Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) The Catch-22 for Working Parents
In the midst of the pandemic, hundreds of dollars began to appear each month in the bank accounts of American parents. The deposits were an expansion of the child tax credit, meant to help families cope with the pressures of lockdown, and recipients no longer needed to earn a minimum income to be eligible. Unlike before, unemployed parents could benefit too. Reaching many of the families left out by other cash-aid programs, the expanded child tax credit lifted millions of kids out of poverty, reducing food insecurity and anxiety among low-income parents along the way. But amid concerns from politicians and pundits that the credit would discourage parents from working outside the home, Congress allowed it to expire at the end of 2021. The decision reflected a position toward needy families that has dominated policy making for decades: The government doesn’t just give money away. If parents want help, they’re going to have to work for it. [...] While no less overbearing than modern-day policies, the concept of the mothers’ pension made some sense, because it recognized that someone caring for a child already has a job. A lot has to go right for parents—particularly single parents, who still make up the majority of earned income tax credit recipients—to balance employment and child-rearing. Assuming the job can’t be done with a child in tow or from home at the parent’s convenience, a working parent needs child care. She also needs a schedule with enough predictability to arrange that child care. Finally, she needs the ability to take time off or adjust her schedule as circumstances require—to recover from childbirth, for example, or to care for a sick kid. Many American jobs lack these accommodations, a problem that has real consequences for American parents and children, but which policy makers have largely failed to address. This is a cruel contradiction of American family policy: It’s designed to reward working parents but does very little to enable parents to work—or workers to parent. (Stephanie Murray, The Atlantic)
Die Pandemie war für alle Eltern eine furchtbare Zeit - ebenso wie für Selbstständige, die beiden großen zurückgelassenen Gruppen -, aber in den USA ist die Lage noch einmal um mehrere Faktoren dramatischer, weil das Land Eltern schon in guten Zeiten dermaßen alleine lässt. Die ganze Episode zeigt aber wunderbar die Absurditäten der Sozialstaatspolitik auf: die besten Ergebnisse mit dem geringsten Aufwand für alle Beteiligten bringen direkte Cash-Transfers. Will man armen Leuten helfen, sollte man ihnen Geld geben. Will man Obdachlosen helfen, sollte man ihnen Wohnraum geben. It's as simple as that. JEDE andere Maßnahme ist ineffizienter, komplizierter und involviert mehr Bürokratie. Aber der Moralismus der Mehrheitsgesellschaft ignoriert zuverlässig sämtliche wissenschaftlichen Erkenntnisse in diese Richtung. Bei Sozialleistungen gilt: je komplizierter und ineffizienter, je übergriffiger und kleinteilig regulierender, desto besser. Ob bei den amerikanischen Food Stamps oder der deutschen Hartz-Bürokratie, besonders das liberale und konservative Herz schlägt immer schneller, wenn es moralistisch und übergriffig wird.
2) „Die wahre Bedrohung kommt nicht von Tiktok“ (Interview mit Fox Cahn)
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ende letzten Jahres wurde publik, dass Facebook private Nachrichten zwischen einem Teenager und seiner Mutter der Polizei übergeben hatte. Mutter und Tochter kommunizierten darin über eine Abtreibungspille. Jetzt steht ihnen eine Anklage bevor. Die amerikanischen Ermittlungsbehörden greifen zunehmend auf neuartige Vollstreckungsbefehle zurück, um an sogenannte Geofence-Daten zu kommen. Darin wird Google angewiesen, jeden einzelnen User innerhalb eines spezifischen geografischen Raums zu identifizieren. Solche Gerichtsbeschlüsse für die Überlassung von Geofence-Daten ergehen inzwischen mehr als 10.000-mal im Jahr auf Ebene der Bundespolizei wie auf lokaler Ebene. Die Daten wurden genutzt, um politische Proteste ins Visier zu nehmen oder Kirchenbesucher zu identifizieren. [...] Ich finde schon, dass die Politiker wichtige Fragen stellen. Sie sollten sie aber jedem Tech-Konzern stellen. Wenn die Abgeordneten die Weise falsch finden, wie Tiktok Lokalisierungsdaten einsammelt, dann sollten sie die Methoden für alle verbieten. Wenn sie dagegen sind, dass Tiktok biometrische Daten hortet, dann sollten diese Daten vor dem Zugriff jeglicher App geschützt sein. Der Kongress betont die Probleme, weil das eine Firma mit chinesischen Eigentümern ist. Und das ist lächerlich. Amerika braucht Gesetze, die die Privatsphäre schützen vor amerikanischen und ausländischen Firmen. Die machen nämlich genau das Gleiche.
