grund für seinen Erfolg. Denn Rupert Murdoch und Richard III. wissen, dass alle Menschen schlecht sind. Das macht sie überlegen, weil alle Menschen glauben, sie seien gut. (Jean-Martin Büttner, NZZ)
Ich finde, dass zwischen der Ablehnung der "Eliten" und dem Milliardärsstatus mit all seiner Macht durch Murdoch kein echter Gegensatz besteht. Das ist dasselbe wie bei Trump, der dieselben Instinkte bedient hat. Denn seine eigene Klasse verabscheut ihn ja auch. Sowohl Trump als auch Murdoch sind enfants terrible ihrer Klasse. Sie sind zu krass, haben zu wenig Stil, polarisieren viel zu sehr. Ihnen fehlt der Stil. Bei Trump ist völlig offensichtlich, dass der diesen Stil auch nicht will; er ist ein Proll mit viel Geld. Das ist ja auch der Grund, warum seine Basis ihn liebt, und ehrlich gesagt praktisch die einzige Qualität an ihm, die ich bewundere. Ich mag sein "Scheiß drauf" bei Etikette. Der Mann liebt Burger und Cola (verständlich), das Goldgeprunke in Architektur und Innenausstattung (unverständlich) und fühlt sich im Kasino oder Stripclub wohl (auch unverständlich). Keine Frage verabscheut er die Eliten, die in die Oper gehen und 30-Gänge-Menüs mit zwanzig verschiedenen Gabeln essen, und keine Frage verabscheuen sie ihn.
Bei Murdoch ist es etwas anders, der ist durch seine Konzentration auf Geld und das offensichtlich asoziale, geradezu bewusst bösartige Verhalten einfach abstoßend. Er reibt es jedem unter die Nase. Niemand mag solche Menschen. Anders als die meisten kann es sich Murdoch nur leisten, drauf zu scheißen, weil alle vor ihm kriechen müssen. Was er genießt und sie hassen. Meine Güte, Milliardäre. Ich hab schon mal erwähnt, dass die als Klasse nicht existieren sollten, oder?
Ein letzter Punkt, der mich an dem Artikel wirklich zu heftigem Kopfschütteln bringt: Nein, Menschen sind nicht alle schlecht. Das glauben Leute wie Murdoch, weil sie schlecht sind. Und um sich nicht eingestehen zu müssen, dass sie schlecht sind, behaupten sie, dass alle Menschen schlecht sind. Sie nennen das dann "ehrlich sein". Aber das ist nicht ehrlich, das ist das Gegenteil. Es ist gelogen und feige. Diese Menschen entscheiden sich dazu, schlechte Menschen zu sein, und weil wir als Gesellschaft beschlossen haben, dass ab einem bestimmten Vermögen ein Freibrief dafür ausgestellt wird, ein schlechter Mensch zu sein, kommen sie damit durch. Aber das ändert nichts daran, dass sie selbst autonom und eigenverantwortlich beschließen, schlechte Menschen zu sein. Das ist kein Naturgesetz. Lasst euch den Mist nicht einreden.
4) Republican Leaders Might Not Be Trying to Kill Social Security and Medicare. But Their Judges Are.
