Geoffrey Parker - Global Crisis. War, Climate Change and Catastrophe in the Seventeenth Century (Hörbuch)
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Nachdem Parker nun mehrere Detailstudien verschiedener politischer Einheiten im 17. Jahrhundert und ihre Reaktionen auf die Krise der Kleinen Eiszeit und die verheerenden Kriege geschildert hat, wird er im letzten Abschnitt des Buchs - "Confronting the Crisis" - grundsätzlicher und versucht sich an einer Synthese mehrerer Trends, Dynamiken und Faktoren.
Im siebzehnten Teil, ""Those who have no means of support": The Parameters of Popular Resistance", beschäftigt sich Parker mit Widerstandsbewegungen. Grund genug dafür hatten die Bevölkerungen der Welt im 17. Jahrhundert ja durchaus. In den allermeisten Staaten unterlagen sie einer erdrückenden Steuerbelastung, mussten mit zusätzlichen Abgaben und Pflichten wie der Einquartierung von Soldaten zurechtkommen und litten unter arbiträren Maßnahmen und ungerechten Verhältnissen. So ist einerseits wenig überraschend, dass sich die Zahl der Aufstände rund verdreifachte, aber andererseits auch überraschend, wie wenig Aufstände es gegen die katastrophalen Lebensbedingungen insgesamt trotz allem gab.
Leider gar nicht überraschend ist, dass die allermeisten dieser Aufstände keinen oder wenigstens keinen dauerhaften Erfolg hatten. Ohne institutionelle Verankerung - also Bevölkerungsschichten, die eine Revolution unterstützten und einen neuen Staat tragen konnten - blieben sie meist lokale, wütende Strohfeuer, die die Autoritäten zwar beschäftigten und herausforderten und für neue Kosten und Probleme sorgten, aber ihre jeweiligen Staaten nicht existenziell gefährdeten.
Üblicherweise brachen Revolten als Folge von Steuererhöhungen oder Hungersnöten aus. Besonders gefährlich waren Situationen, in denen viele Menschen auf den Straßen waren, etwa am Markttag, und einzelne Aufrührer die Menge aufwiegeln konnten. Dies waren überraschend häufig Frauen (die dann gerne aus der Geschichte herausgeschrieben wurden, weil die männlichen Autoritäten nicht glauben konnten, dass Frauen für so viel Ärger verantwortlich waren), schon allein, weil diese ihre Waren in den Straßen feilboten und sozial vernetzt waren.
Die Erfolgswahrscheinlichkeit solcher Aufstände hing von zwei Faktoren ab: die Verfügbarkeit von Waffen und der Fähigkeit, sie zu benutzen - sobald Veteranen und Soldaten sich dem Aufstand anschlossen, stieg die Gefahr für die Autoritäten um ein Vielfaches - sowie die Verfügbarkeit von Menschen auf den Straßen. Die erwähnten Markttage waren daher besonders gut geeignet zum Auslösen eines Aufstands, genauso wie religiöse Feiertage. So brach eine der schlimmsten spanischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts in Katalanien am Corpus-Christi-Feiertag aus, während die Aufstände in Neapel ebenfalls an einem Feiertag ausbrachen.
Diese Aufstände folgten teils ritualisierten Abläufen. Die Schlachtrufe - vor allem "Es lebe der König, Tod der schlechten Regierung" glichen sich durch Europa hindurch. Richteten sich die Aufstände gegen die ausbeuterischen Reichen, wurde nicht geplündert, sondern der Besitz der Reichen ostentativ verbrannt. Man warnte teilweise sogar die weniger wohlhabenden Nachbarn vor, dass man gedachte, die Häuser der Reichen niederzubrennen, damit diese Schutzmaßnahmen ergreifen konnten. Diese Ritualisierung schlug sich auch in der staatlichen Reaktion nieder, die insgesamt erstaunlich wenig Todesurteile verhängte und in den meisten Fällen recht nachsichtig mit den Aufständischen umging.
In diesen Kontext gehört auch die wesentlich gewaltlosere Art des Widerstands, das Verfassen von Petitionen. Eine wahre Flut dieser Eingaben ging bei den Monarchen ein, und auch sie waren erstaunlich oft erfolgreich (wie auch die Aufstände häufiger durch ein fürstliches Entgegenkommen "belohnt" wurden). Man wird den Eindruck nicht los, dass die Rebellionen und Angriffe Teil eines sozialen Aushandlungsprozesses waren, der sich mangels institutionalisierter politischer Teilhabe nicht anders als plötzlich und gewalttätig Bahn brechen konnte.