Sollte man Teenager auf Tiktok-Diät setzen?
Ich habe keine Kinder. Für mich ist es einfacher, über Regulierung zu reden als über die Frage, welches Ausmaß an Medienkonsum für Teenager verträglich und gesund ist. Ganz offensichtlich gibt es negative Effekte, wenn Kinder zu viel Zeit mit sozialen Medien verbringen. Ich weiß nicht, was die richtige Dosis ist und will auch nicht scheinheilig sein. Ich selbst habe als Heranwachsender die meiste freie Zeit online verbracht. (Wienand von Petersdorff, FAZ)
Mir gefällt, dass Cahn freimütig anerkennt, dass man nicht immer aus kulturpessimistischem Instinkt die Gewohnheiten der Kinder zu regulieren versuchen sollte. Denn das passiert ständig. Ich erinnere mich noch an so absurde Forderungen wie "Facebook erst ab 18" (damals, als Facebook für die Jugend noch relevant war) und "WhatsApp ab 16" und so Blödsinn. Von der Durchsetzbarkeit solcher Forderungen überhaupt einmal zu schweigen.
Das ändert natürlich nichts an dem grundsätzlichen Problem, das Cahn hier anspricht, und das weit über TikTok hinausgeht. Das Abgreifen von riesigen Datenmengen und vor allem deren Nutzung ist ein Thema, das viel zu wenig im Bewusstsein der handelnden Personen angekommen ist. Gerade wir in Deutschland sind richtig groß darin, allerlei sinnvolle Dinge mit der Monstranz des "Datenschutzes" zu verhindern, versagen dann aber auf diesen grundsätzlichen Gebieten.
Since Musk took over he has set about dismantling everything that made Twitter valuable — making it his mission to drive out expertise, scare away celebrities, bully reporters and — on the flip side — reward the bad actors, spammers and sycophants who thrive in the opposite environment: An information vacuum. It almost doesn’t matter if this is deliberate sabotage by Musk or the blundering stupidity of a clueless idiot. The upshot is the same: Twitter is dying. The value that Twitter’s platform produced, by combining valuable streams of qualification and curiosity, is being beaten and wrung out. [...] That our system allows wealth to be turned into a weapon to nuke things of broad societal value is one hard lesson we should take away from the wreckage of downed turquoise feathers. You can say shame on the Twitter board that let it happen. And we probably should. But, technically speaking, their job was to maximize shareholder value; which means to hell with the rest of us. We should also consider how the ‘rules based order’ we’ve devised seems unable to stand up to a bully intent on replacing free access to information with paid disinformation — and how our democratic systems seem so incapable and frozen in the face of confident vandals running around spray-painting ‘freedom’ all over the walls as they burn the library down. The simple truth is that building something valuable — whether that’s knowledge, experience or a network worth participating in — is really, really hard. But tearing it all down is piss easy. (Natasha Lomas, Tech-Crunch)
Ich glaube, ich habe schon oft genug darüber geschrieben, warum es ein Problem ist, narzisstischen Einzeltäter*innen in unserer Gesellschaft zu viel zu Macht zu geben. Musk ist ein perfektes Beispiel dafür. Klar kann er mit Twitter machen, was er will; er hat's gekauft (naja, er hat diverse Idioten gefunden, die ihm das Geld gegeben haben...) und kann es nun als privates Fürstentum nutzen. Aber nicht nur zerstört er damit einen riesigen virtuellen Lebensraum, einfach nur weil er es kann, sondern richtet mit dem "Informationsvakuum" auch noch aktiven Schaden an. Es ist ein Nettoverlust für alle, geboren aus jemand mit zu viel Geld und zu wenig Charakterstärke.
