Freitag, 10. Februar 2023

Warum Kopfnoten nutzlos sind

 

Jedes Jahr wiederholt sich ein schulischer Verwaltungsvorgang aufs Neue: das Vergeben und Empfangen der so genannten Kopfnoten, in den Bundesländern jedenfalls, die an diesem archaischen Ritual noch festhalten. Im heimischen Ländle Baden-Württemberg, wo der Zeitgeist immer ein wenig konservativer ist als im Durchschnitt der Republik, wird an den Kopfnoten eisern festgehalten, ob das Kultusministerium nun von der CDU, der SPD oder den Grünen geführt wird. Dabei gibt es gute Gründe, mit dem Unfug aufzuhören, und das nicht, weil es irgendwie falsch wäre, den Schüler*innen und ihren Eltern Rückmeldung über das Verhalten und die Mitarbeit der jeweiligen Sprösslinge zu geben, sondern weil die Kopfnoten dafür singulär ungeeignet sind. Aber der Reihe nach.

In Baden-Württemberg gibt es zwei Kopfnoten, die in Zeugnissen vergeben werden. Das geschieht von Klasse 5-11 einmal jährlich, wenn das Jahresabschlusszeugnis Ende Juli vor den Sommerferien ausgegeben wird, und in Klasse 12 halbjährlich mit den Jahrgangsstufenzeugnissen. In Klasse 13 gibt es keine Kopfnoten mehr; warum, das weiß der liebe Gott allein. Die beiden Kopfnoten tragen die Namen "Verhalten" und "Mitarbeit". Auf die Frage, was genau hier benotet werden soll, gibt das Landesrecht folgende präzise Antwort:

Verhalten bezeichnet sowohl das Betragen im allgemeinen als auch die Fähigkeit und tätige Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Mitarbeit bezieht sich vor allem auf den Arbeitswillen, der sich in Beiträgen zu den selbständig oder gemeinsam mit anderen zu lösenden Aufgaben äußert.

Und wer glaubt, das Ganze sei ein bisschen schwammig und könnte mehr Präzisierung vertragen, braucht nicht zu zittern und zu fürchten, denn auch hier weiß die Prüfungsordnung Rat:

1. Die Note »sehr gut« soll erteilt werden, wenn das Verhalten bzw. die Mitarbeit des Schülers besondere Anerkennung verdienen.

2. Die Note »gut« soll erteilt werden, wenn das Verhalten bzw. die Mitarbeit des Schülers den an ihn zu stellenden Erwartungen entspricht.

3. Die Note »befriedigend« soll erteilt werden, wenn das Verhalten bzw. die Mitarbeit des Schülers den an ihn zu stellenden Erwartungen im ganzen ohne wesentliche Einschränkung entspricht.

4. Die Note »unbefriedigend« soll erteilt werden, wenn das Verhalten bzw. die Mitarbeit des Schülers den an ihn zu stellenden Erwartungen nicht entspricht.

Ich versuche meine Ironie im Zaum zu halten, aber das einen Gummiparagraphen zu nennen ist eine Beleidigung für jedes anständige Kautschuk-Produkt. Wenig überraschend daher, dass die Vergabe von Kopfnoten oft durch ein System der Krücke funktioniert. Wie das berühmte Bonmot sagt: bei zwei Dingen will man nicht wissen, wie sie entstehen, Würste und Kopfnoten. Wer sich für Würste interessiert, findet hier was, wer wissen will, wie das bei Kopfnoten läuft, lese einfach weiter.

Festgelegt werden Kopfnoten von der Klassenkonferenz, einem sehr fancy Namen für "alle Lehrkräfte, die in der Klasse unterrichten". Üblicherweise wird der Klassenlehrkraft ein Vorschlagsrecht eingeräumt oder einfach von einer "gut" als Standard ausgegangen. Möchte eine Lehrkraft entweder vom Vorschlag der Klassenlehrkraft oder der Standard-gut abweichen, stellt diese einen Antrag. Da man nach Möglichkeit irgendwann fertig werden möchte - Zeugniskonferenzen, auf denen das entschieden wird, sind eng getaktet und es werden ja hunderte von Kopfnoten bestimmt! - geschieht das meist auf Zuruf. Steht also bei Max Mustermann eine 2 in Verhalten, ich finde aber, er hat eine 1 verdient, hebe ich meinen Arm und rufe "1", woraufhin die Leitung der Konferenz (Schulleitung oder stellvertretende Schulleitung) eine kurze Abstimmung durchführt. Wofür sich eine Mehrheit findet, die Note ist es. Die Details mögen von Schule zu Schule abweichen, aber ein deliberativer Prozess ist es in keinem Fall.