You might wonder: What does this skirmish over a small financial agency have to do with hundreds of billions of dollars in annual entitlement spending? The answer: everything. In her concurrence, Jones took pains to clarify that her reasoning was not limited to the CFPB. Jones announced that all “appropriations to the executive must be temporally bound.” If Congress does not put a “time limit” on funding, it gives the executive branch too much discretion over spending. Under the Constitution, she claimed, the executive must “come ‘cap in hand’ to the legislature at regular intervals” to ensure that it remains “dependent” and “accountable.” Judge Wilson approvingly cited this idea in his own opinion formally invalidating the CFPB, highlighting the “egregious” nature of the agency’s “perpetual funding feature.” [...] Does this principle derive from the Constitution? Of course not. The appropriations clause at question simply states that all money drawn from the treasury must be “in consequence of appropriations made by law.” There is no textual requirement that Congress reauthorize appropriations periodically. In fact, Article 1 of the Constitution suggests the exact opposite [...] Then again, it is currently impossible to predict how far this Supreme Court is willing to go. The conservative majority has repeatedly courted chaos, tossing out precedent higgledy-piggledy and leaving the country in a constant state of suspense over what the law is. The fact that we have to take this threat seriously is, in itself, a big part of the problem. Elected Republicans may have backed away from slashing Social Security and Medicare, likely because it would be incredibly unpopular. But the firebrands they put on the bench are entirely unaccountable to the voters. And their campaign to write Scott’s ideas into the Constitution cannot be stopped by any election. (Mark Joseph Stern, Slate)
Ich will nicht die alte Debatte weiterführen, wer damit angefangen hat, aber in unserer Gegenwart sind es in den USA die rechtsradikalen Richter*innen, die judicial activism betreiben und die Struktur des Landes tiefgreifend ändern. Das Land hatte schon immer ein bisschen ein gestörtes Verhältnis zur Jurisprudenz, aber aktuell nimmt das echt überhand. Angesichts lebenslanger Amtszeiten und weitgehenden Befugnissen ist das eine tickende Langzeitbombe im System. An der Stelle lobt man sich doch das deutsche Beamtenwesen.
5) Culture Wars: Why Democrats Should Run Towards The Sound Of Gunfire
Three thread lines comprise most Republican cultural wars: race, sex, and education. All three are losers for Republicans. [...] Democrats should run directly at these educational attacks. There is a reason suburban voters move to find better schools or spend thousands to send their kids to private schools. While Republican politicians increasingly view higher education as a gateway drug to socialism, these parents are more motivated by their kids getting into a good college than by fear of exposure to dangerous ideas. Educated at Yale and Harvard, a former teacher at the elite Darlington School in Atlanta, Ron DeSantis doesn’t believe a word he says about the dangers of so-called “woke” education. He’s clumsily playing to a small percentage of the electorate that votes in Republican presidential primaries. This might help him in the Iowa caucuses, which can be won with far fewer votes than the student enrollment at Florida’s larger universities, but it is a huge opportunity for Democrats to win a cultural war on education in a general election. One of my old clients, former Mississippi Governor Haley Barbour, a skilled political operative before he ran for office, liked to say, “Be for the future. It’s going to happen anyway.” Republicans have decided to be for an imaginary past, and it’s a gift to Democrats if only they seize the opportunity. You can win cultural wars. If you fight. (Stuart Stevens, Resolute Square)
Ich bleibe gegenüber dieser Argumentation zutiefst skeptisch. Ja, die republikanischen culture wars sind zutiefst unpopulär und dürften maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sie die letzten Wahlen verloren haben. Aber ich bin nicht wirklich überzeugt, dass die Democrats sich massiv hineinwerfen sollten. Klar, Stevens spricht sich hier für einen selektiven Kulturkampf aus, bei dem man nur den führt, der populär ist. Aber wie soll das in der Praxis funktionieren? Der Kampf für niedrige Steuern ist auch populär, und man schaue sich an, was die Tea Party da binnen kürzester Frist draus gemacht hat. Genauso haben die Democrats die Wahl 2020 beinahe wegen dem "Defund the Police"-Blödsinn verloren, und ich will gar nicht wissen, was die ganze Trans-Rechte-Diskussion die Partei gerade kostet. Ich halte es für völlig illusorisch, dass man einen Kulturkampf entfachen könnte, der sich dann mit klinischer Präzision auf die populären Teile beschränkt. Die Democrats tun gut daran, die Klappe zu halten, seriös zu sein, sich von der aktivistischen Basis zu distanzieren und gute Politik zu machen (siehe Fundstück 10). Und darauf zu hoffen, dass die Republicans sich selbst demontieren. Das hat jetzt schon drei Mal in Folge funktioniert.