4) What the Republican Push for ‘Parents’ Rights’ Is Really About
“Parents’ rights,” you will have noticed, never seems to involve parents who want schools to be more open and accommodating toward gender-nonconforming students. It’s never invoked for parents who want their students to learn more about race, identity and the darker parts of American history. And we never hear about the rights of parents who want schools to offer a wide library of books and materials to their children. “Parents’ rights,” like “states’ rights,” is quite particular. It’s not about all parents and all children and all the rights they might have. The reality of the “parents’ rights” movement is that it is meant to empower a conservative and reactionary minority of parents to dictate education and curriculums to the rest of the community. It is, in essence, an institutionalization of the heckler’s veto, in which a single parent — or any individual, really — can remove hundreds of books or shut down lessons on the basis of the political discomfort they feel. “Parents’ rights,” in other words, is when some parents have the right to dominate all the others. And, of course, the point of this movement — the point of creating this state-sanctioned heckler’s veto — is to undermine public education through a thousand little cuts, each meant to weaken public support for teachers and public schools, and to open the floodgates to policies that siphon funds and resources from public institutions and pump them into private ones. The culture war that conservatives are currently waging over education is, like the culture wars in other areas of American society, a cover for a more material and ideological agenda. The screaming over “wokeness” and “D.E.I.” is just another Trojan horse for a relentless effort to dismantle a pillar of American democracy that, for all of its flaws, is still one of the country’s most powerful engines for economic and social mobility. Ultimately, then, the “parents’ rights” movement is not about parents at all; it’s about whether this country will continue to strive for a more equitable and democratic system of education, or whether we’ll let a reactionary minority drag us as far from that goal as possible, in favor of something even more unequal and hierarchical than what we already have. (Jamelle Bouie, New York Times)
Einerseits hat Bouie natürlich Recht. Die Agenda ist völlig offensichtlich, und der Feldzug für "Parent's Rights" wird vor allem dafür verwendet, um konservative Ziele durchzusetzen und den Bildungsbereich zu knebeln. Auch ist er ein willkommener Anlass für die weitere Zerstörung eines ohnehin bereits stark unterfinanzierten öffentlichen Bildungssektors, eine riesige Umverteilung von unten nach oben. Aber man sollte aber nicht übersehen, dass diese Leute wirklich daran glauben, das ist nicht nur Propaganda. Das Ziel von elterlicher Kontrolle ist ein konservatives Fundament, und die dahinterstehende Politikagenda mag diversen auswärtigen Akteuren - republikanischen Politiker*innen und Spender*innen etc. - zwar zugutekommen; die Eltern selbst aber sind davon überzeugt. Ich halte diese Ideologie, wie bereits im letzten Vermischten angesprochen, für überaus schädlich. Aber man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass sie nicht existierte und breite Unterstützung besäße und, leider, auch in Deutschland auf dem Vormarsch ist.