Und damit sind wir beim ersten Problem der Kopfnoten: niemand weiß genau, was sie eigentlich aussagen sollen. Und das betrifft vor allem jene, die sie geben.

Wir hatten die Diskussion auf viel zu vielen Notenkonferenzen. Bei Mitarbeit ist wenigstens die Theorie klar. An und für sich ist hiermit gemeint, wie oft die Schüler*innen sich melden, ob sie ihre Aufgaben erledigen, Hausaufgaben machen, der Kram. Nur: die meisten Leute bilden das bereits in den mündlichen Noten (bei denen auch keiner weiß, was da eigentlich rein soll, aber das ist ein ganz eigenes Thema) ab, und ich bin da keine Ausnahme. Theoretisch sollen diese nur die fachliche Leistung abbilden, während die Häufigkeit in "Mitarbeit" ausgedrückt wird. Aber in der Praxis ist das überhaupt nicht zu trennen (weil die Stunde nur 45 Minuten hat und die Klasse zu viele Schüler*innen zu unterschiedlicheren Charakters) und wenn es das wäre, wäre es eine pädagogische Katastrophe, weil ich dann gegebenenfalls jemandem bescheinige, dass die Person zwar arbeitet wie ein Hund, aber leider doof ist (mündlich mangelhaft, Mitarbeit sehr gut, yay...?).

Viel schlimmer aber ist es für Verhalten. Und das zeigt auch die obige Definition. "Betragen im Allgemeinen" ist so hart an der Grenze zur Tautologie zu "Verhalten", dass ich es als Praxisbeispiel für meine Unterrichtseinheit zu Stilmitteln gebrauchen könnte. "Verhalten ist Betragen im Allgemeinen" würde ich jedenfalls in jedem Aufsatz anstreichen. Fragt man zwei Lehrkräfte, kriegt man mindestens drei Meinungen dazu, was alles in Verhalten eingehen soll und was nicht. Das Ausfüllen von Ämtern wie Klassensprecher*in oder Schülersprecher*in? Macht eigentlich keinen Sinn, weil ich Klassensprecher UND Arschloch sein kann. Natürlich geht das oft zusammen, aber als Automatismus taugt das sicher nicht. Lehrkräfte auf dem Gang grüßen? Lehrkräften die Tür aufhalten? (Habe ich beides schon als ernsthafte Kategorien gehört.) Damit benote ich eine bestimmte soziale Norm, die so zu verabsolutieren ich als absolute Anmaßung empfinde. Schon alleine, weil ich nicht will, dass mir jemand grundsätzlich die Tür aufhält als ob ich gebrechlich wäre. Super engagiertes und soziales Verhalten gegenüber den Mitschüler*innen ist grundsätzlich eine tolle Kategorie, findet aber meistens dann statt, wenn ich es als Lehrkraft nicht mitbekomme - in Pausen und "unter der Schulbank".

Wesentlich leichter ist festzustellen, wenn jemand von der Norm abweicht, also eine befriedigende Leistung attestiert bekommen soll. Kommt jemand grundsätzlich zu spät, ist das kein gutes Verhalten; beleidigt jemand permanent (und nachgewiesen, eine rechtliche Hürde, die alles andere als leicht zu nehmen ist!), so ist das kein gutes Verhalten. Die Grenzen zur Mitarbeit sind aber fließend. Jemand, der seine Hausaufgaben ständig nicht macht, verhält sich nicht gut, aber arbeitet halt auch nicht mit. Ich kann aber das gleiche Verhalten nicht zweimal sanktionieren. Sobald ich also die Verteilung von Kopfnoten auch nur ein klitzekleines Bisschen ernst nehme, renne ich in einen Wulst von Definitionsproblemen, die direkt unter der Oberfläche lauern und üblicherweise im Kollegium keinen Konsens finden.

Aber nehmen wir an, als diese technischen Probleme werden gelöst. Das ist ja letztlich nur Lehrkräftegejammer; würden wir uns ein paar Nachmittage im Schuljahr Zeit nehmen und alles ordentlich diskutieren und durcharbeiten, dann wäre ja das zumindest erledigt. Das enthebt uns aber nicht der restlichen Probleme.