Im achtzehnten Teil, ""People who hope only for change": Aristocrats, Intellectuals, Clerics and "dirty people of no name"", befasst sich Parker näher mit jenen Schichten, die einen erfolgreichen Aufstand ungleich wahrscheinlicher machen - und die ihrerseits oftmals Quellen solcher Aufstände sind. Im 17. Jahrhundert studierte eine überraschend große Zahl von Menschen. Die großen Universitäten des Europas - von Salamanca über Bologna zu Oxford - exmatrikulierten jedes Jahr eine vierstellige Zahl erfolgreicher Absolventen. China produzierte eine gigantische Masse an Gelehrten. Das schaffte zwei Probleme.
Problem Nummer eins war, dass die schwache Wirtschaft des 17. Jahrhunderts keinen Bedarf für so viele Gelehrte hatte. Den wenigen Stellen in den staatlichen Bürokratien und der Kirche stand ein Vielfaches an hoch qualifizierten Bewerbern gegenüber, die von Lissabon über Istanbul bis Beijing ein Akademikerproletariat begründeten, das ob seiner verbauten Lebenschancen unzufrieden war und gegen den Staat opponierte.
Problem Nummer zwei war, dass besonders gebildete Menschen auch besonders gut Kritik artikulieren und organisieren können. Nicht von ungefähr erachtete Thomas Hobbes Universitäten als die gefährlichsten Orte des Landes. Meine These wäre, dass der Erfolg, den die europäischen Länder in den folgenden Jahrhunderten hatten, mit der politischen Instabilität des 17. Jahrhunderts erkauft wurde: anders als im Tokugawa-Japan sorgte dieser hohe Gelehrtenstand für Innovation, die Einübung von Kritik und ihre eloquente Ausformulierung für eine vitale Grundlage der Aufklärung und des Liberalismus.
Im 17. Jahrhundert war Bildung noch beinahe gleichbedeutend mit theologischer Bildung. Die Kritik berief sich auf biblische Traditionen; ansonsten wurde sehr gerne auf die mythisch überhöhte Vergangenheit verwiesen. Städte forderten eine Restitution ihrer mittelalterlichen Rechte, Herrscher wurden mit jahrhundertealten Beispielen angeblich viel besserer Herrscher konfrontiert; die Gegenwart wurde generell als Verschlechterung gegenüber der goldenen Vergangenheit gesehen. Das war das normale Geschichtsbild, seit Jahrhunderten eingeübt, und sollte erst in der Aufklärung und vor allem Industrialisierung durch ein progressives Geschichtsbild abgelöst werden. Die Massenbewegungen der Zeit waren ideologisch aber alle religiös durchdrungen.
Der relativ hohe Bildungsstand war ein bis ins 19. Jahrhundert unerreichtes Phänomen. Zwar bewegten sich die Zahlen der Gebildeten verglichen mit dem 20. Jahrhundert immer noch auf einem niedrigen Niveau, erreichten aber mit rund 20% trotzdem erstaunliche Ausmaße. Zum ersten Mal überhaupt sei eine Öffentlichkeit mit Kommunikationskanälen geschaffen wurden. Deren Geschwindigkeiten überraschten die trägen Regime der Zeit immer wieder und führten dazu, dass selbst kleine Gruppen große revolutionäre Effekte haben konnten, weil ihre Botschaften sich rapide verbreiteten.
Im neunzehnten Teil, ""People of heterodox beliefs...who will join up with anyone calls them" - Disseminating Revolution", befasst sich Parker mit der Rolle der Religion und anderen Glaubensrichtungen (inklusive der Radikalen), die revolutionstreibend waren. Das 17. Jahrhundert sei das letzte gewesen, in dem in Europa Religionskonflikte eine treibende Kraft waren. Die Schrecken vor allem des Dreißigjährigen Krieges, aber auch des englischen Bürgerkrieges und anderer Konflikte der Epoche sorgten dafür, dass alle Seiten Anstrengungen unternahmen, die theologischen Konflikte zu entschärfen.
Gleichzeitig war das Jahrhundert auch eines der revolutionären Bewegungen. Diese waren bei weitem nicht so erfolgreich wie im 18. Jahrhundert, aber dafür waren sie häufig. Aufstände und Rebellionen gehörten quasi zum Standardrepertoire, und das Aufhetzen von Bevölkerungsgruppen geschieht mit schöner Regelmäßigkeit und wurde durch Unterdrückung von heterodoxen Glaubensrichtungen beständig angeheizt, wie man ja auch gut an den einzelnen Beispielen sehen kann.
Von hier führt Parker in den fünften Abschnitt, "Beyond the Crisis", über. Es geht ihm nun um die Frage der großen Folgen der Krise des 17. Jahrhunderts für die Welt - und warum Ende des 17. Jahrhunderts viel weniger Unruhe und Aufstände herrschten als zu seiner Mitte, ein Fakt, das er mit gestiegener Resilienz erklärt.