5) How Trump Can Use Social Security and Medicare to Destroy DeSantis
Conservative DeSantis supporters have fretted semi-openly that his handling of the Ukraine war positioned him too far to the right. But DeSantis’s record on Social Security and Medicare is his biggest liability by far. More than Ukraine or his lack of charisma, retirement programs are an issue that have the potential to destroy his candidacy. Trump’s claims about DeSantis’s positions on retirement programs are correct. DeSantis supported plans to privatize Social Security and Medicare, reduce spending on both programs, and raise the eligibility age. Those positions are absolutely toxic — 88 percent of the country opposes cutting either program. Trump’s line of attack is going to create three compounding problems for DeSantis. First, it is going to drive a wedge between him and the electorate. While conservative-movement elites would desperately like to cut, privatize, or do away with the New Deal and its legacy programs, their voters have never shared those desires. Eighty-four percent of Republicans oppose cutting Medicare or Social Security. The Republican donor class may appreciate DeSantis’s commitment to small-government principle, but his stance will be indefensible in a primary. [...] And while DeSantis is probably still a stronger general-election candidate than Trump, his toxic baggage on retirement programs reduces that advantage significantly and may eliminate it altogether. If Joe Biden runs against DeSantis, his campaign will just hammer him relentlessly on this topic. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Für mich sieht das Ganze mehr und mehr aus wie ein Replay von 2012. Um die Nominierung zu gewinnen, hatte Mitt Romney sich damals scharf rechts positioniert und in einem Wahlkampf der Clowns beständig abseitigere Positionen beziehen müssen, um die eigene rechte Flanke zu decken. Bereits in dieser Vorwahlkampfphase nutzte Obama das aus, um Romney als herzlosen Marktradikalen zu zeichnen; Romneys Plan, nach den Vorwahlen als "etch-and-sketch"-Kandidat ein neues, moderateres Bild zu zeichnen und sein Image als Gouverneur von Massachusetts wiederzubeleben, scheiterte. Ich vermute, dass Bidens Ziel ist, ein ähnliches Spiel 2024 zu wiederholen. Er hat gegenüber dem Wahlkampf 2016, in dem Clinton zu einem ähnlichen Spiel auf der Linken gezwungen war, den Vorteil des Amtsinhabers und muss keine interene Herausforderung abwehren. Ob das klappt, steht natürlich in den Sternen, aber es ist ein solider Plan.
Resterampe
a) Calvinball ist tatsächlich die richtige Analogie für das, was die Republicans gerade machen. Hier ein weiteres Beispiel.
b) Die amerikanischen Staatsausgaben sind seit 40 Jahren praktisch unverändert - die heutigen Defizite kommen praktisch ausschließlich von den republikanischen Steuersenkungen.
c) Die taz hat sich zwar gleich entschuldigt, aber eine Entgleisung bleibt es trotzdem.
d) Der Eilantrag, Berliner Schulen geschlechtergerechte Sprache zu verbieten, wurde abgelehnt.
e) Wer sich für die juristischen Feinheiten rund um den Privat-Pkw interessiert, wird hier fündig.
f) Nettes Video zu gescheiterten Privatisierungen.
g) Marx hatte Recht - Sklaverei war für die Entwicklung des Frühkapitalismus entscheidend.
h) Rechte Identitätspolitik ist doch überall gleich: Italien will jetzt künstliches Fleisch verbieten, um "die Tradition zu schützen". Angesichts der Klimakrise und des Tierwohls auch blanke Idiotie.
i) Ein Buch, das quasi extra für Stefan Pietsch geschrieben wurde :D Und dazu der Verriss der SZ.
j) Die Riffreporter haben noch eine sehr gute Analyse des CO2-Preisschwindels der FDP.
k) Die Kultusministerien mussten zugeben, dass sie mit falschen Zahlen hantiert haben: die Teilzeitquote von Lehrkräften ist nicht überdurchschnittlich hoch. Aber das macht nichts, das politische Ziel ist erreicht. Arschlöcher.
l) Wenn ich hier schon Bücherposts empfehle, habe ich natürlich auch einen für Thorsten Haupts.
m) Diese Entscheidung des KuMi Niedersachsen ist genau die richtige.
n) Noch ein Beitrag zur Debatte des Literaturkanons.
o) Bürokratie abbauen, aber mit links.
p) Als Nachtrag zu der Debatte über den Vergleich der Lebensstandards in UK und Deutschland, die ich letzthin verlinkt hatte, hier ein Vergleich der Lebenserwartung zwischen UK und USA. Die Unterschiede sind dramatisch, und die Gründe dafür noch viel mehr. Was für ein failed state.
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