Dienstag, 21. Februar 2023

Rezension: Matt Kindt - Mind MGMT

 

Matt Kindt - Mind MGMT (Teil 1, Teil 2, Teil 3)

Die fiebrige Paranoia von Spionagegeschichten übt nicht erst seit James Bond eine unwiderstehliche Faszination aus. Geschichten von hyperkompetenten Agenten, die mit der Lizenz zum Töten im Auftrag ihrer jeweiligen Agentur irgendwelche geheimen Missionen durchführen, bestenfalls unter wenigstens halbherziger Kontrolle, gehören zum Standardrepertoire der Popkultur. Matt Kindt dreht dieses Szenario mit Mind MGMT noch eine Stufe weiter. Was wäre, wenn es Menschen gäbe, die dank Talents und außergewöhnlichen Trainings in der Lage wären, ihr Bewusstsein soweit zu schärfen, dass sie Kontrolle nicht nur über ihre Körper, sondern die stoffliche Welt ganz allgemein bekommen? Das Resultat ist die Spionageagentur "Mind Managment". Den Spuren dieser Agentur nachzuspüren ist der zentrale Gegenstand dieses Graphic Novels. Und doch springt man mit dieser Beschreibung wesentlich zu kurz.

Denn Mind Managment ist keine leicht erzählte Geschichte, sondern verbindet zahlreiche Perspektiven mit Rückblenden, Reports und kunstvoll eingewebten, scheinbar zufälligen Fragmenten, die von Tagebucheinträgen bis Storyboards reichen können und die Möglichkeiten des Comic-Mediums voll ausschöpfen. Der Hauptcharakter der Reihe ist Meru, eine investigative Journalistin, die ein Buch über den "Amnesie-Flug" schreiben will: ein Flugzeug, in dem sämtliche Passagiere und Personal ihr Gedächtnis verloren - bis auf eine Person, die verschwunden ist. Die Recherche bringt Meru auf die Spur von Mind Managment und den verschwunden Ex-Agenten, einen Mann namens Henry Lyme. Mind Managment wurde bereits vor Beginn der eigentlichen Geschichte aufgelöst, und es wird schnell klar, warum: die Agenten waren kaum zu kontrollieren, ihre Fähigkeiten und die Missionen, auf denen sie eingesetzt wurden, in höchstem Maße unethisch. In Rückblenden vor jedem Kapitel erfährt man von einer Person und ihrer Geschichte mit Mind Managment, und eine ist erschreckender als die nächste und führt in die Abgründe der Psychologie und einer Organisation, die sich keinen Grenzen unterwerfen wollte.

Henry Lymes Geschichte - er distanzierte sich zunehmend von einer Welt, deren Echtheit er durch seine Fähigkeit zur Manipulation nicht mehr erkennen konnte und zerstörte in einem depressiven Anfall die Stadt Sansibar praktisch vollständig - stößt Meru ab, die nichts mit den Psychopathen der Agentur zu tun haben will. Aber ihre eigenen latenten Fähigkeiten bringen sie in den Fokus des "Erasers", der versucht, übrige Agenten zu rekrutieren und Mind Managment neu zu gründen - eine Mission, die Henry Lyme verhindern will, der seinerseits alte Kolleg*innen reaktiviert. Wer von den beiden einen Anspruch auf moralische Überlegenheit hat, ist unklar - auch für Meru, die am Ende des ersten Bandes eigene Wege geht.

Bereits der erste Band führt beständig neue Charaktere ein, bei denen unklar ist, ob sie eine größere Rolle spielen werden oder ob sie nur schmückendes Beiwerk sind, Illustrationen der verschiedenen Tätigkeitsbereiche von Mind Managment. Und auf der Meta-Ebene ist deutlich, dass die zahlreichen verschiedenen Fähigkeiten eine Spielwiese für Matt Kindt sind, um verschiedenste Ideen auszuprobieren. So gibt es Agent*innen, die in der Lage sind, "Anschlagsbriefe" zu schreiben oder tödliche Werbetafeln zu generieren. In der Ausbildungsstätte von Mind Managment gibt es Mönche, die in der Lage sind, objektiv die Weltgeschichte aufzuzeichnen. Ein Agent ist in der Lage, alles mit einem Hieb zu zerstören, indem er den Schwachpunkt jeder Struktur oder jedes Lebewesens ausmacht. Und so weiter.