6) Der Matilda-Effekt: Wie Frauen in der Wissenschaft unsichtbar werden
Doch woher kam diese fehlende Berücksichtigung der Arbeit von Wissenschaftlerinnen überhaupt? „Ich würde sagen, das liegt daran, dass Frauen lange in Positionen waren, in denen sie nicht als Autorinnen von Studien auftreten konnten“, sagt Hafner. Das habe sich erst in den letzten Jahrzehnten langsam geändert. Davor bekamen Wissenschaftlerinnen meist nur Assistenzstellen oder arbeiteten als Sekretärinnen, wurden nicht zu Dekaninnen oder Lehrstuhlinhaberinnen ernannt. Dazu mussten sie oft zusätzlich die Rolle der Hausfrau und Mutter übernehmen und wurden generell weniger ernst genommen als ihre männlichen Kollegen. Ein weiterer Faktor ist laut Hafner, dass viele Frauen mit ihren Ehemännern, die ebenfalls Wissenschaftler waren, zusammenarbeiteten und dadurch oftmals zwar wichtige Arbeit leisteten, am Ende aber nicht gewürdigt wurden – die Errungenschaften wurden ihren Ehemännern oder Kollegen zugeschrieben. Dabei spielte in der vergangenen Zeit wohl auch ein fehlerhaftes Verständnis von Wissenschaft eine Rolle. „Wissenschaft ist eine Gemeinschaftsleistung, und die Erkenntnisse werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben“, sagt Hafner in einer Podcast-Episode von Lost Women of Science. Lange habe aber die sogenannte Great-Man-Theory vorgeherrscht, die die Idee beschreibt, dass die Geschichte hauptsächlich von einzelnen Individuen, meist von Männern, bestimmt wird. [...] Trotz enormer Fortschritte im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit in der Forschung in den letzten Jahrzehnten, ist der Matilda-Effekt bis heute relevant: Nobelpreisgewinner sind noch immer hauptsächlich weiß und männlich, vor allem in den MINT-Kategorien, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Und auch abseits des Nobelpreises zeigt sich der Effekt bis heute. Während Frauen damals kämpfen mussten, um überhaupt ernst genommen zu werden, sind Überreste der misogynen Sichtweise von früher heute immer noch zu erkennen. Messbar ist das an der sogenannten Gender Citation Gap. Diese besagt: In wissenschaftlichen Arbeiten werden überproportional häufig männliche Forschende zitiert, während weibliche Forschende ausgelassen werden. (Lisa Lamm, National Geographic)
Es ist eigentlich nur logisch, dass in einer Gesellschaft, die Frauen marginalisiert und sie zu rechtlichen Anhängseln ihrer Männer macht, auch deren Leistungen den Eheleuten zugeschrieben werden. Aber ich muss zugeben, dass ich die Verbindung auch nicht wirklich gezogen habe. Dass Forscherinnen einfach als Assistentinnen oder schlicht Ehefrauen geführt wurden - und sich führen lassen mussten - ist in einem Land, das zum damaligen Zeitpunkt Frauen ein Universitätsstudium verbot, eigentlich logisch. Auf eine gewisse Art ist deswegen das Feiern von Marie Curie auch pervers. Sie war letztlich nur die erste Frau, von der wir offen wissen, dass sie forschte. Wie viele Frauen vor ihr wurden aus der Geschichte getilgt, allzu oft zugunsten ihrer mittelmäßigeren Ehemänner?
Weniger klar ist mir, wie sich diese Mechanismen so hartnäckig bis heute halten können. Leider geht aus Lamms Artikel nicht hervor, wie die Berechnung für die MINT-Fächer gemacht wurde. Denn gerade Informatik, Physik etc. sind ja in der Demographie der Studierenden unglaublich männerlastig. Spannender wäre die Untersuchung daher vermutlich bei den Geisteswissenschaften, in denen das Verhältnis ausgeglichener oder sogar frauenlastig ist. Gibt es den Effekt da auch? Denn wenn in Informatik nur 10-20% der citations für Frauen sind, würde das ja eigentlich repräsentativ sein. Weiß da jemand Genaueres? (Nicht, dass ich überrascht wäre, wenn es da strukturelle Diskriminierung gibt, mind you.)
