Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Florida principal forced to resign after Michelangelo's David statue shown during class // BREAKING: Unbelievably trivial story somehow becomes national news
A principal at a Florida charter school was forced to resign after parents complained that a sixth-grade lesson featuring Michelangelo's David statue was pornographic. The incident occurred during a Renaissance art lesson at Tallahassee Classical School when children were shown the statue, a nude depiction often considered one of the most famous sculptures in Western civilization. However, the Tallahassee Democrat reported that parents reacted angrily, with at least one saying the material was pornographic and others wanting to be able to approve the lessons before they occurred. The principal, Hope Carrasaquilla, resigned "after she was given an ultimatum by the school board to resign or be fired," BBC News reported. The Democrat added that Carrasaquilla reportedly believed her resignation was directly related to the David lesson. [...] However, in a heated interview with Slate, Bishop pushed back against the assertion that Carrasaquilla's resignation was based simply on children being shown the statue. Rather, he said, it was based on an "egregious mistake" the school made by not giving parents advance notice that David would be shown, something he says occurred in prior years. "We're Florida, OK? Parents will decide. Parents are the ones who are going to drive the education system here in Florida," Bishop said. (Justin Klawans, The Week)
In previous years the school notified parents about their plans for teaching Renaissance art. This year they failed to do that. That's the school's side of the story. I don't know who's telling the truth, of course. But if they've taught David before with no problem, it seems likely that notification really was the issue. So here's what we've got: A few parents at a conservative school didn't want their sixth-grade children to see artwork of nudes. They wanted to be notified beforehand so they could pull their kids from that particular lesson. At about the same time, for this lapse and for other reasons, the board fired the school's principal. In what way is this even much of a local news story, let alone a national one? (Kevin Drum, Jabberwocky)
Die Geschichte wurde in meiner Timeline viel geteilt (und hat es mit der üblichen mehrtätigen Verspätung natürlich mittlerweile auch in die deutschen Medien geschafft, was Adrian Daubs These vom Kulturtransfer einmal mehr bestätigt). Sie scheint auch schön zu belegen, dass "Cancel Culture" eben auch (und gerade) in den rechten Kreisen ein Dauerproblem ist. Aber wie Drums Einordnung zeigt, ist das so nicht haltbar. Der Rektor hatte wohl eine längere Geschichte von Verstößen, und das hier war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ein ungemein blöder Tropfen, aber das ist eben die Kehrseite eines Hire-and-Fire-Systems. Man kann auch problemlos für totalen Mist entlassen werden.
Aber Drum übersieht in meinen Augen ein entscheidendes Problem. So wenig die Geschichte als Beispiel für konservative Cancel Culture taugt, so sehr legt sie die Bruchlinien der konservativen Elternideologie bloß. Wenn das Wahlrecht der Eltern über allem steht, kommt solcher Unfug dabei heraus, bei dem die Schule den Eltern das Recht einräumt, die Kinder vom Unterricht freizustellen, wenn Renaissance-Kunst besprochen wird. Und das von dem politischen Spektrum, das sich über Trigger-Warnings lustig macht. Auch die sind kein progressives Phänomen; das scheint mir viel mehr eine amerikanische Obsession zu sein, die langsam, aber sicher, ihren Kulturtransfer hierher vollzieht (siehe die Debatte um "Tauben im Gras").
2) How about if we indict Donald Trump for something serious?
This strikes me as pretty trivial, and I have my doubts that a jury would convict Trump if it goes to trial. We should probably save our legal firepower for something more serious. And like it or not, public opinion matters too. One of the mistakes that Republicans made in their impeachment jihad against Bill Clinton was misjudging public opinion. To them, Clinton lied under oath, and a lie is a lie. It was an open and shut case. But the public never really agreed. To them, it mattered what the lie was about. In Clinton's case, he was lying about having an affair with a White House aide. To most people, this seemed (a) not all that big a deal, (b) completely unrelated to his fitness as president, and (c) something that of course he lied about. Anybody would. Come on. Democrats may be making the same mistake here. To us, Trump falsified his business records, and a lie is a lie. It's an open and shut case. But the public, as usual, will care what the lie was about. They're likely to think it's (a) not all that big a deal, (b) completely unrelated to his fitness as president, and (c) something that of course he lied about. He was being blackmailed! Come on. So tread carefully here. (Kevin Drum, Jabberwocky)
Ich teile Drums Bauchschmerzen bezüglich des Trump-Prozesses völlig. Die Reaktion der Republicans wäre bei allem dieselbe gewesen, selbst wenn er jemanden ermordet hätte (sein Ausspruch von 2015, nach dem er auf der Madison Avenue jemanden erschießen könnte, ohne ein*e Wähler*in zu verlieren, bleibt für diese korrekt), und die Democrats würden auch eine Anklage wegen jaywalking als relevanten Ausdruck des Rechtsstaats unterstützen. Aber es geht um die (zunehmend schrumpfende) Zahl von Wechselwähler*innen (man sollte sie hüten, sie die "Mitte" oder "Moderat" zu nennen), die durchaus von solcherlei Dingen zu beeindrucken sind. Die Republicans verloren diese Leute 1998, und möglicherweise haben die Democrats nun dasselbe Problem - auch wenn sie natürlich nur mittelbar etwas dafür können; anders als das Impeachment gegen Clinton handelt es sich ja um keinen politischen, sondern einen juristischen Prozess, aber diese Feinheit dürfte in der Debatte keine Rolle spielen.