Während die "Unsterblichen" (Agenten, die in der Lage sind, ihre Körper zu heilen und daher praktisch nicht sterben können) zusammen mit dem "Eraser" unklare Pläne verfolgen (es ist bezeichnend, dass keine der Perspektiven sich mit ihrer Gruppe befasst und sie im Dunkeln bleiben), sucht Lyme mit seiner Gruppe (unter anderem mit einer Romanschreiberin, deren Geschichten die Realität beeinflussen können; die Ideen Kindts sind wahrlich faszinierend) nach Möglichkeiten, sie zu stoppen - während Meru nichts weiter will als von all dem in Ruhe gelassen zu werden.

Im zweiten Band expandiert die Geschichte weiter. Nicht nur wird offensichtlich, dass - eigentlich naheliegend - die Sowjets im Kalten Krieg ein Äquivalent zu Mind Managment aufbauten, das ebenfalls Agenten trainierte, bevor es aufgelöst wurde, die immer noch als Schläfer aktiv sind und nun von beiden Seiten rekrutiert werden; hinter den Machenschaften des "Erasers" steht auch mehr als nur ein Plot zur Weltherrschaft. Immer stellt sich erst Meru, dann auch die Lesenden die Frage, wem man hier eigentlich zum Erfolg verhelfen sollte - wenn überhaupt jemandem.

Dies wird besonders an der Plotlinie deutlich, in der beide Seiten versuchen, eine Illusionsmagierin zu rekrutieren. Deren Fähigkeiten beruhen - wie so viele Fähigkeiten der Mind-Managment-Agent*innen - zu einem großen Teil darauf, dass das Publikum ihr glaubt (überhaupt ist es ein Leitmotiv der Geschichte, dass die Fähigkeiten zu einem Großteil Autosuggestion der Opfer sind). Die Magierin lebt inzwischen ein ordentliches Leben als Bühnenzauberin. Als Meru und ihr Team sie aufsuchen, sprengen sie aus Versehen ihre Vorstellung, weil Meru ihre Fähigkeiten unterdrückt.

Denn wie sich mittlerweile herausgestellt hat, ist Merus Hauptfähigkeit - die sie zur mächtigsten Figur des ganzen Dramas macht - die Fähigkeiten aller anderen um sich herum abzuschalten. Genau das passiert nun hier: das Bühnenkunststück bricht zusammen, und die Illusion der Magierin, die sich selbst als deutlich jünger und schöner präsentiert als sie ist, mit ihr. Ihr Leben ist zerstört; sie verliert Ruf und Job. Deswegen schließt sie, die eigentlich bereits dem Eraser gesagt hatte, kein Interesse zu haben, sich nun diesem an - denn der habe sie nur gefragt, während Meru und Lyme ihr Leben zerstört haben.

An dieser Stelle wird ein weiteres Leitmotiv der Serie explizit: die Kollateralschäden, die die Agenten in ihren Missionen und Machtspielen anrichten - deren Zweck wohl absichtlich völlig unklar bleibt, aber in zahlreichen Rückblenden zu früheren Agent*innen der Agentur als weltumspannend aufgezeigt wird - sind immens, ohne dass je klar würde, welche positiven Effekte verfolgt würden. Es ist allseits akzeptiert, dass er Eraser wahlweise aufgehalten werden muss oder dass es Mind Managment braucht, aber zu welchem Zweck ist völlig unklar. Das sieht man gut an der Konkurrenzorganisation der Sowjetunion im Kalten Krieg, die als Reaktion auf Mind Managment aufgebaut wurde und, typisch Sowjet, mit noch mehr Ruchlosigkeit, aber ähnlicher Obskurität in den Zielen agierte. USA und UdSSR kamen überein, gegenseitig beide Einrichtungen aufzulösen, weil die Schäden größer als der Nutzen waren; die Massenvernichtungswaffenparallele ist offenkundig.