Im zwanzigsten Teil, "Escaping the Crisis", behandelt Parker die Arten, mit denen Menschen sich der Krise des 17. Jahrhunderts entzogen. Drei Strategien sind hier zentral und nicht spezifisch für die Epoche, aber schwer nachzuweisen, da sie in den Quellen selten Spuren hinterlassen: Selbstmord, Flucht und Eskapismus. Selbstmorde wurden während der Krise wesentlich häufiger; ihre Spuren sind teilweise in den Gerichts- und Kirchenakten zu finden (weil Selbstmörder*innen ein Kapitalverbrechen und eine Todsünde begingen). In den europäischen Armeen sind zudem erste Diagnosen für das zu finden, was wir heute PTSD nennen. Üblicherweise wurden die Opfer als untauglich aus der Armee entlassen; sie begingen überdurchschnittlich häufig Selbstmord.
Der Eskapismus ist gerade Literaturwissenschaftler*innen (und allen, die je bei mir in der 11. Klasse Deutsch hatten) bekannt: die Leute versuchten, sich durch Sünde abzulenken, von Sex über Alkohol bis zu Partys. Sex, Drugs and Rock'n Roll, gewissermaßen. Parker listet zahlreiche Beispiele dafür. Tabak, Schokolade, Tee und Kaffee kamen als neue Drogen zu den bekannten hinzu und waren seinerzeit wohl wesentlich potenter als heute. Die Staaten versuchten, durch hohe Steuern und/oder drakonische Strafen der Lage Herr zu werden (Todesstrafe für Rauchen im Osmanischen Reich und Russland), ohne Erfolg.
Der einundzwanzigste Teil, "From Warfare State to Welfare State", beschreibt dann die eher institutionellen Reaktionen. So schrieben die Zeitgenoss*innen zahlreiche Pamphlete, in denen sie sich für multilaterale Organisationen einsetzten, die dann 1919 und 1945 in Völkerbund und UNO realisiert werden würden. Auch ein internationaler Strafgerichtshof war schon unter den utopischen Ideen, eine Ächtung von Krieg und vieles mehr, das unserer heutigen liberalen Weltordnung bekannt vorkommt. Das wurde dann zwar alles nicht umgesetzt, aber die Einsicht, dass die langen Kriege des 17. Jahrhunderts wenig gebracht und viel gekostet hatten, sorgten in der Folgezeit doch für eine deutliche Abnahme bewaffneter Konflikte.
Auffällig ist auch die Geschwindigkeit der Erholung. Genauso wie nach dem Zweiten Weltkrieg bemerkten schon Zeitgenoss*innen, dass die Verheerungen wesentlich schneller aufgeholt wurden, als man hätte annehmen können (wenngleich die Quellen, wie Parker richtig anmerkt, deutlich unter Survivor's Bias leiden). Migration und oft großzügige Steuer- und Anreizpolitik seitens der Fürsten trugen massiv dazu bei. Der Staat wurde überhaupt wesentlich aktiver. Parker beschreibt dies als den "Blick des Staates", der begann, seine eigene Domäne mehr zu erfassen. Ludwig XIII. etwa ließ sich Modelle seiner Festungen erstellen, um auch ohne dorthin zu reisen zu wissen, wie diese aussahen und bei Belagerungen auf dem Laufenden zu sein. Zum ersten Mal erhoben die Herrschenden ausführliche Statistiken, die grafisch aufbereitet wurden.
Die Wissenschaft steckte natürlich noch in den Kinderschuhen, die Daten wurden mit geradezu rührender Naivität behandelt. Aber auch auf anderen Gebieten wurde der Staat wesentlich sichtbarer. Ausgehend von Amsterdam wurden dauerbrennendende Lampen installiert und Nachtwachen eingerichtet, was die Kriminalität deutlich senkte. Natürlich kostete das alles Geld. Das 17. Jahrhundert sah in den meisten Staaten auch ein Ende der lange aufrechterhaltenen Weigerung, die Reichen irgendwelche Steuern zahlen zu lassen. Hatten die Konsumsteuern noch Mitte des 17. Jahrhunderts ständig zu Aufständen geführt, wurden sie Ende des gleichen Zeitraums von Zeitgenoss*innen gelobt, denn die damit finanzierten merklichen Verbesserungen der Lage und die Tatsache, dass alle nun endlich einmal überhaupt irgendwelche Abgaben bezahlten, war eine wesentliche Änderung.
Weiter geht's im finalen Teil 6.
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