Eine Zeitenwende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik würde nämlich weit mehr bedeuten, als nur die Bundeswehr auszurüsten und damit die Fehler der letzten Jahrzehnte zu beseitigen. Eine Zeitenwende, die diesen Namen verdient, müsste zuvorderst der Versuch sein, Strukturen und Prozesse daraufhin zu überprüfen, ob sie den Anforderungen, die auf Deutschland zukommen werden, noch angemessen sind. Und sie müsste zweitens, und nicht weniger dringlich, auf ein neues, anderes Verständnis von militärischer Macht und Verteidigung in der deutschen Politik und Gesellschaft abzielen. Deutschland muss wehrhafter werden. Wenn das nicht gelingt, bleibt am Ende von der Zeitenwende bestenfalls eines übrig: eine voll ausgerüstete Bundeswehr. [...] Zunächst müsste Verteidigung breiter und umfassender gedacht werden. Sie ist heute mehr als lediglich der Einsatz militärischer Macht. Ein direkter Angriff auf Deutschland oder einen der Verbündeten ist nur ein Szenario unter vielen der Kriegsführung im 21. Jahrhundert. [...] Ein Wandel würde aber auch bedeuten, dass das Denken über den Einsatz militärischer Macht und deren Androhung verändert werden muss. [...] Wenn Regierung und Parlament nicht beständig für die Einsätze werben und die politischen Ziele erläutern, dann darf es niemanden wundern, dass Menschen von der Notwendigkeit der Präsenz der Bundeswehr in fernen Ländern nicht überzeugt sind. Regierung und Parteien werben ja auch beständig für die nächste Steuer- oder Gesundheitsreform. Nur in der Außen- und Sicherheitspolitik: betretenes Schweigen. [...] Es gibt viele solcher Beispiele. Sie alle zeigen: Das außen- und sicherheitspolitische System der Bundesrepublik agiert wie in tiefsten Friedenszeiten. Alles muss seinen geregelten Gang gehen, und jeder hat Angst vor dem Bundesrechnungshof. (Carlo Masala, ZEIT)
Einmal davon abgesehen, dass die es geschafft haben, das Sondervermögen von 100 Milliarden auf 83 Milliarden zu reduzieren, ehe auch nur ein Cent ausgegeben wurde - Masala hat natürlich völlig Recht, wenn er erklärt, dass eine Zeitenwende ohne einen Mentalitätswandel kaum vorstellbar ist. Das betrifft viele Ebenen. Das Image der Bundeswehr ist völlig im Keller - siehe Fundstück r) im letzten Vermischten - aber ich halte die fehlende strategische Kultur in der Politik für viel schlimmer. Die deutsche Politik hat zumindest gefühlt überhaupt keine Ahnung, was sie mit einer Bundeswehr überhaupt anfangen will, egal wie gut oder schlecht diese ausgerüstet ist. Das ist eine Grundsatzdebatte, die das Land nach wie vor scheut, und solange die nicht kommt, sehe ich wenig, was da helfen kann.
Die Sächsische Härtefallkommission hat den Antrag des Chemnitzer Vietnamesen Pham Phi Son und seiner Familie auf ein humanitäres Bleiberecht am Freitag abgelehnt. Sie entschied nach intensiver Beratung mehrheitlich, „dass kein Härtefall vorliegt“, hieß es aus Dresden. Eine Begründung erfolgte nicht, die Kommission tagt vertraulich. Damit sind Son, seine Frau und die sechsjährige Tochter Emilia ausreisepflichtig. Pham Phi Son kam 1987 als Vertragsarbeiter in die DDR und lebte als unbescholtener Bürger in Chemnitz. Er arbeitete sein halbes Leben in der Gastronomie und hatte eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. 2016 machte er einen Fehler: Er verlängerte seinen Vietnam-Urlaub aus gesundheitlichen Gründen auf neun Monate. Erlaubt sind allerdings maximal sechs Monate, sonst erlischt das Aufenthaltsrecht. Der Fehler fiel den Chemnitzer Behörden ein Jahr später auf, als Son Vater geworden war. Sie löschten den Aufenthaltstitel der Familie und kündigten von Amts wegen Sons Arbeitsplatz und seine Wohnung. [...] Allerdings hatte Chemnitz den Eltern letzten Herbst endlich eine Arbeitserlaubnis ausgestellt. Beide Ehepartner arbeiteten seitdem als dringend benötigte Arbeitskräfte in einem Gastronomiebetrieb. Mit der Entscheidung der Härtefallkommission vom Freitag sind sie die Arbeitserlaubnis allerdings wieder los, das Restaurant verliert zwei Arbeitskräfte. „Ich bin sehr enttäuscht von der demokratischen Gerechtigkeit in Deutschland“, sagt Son Phi Pham der taz. „Die Härtefallkommission sollte die Menschenrechte vertreten. Haben die Leute kein Herz?“ (Marina Mai, taz)