Diese Kollateralschäden treten im dritten Band immer offener zutage, als auch der Hintergrund des Erasers deutlicher wird. Wie so viele ehemalige Agent*innen ist ihr Bewusstsein verdreht und beschädigt und von Paranoia zerfressen. In einem eigenen Kapitel, das komplett ihrer Hintergrundgeschichte gewidmet ist, zeigt sich auch die Verselbstständigung von institutionellen Dynamiken: der Versuch, Mind Managment aufzulösen, scheitert trotz der erklärten Absicht sowohl des US-Präsidenten und des KPdSU-Generalsekretärs und der jeweiligen Behördenchefs an Agent*innen wie dem Eraser, die ihre Mission längst so verinnerlicht haben, dass sie unwillens sind, die Auflösung hinzunehmen.

Der große Rekrutierungsschub, den der Kampf zwischen Lyme und Meru einerseits und dem Eraser andererseits auslöst, zeigt dies deutlich. Die meisten ehemaligen Agent*innen sind verlorene Seelen, unfähig, wieder in die normale Gesellschaft integriert zu werden. Wenn sie eine erfolgreiche Existenz aufgebaut haben, dann oft genug durch Missbrauch ihrer Fähigkeiten; nicht wenige, sind zu Serienkillern oder anderen degenerierteren Elementen geworden. Der Rekrutierungsfeldzug des Erasers ist auch deswegen so erfolgreich, weil sie mit dem Wiederaufbau von Mind Managment einen neuen Zweck verspricht, eine Rückkehr in bekannte Muster. Dass dieser Aufbau gar kein Ziel hat außer der Institutionalisierung von Macht selbst - der Eraser spricht davon, dass sie die Organisation anführen will; zu welchem Zweck ist völlig nebensächlich. Kein Wunder tun sich Lyme, Meru und ihre wenigen Verbündeten so schwer, irgendjemanden für ihre Sache zu finden: wer sich nicht ohnehin bereits komplett von dieser Welt verabschiedet hat, hat wenig Grund, alles zu riskieren, nur um zum vorherigen Stand zurückzukehren. Und gerade den finden die wenigsten attraktiv.

Denn auch das wird durch die Agent*innen, ihre Fähigkeiten und ihre ziellosen, stets nebulösen Missionen deutlich: die Fähigkeit, sich über die Masse der normalen Menschen zu erheben, ist das Opium, das die Charaktere allesamt antreibt, auch wenn keiner von ihnen es zugeben will. Aber bedenkt man, wie viele der Fähigkeiten letztlich in der Kontrolle, Entfesselung oder Steuerung von amorphen Massen begründet liegen, wie sehr Mind Managments ganzes Tätigkeitsprofil auf der massenhaften Gehirnwäsche aufbaute - die paranoide Welt dreht sich vor allem um sich selbst.

Es ist daher nur angemessen, wenn die Grenzen zwischen Realität und Fiktion im Finale der Geschichte weitgehend verschwimmen und es zur zentralen Strategie wird, den Glauben an die Tragfähigkeit von Mind Managment zu erschüttern. Wenn niemand an dich glaubt, gibt es dich dann? In einer Welt, die darauf aufbaut, dass signifikante Anteile von Menschen an deine Bedeutung und Macht glauben, ist das tödlich. Mich erinnert das an den Untergang des Ostblocks: wenn niemand glaubt, dass die Institutionen der Diktatur mächtig sind, können sie schnell aufhören, es zu sein. Und dann bricht der ganze Laden zusammen.

Wer sich die drei Sammelbände zulegt, bekommt jeweils etwas über 300 Seiten Comic und damit eine ganze Menge Lesestoff. Ich habe in den letzten Tagen sehr viel über Mind Managment nachgedacht; die Bilder, Charaktere und Leitmotive blieben stets bei mir, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in nicht allzu ferner Zukunft die Bände wieder aus dem Regal holen werde. Etwas abschreckend mag für den einen oder die andere der Zeichenstil sein: einerseits sind sie in einer Art Wasserfarbenkolorierung gehalten (mir fehlen für so was eindeutig die Fachbegriffe), die andererseits vor allem in Tönen von Braun, Gelb, Ocker und so weiter gehalten sind. Das ist nicht schlecht, es ist nur vielleicht nicht jedermanns Sache. Aber das wäre bei einem Comic ja auch das erste Mal.

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