Eines davon ist, dass die Verhaltensnote zusätzlich zu den bereits besprochenen Unklarheiten dazu neigt, Konformität zu belohnen. Es ist wenig überraschend, dass Jungen überproportional zu den Empfängern von schlechten Verhaltens- und Mitarbeitsnoten neigen: die erlernten Geschlechterrollen drängen Mädchen eher in konforme Verhaltensweisen: lächeln, nicht auffallen, sich entschuldigen und den Kopf einziehen, was dann leider oft vorschnell als "gutes Verhalten" wahrgenommen wird, während alterstypische Konflikte unter Jungen auffälliger ausgelebt werden (von der Lautstärke bis zu Raufereien).

Das gibt sich umso mehr, je sensibler Schulen auf diese Thematik eingehen, aber das Grundproblem als solches bleibt: gutes Verhalten wird mit Konformität gleichgesetzt. Schüler*innen, die sich etwa offensiv für ihre oder die Interessen ihrer Mitschüler*innen einsetzen, werden gerne als aufmüpfig, frech und damit sich schlecht verhaltend wahrgenommen. Das aber sind pädagogische Vorstellungen aus dem letzten Jahrhundert, die heutzutage keinen Platz mehr haben. Und das kritische, offene Bewusstsein, das wir laut den Bildungsplänen auch fördern sollen (und das als Bildungsziel somit einen Konflikt darstellt), ist als zu benotende Kategorie ohnehin widersinnig.

Doch all das ließe sich in meinen Augen noch verkraften. Das größte Argument gegen die Kopfnoten in ihrer heutigen Form ist, dass sie ihre Kernfunktion nicht erfüllen. Gegenüber der realen Situation der Noten - die als höchstes Ziel völlig überhöht und in ihrer Objektivität grotesk überschätzt werden - gerät ihre offizielle Funktion meist völlig in Vergessenheit. Eigentlich haben Noten vor allem eine Rückmeldungsfunktion: sie teilen Schüler*innen (und ihren Eltern) mit, ob die Leistungen aktuell dem Standard entsprechen. Wenn das nicht der Fall ist, soll das der Anlass für vertiefte Wiederholung und Übung sein. - Das passiert in der Realität so nicht, weil die Note üblicherweise als abschließendes Verdikt gesehen wird, das dann jede weitere Beschäftigung überflüssig macht - man hat die Note ja schon.

Aber bei den Kopfnoten bricht diese Vorstellung komplett zusammen. Denn die Vorgänge innerhalb der Klassenkonferenz unterliegen der Geheimhaltungspflicht. Wenn ein*e Schüler*in zu mir kommt und fragt "Warum habe ich eine 5 in dem Aufsatz?", kann ich das gegebenenfalls ausführlich und mehrfach begründen. Wenn dieselbe Person zu mir kommt und fragt "Warum habe ich eine 3 in Verhalten?", kann ich nur antworten: "Weil die Klassenkonferenz das so beschlossen hat." Diese tautologische Antwort ist nicht nur unbefriedigend, sondern auch nutzlos.

Nur: vielleicht ist die Person bei mir völlig unauffällig, und ich hätte eine 2 gegeben. Ich darf das aber nicht sagen. Weil die Note in einer geheimzuhaltenden Klassenkonferenz beschlossen wurde. Das heißt, dass selbst wenn die Person gerne aufrichtig etwas verbessern will, es kaum möglich ist, dafür klares Feedback zu bekommen (natürlich kann ich das allgemein halten, aber das ist schwierig, wenn ich nicht hinter der Note stehe, die halt eine Mehrheitsentscheidung ist).

Dazu kommt, dass Kopfnoten ganz am Ende des Schuljahrs vergeben werden: die Schüler*innen erhalten diese am allerletzten Schultag. Verbesserungen könnten dann erst nach sechseinhalb Wochen, möglicherweise mit komplett neuen Lehrkräften und in neuem Setting, anwenden. Das ist völlig illusorisch. Warum aber vergebe ich Noten, die keinerlei Konsequenz in dem Sinne haben, dass eine Verbesserung von Defiziten stattfindet?

All diese Gründe führen zu meinem Plädoyer: schafft diese unsinnigen Kopfnoten ab. Andere Bundesländer haben es auch gemacht, und es sind weder positive noch negative Effekte zu beobachten. Ähnlich wird das auch in Baden-Württemberg sein - und anderen Bundesländern, die die Dinger noch haben. Stattdessen sollten vernünftige Rückmeldungen und pädagogische Maßnahmen durchgeführt werden. Das erfordert natürlich entsprechend Zeit, und diese Zeit muss irgendwo geschaffen werden. Und daran scheitert es eben oft, weil die pädagogische Arbeit in Kooperation entstehen muss und Zeiträume hierfür sind Mangelware. Wie so oft scheitert es am System.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.