Das hat nichts mit Herz zu tun. Einwanderungsrecht ist keine Herzenssache. Im Rechtsstaat entscheidet die Rechtslage, nicht die Emotion. Deswegen habe ich Merkel für ihre Antwort beim "Streicheln" Reehm Sahwils 2015 auch immer verteidigt. Es wäre ja noch mal schöner, wenn die Bundeskanzlerin einfach aus Sympathie geltendes Recht aushebeln und Einzelfallentscheidungen treffen könnte. Nein, "Herz" ist die falsche Kategorie. Die richtige Frage ist: Haben die Leute kein Hirn? Der Mensch lebt seit 1987 (!) in Deutschland. Der arbeitet hier (noch dazu in einem Job, den kein Alman freiwillig machen will und in dem händeringend nach Arbeiter*innen gesucht wird), zahlt Steuern, finanziert den Sozialstaat, hat Frau und Kind hier. Wie bescheuert ist die Rechtslage, dass der Mensch nicht längst aus Gewohnheitsrecht den deutschen Pass bekommen hat (ich fordere das seit ewig)? Wie beknackt kann man mit seinem Einwanderungsrecht denn sein?
9) Mourning ‘Compassionate Conservatism’ Along With Its Author
The most tangible legacy of compassionate conservatism had been highlighted just two nights earlier in the State of the Union address when President Biden hailed the 20th anniversary of the President’s Emergency Plan for AIDS Relief, or PEPFAR, conceived and initiated by Mr. Bush and Mr. Gerson. PEPFAR is credited with saving more than 25 million lives in Africa and around the world, a generation of people that would otherwise have been wiped out. [...] But the younger Mr. Bush made compassionate conservatism a centerpiece of his 2000 campaign for president, an effort to turn the corner on the hard edge of Newt Gingrich’s Republican revolution. Instead of what Karen Hughes, a Bush adviser, called “grinchy old Republican” promises to cut aid to the poor and deport illegal immigrants, Mr. Bush advocated more federal assistance to schools to fight the “soft bigotry of low expectations,” one of Mr. Gerson’s signature phrases. The idea was to advance liberal goals with conservative means — mobilizing, for instance, faith-based institutions to help the needy or tying increased education aid to increased testing or incorporating free-market principles while expanding Medicare to cover prescription drugs. [...] Mr. Gerson’s vision of compassionate conservatism, however, has not endured with the same success. The attacks of Sept. 11, 2001, transformed Mr. Bush’s presidency into a wartime administration and his decision to invade Iraq, with the resulting casualties and devastation, dispelled any sense of a compassionate time. Mr. Gerson, who helped craft the “axis of evil” address, never publicly expressed regret for his role in selling the war. (Peter Baker, New York Times)
9/11 und der Irakkrieg überschatten (völlig zu Recht) den Rest der Ära Bush, aber es ist wichtig sich daran zu erinnern, dass Bush die Wahl 2000 gewonnen hat, indem er den "compassionate conservatism" ausrief. Bush kritisierte seinerzeit die Interventionen und forderte WENIGER Einsatz amerikanischer Truppen! Er beklagte (reichlich heuchlerisch, bedenkt man seine Wahlkampfmethoden) die Verrohung der politischen Öffentlichkeit. Und vor allem vertrat er eine solidarische Vision. Das war keine, die ich teilen würde - ich halte wenig davon, wenn der Staat seine Aufgaben auf private Akteure und vor allem auf Kirchen abschiebt - aber es war eine mehrheitsfähige Position (fast). Das unterscheidet Bush und seine GOP von 2000 von den folgenden 23 Jahren und erklärt auch, warum die Leute kein einziges Mal eine Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung gewinnen konnten. Da gerne und häufig (und teils auch zurecht) die Democrats an Bill Clintons Erfolgsstrategien erinnert werden, sollten die Republicans sich vielleicht mehr an Bush erinnern - nicht an seine eigentliche Amtszeit, aber an den Wahlkampf davor.
10) Joe Biden Is a Mediocre Liberal. But he’s proved to be a successful president anyway.
Biden had a grand vision to complete the welfare state, but as Joe Manchin and other centrists lowered the ceiling for new social spending, Democrats couldn’t decide which initiatives to keep and which to scrap. They wound up abandoning nearly all of it when Biden’s Build Back Better program floundered in the Senate. Instead, he settled for a scaled-down program to allow Medicare to negotiate the cost of some prescription drugs and an incremental hike in subsidies for Obamacare insurance plans, and even those will expire within a few years unless extended by Congress. It is a small fucking deal. Where Biden has enjoyed unexpected levels of success is in driving new public investment. Three huge laws — the CHIPS and Science Act, the Infrastructure Investment and Jobs Act, and the Inflation Reduction Act — plowed hundreds of billions of dollars into funding for scientific research; manufacturing of semiconductors, advanced batteries, and other items; and internet, public transit, and electric-vehicle chargers. The first two of these measures passed with support from Republicans, reflecting a consensus on the need to make the American economy more self-reliant and to rebuild its manufacturing capacity. What is most ironic about this is that it was Donald Trump who campaigned on grandiose promises of reopening the factories that began closing in the 1970s and turned towns across the middle of the country into economic wastelands. But Trump delivered only culture war for his hopeful and desperate supporters, while Biden devised and passed measures to actually bring that vision of new opportunities for blue-collar workers into reality. [...] While Biden fell short in those aspects of the presidency where Obama and even Clinton succeeded, he succeeded where Trump had failed. He has turned out to be a mediocre liberal but a surprisingly competent nationalist. [...] More recently, however, his fortunes have improved. Biden deftly worked the levers available to him to manage inflation, untangling knots in the supply chain and using the strategic petroleum reserve to smooth out gasoline prices. Prices have settled back down even as job growth has remained strong. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Bidens Amtszeit ist tatsächlich ziemlich faszinierend. Wirtschaftspolitisch waren die USA Europa schon in den Obamajahren um Lichtjahre voraus, aber aktuell ist gut sichtbar, auf welcher Seite des politischen Spektrums die entsprechende Kompetenz liegt. Nebenbei bemerkt ist es auch faszinierend, dass Biden sein Wahlkampfversprechen einlösen und die Unterstützung von Republicans für seine Investitionsagenda bekommen konnte. Anders als bei Obama entschied sich die Partei dieses Mal nicht, lieber das Land zu zerstören als ihrem Gegner einen politischen Sieg zuzugestehen. Das liegt mit Sicherheit nicht an der Hautfarbe des Präsidenten.
Resterampe
a) Je mehr man über Elon Musk erfährt, desto mehr fragt man sich, wie so jemand a) so reich werden konnte und b) wie so jemand so viel Macht haben kann.
b) Eine Folge der Inflation: Klassenfahrten werden immer schwieriger, weil die Preise explodieren.
c) Republicans finanzieren zwar jede noch so kleine christliche Sekte, aber blockieren alles, was Geld an Atheisten geben würde.
d) Baerbocks Antwort auf den neuen "Offenen Brief" ist klasse.
e) Thread zur Dauerdebatte um "Politisierung der Wissenschaft".
f) Jan Feddersen zerreißt in der taz den Offenen Brief von Wagenknecht und Schwarzer.
g) Die Haltung der Bevölkerung zu Corona und den Folgen passt überhaupt nicht zu der darum geführten Debatte. Siehe auch hier.
h) Ein weiteres Beispiel dafür, dass "Prinzipien" eigentlich immer ex-facto Rechtfertigungen der eigenen Vorlieben sind.
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