3) Debatte um Jogginghosen in der Schule: Welche Kleidung ist für Schülerinnen und Schüler angemessen?
Jogginghosen seien Funktionskleidungsstücke, die zum Sport oder zum Entspannen getragen werden, sagte eine Sprecherin. «Sportler tragen auf dem Sportplatz ihr Trikot als Arbeitsuniform und nach getaner Arbeit die Jogginghose in ihrer Freizeit. Schulzeit ist Arbeitszeit, daher hat die Jogginghose dort keinen Platz.» Arbeitskleidung, Uniformen und Dresscodes seien sozial gewachsen. «Mit der Kleidung wird eine bestimmte Aufgabe, Autorität oder Zugehörigkeit ausgedrückt. Aus diesem Erfahrungsschatz heraus lässt sich die Jogginghose im Alltag nicht beziehungsweise nicht zu einer wertvollen Aufgabe zuordnen und stößt auf Widerstände.» Dass die Jogginghose nicht gesellschaftlich akzeptiert sei, zeige sich bereits durch die Diskussionen um das Kleidungsstück. [...] Ganz anders sieht es Modeschöpfer Thomas Rath. Der 56-Jährige, der «selber ein großer Fan der Jogginghose» ist, sieht das Kleidungsstück deutlich gesellschaftsfähiger: «Die Akzeptanz der Jogginghose hat stark zugenommen, aber nicht nur unter dem Aspekt des Homeoffice sondern auch durch den großem Einfluss der Streetwear in unserem Alltag, welcher wichtig ist und uns jung hält.» Ein Jogginghosen-Verbot lehnt Rath, der unter anderem als Juror bei «Germany’s Next Topmodel» zu sehen war, ab. «Die Jahre des Modediktats sind, Gott sei Dank, vorbei und wir können uns individuell kleiden», sagte Rath. Auch eine Jogginghose könne gepflegt aussehen. (News4Teachers)
Ich hasse diese Kleidervorschriftsgeschichten an den Schulen. Es gehört für mich zu meinen größten Errungenschaften, dass ich das bei uns an der Schule verhindert habe, als es vor zwei Jahren in die Schul- und Hausordnung aufgenommen werden sollte. Üblicherweise haben diese Kleiderregeln einen stark sexistischen Einschlag und betreffen vor allem bauchfreie Tops und tiefe Ausschnitte; mit der Joggginghose haben die konservativen Kulturkrieger endlich ein Unisex-Kleidungsstück gefunden, auf das sie ihre moralistische Kanonen richten können. Die Attraktivität von Jogginghosen hat in den letzten Jahren erkennbar zugenommen; inzwischen werden sie von signifikanten Mengen der Schüler*innen getragen. Und wir reden hier nicht von den Gammelmodellen, die ich bei mir zuhause zu tragen pflege; das sind oft teure Designerstücke.
Warum bin ich so gegen diese Verbote? Zum einen sind sie Ausdrücke eines übergriffigen Moralismus und Paternalismus, den ich ablehne. Zum anderen hat die Schule einen Erziehungsauftrag, dem durch plumpe Verbote nicht wirklich nachgekommen wird. Wenn die Schüler*innen lernen sollen, warum in der Schule eine Jogginghose verboten sein soll (und die Argumente, wie oben verlinkt, sind leider sehr schwach), dann muss man das mit ihnen thematisieren und nicht durch die Schul- und Hausordnung regeln. Und zuletzt haben wir das Problem, dass Jogginhosenverbote vermutlich illegal sind. Die Schüler*innen haben ein Recht auf Bildung; ihnen diese zu verwehren, weil sie Kleidungsstücke tragen, die komplett legal sind, ist...problematisch. Das wartet nur auf die erste Musterfeststellungsklage.
4) Zwischen Verschwörung, Gewalt und Pornos
Haben Sie schon erlebt, dass ein Kind plötzlich nur noch ein Thema im Kopf hatte, das zuvor gar keine Rolle gespielt hat? Und Sie fragten sich, wie es dazu kommen konnte? Glückwunsch, Sie waren dabei, wie das Interesse vom Algorithmus gesteuert wurde [...] Nur ein Fach könnte man politisch aufladen und unterstützen, es deutlich von anderen Fächern abgrenzen und damit seine Wichtigkeit durchbringen. Mit einer eigenen Lobby. Ist eine solche Forderung aber nicht ein wenig zu viel angesichts eines Algorithmus? Wenn es doch „nur“ die Sucht wäre. Wenn es doch „nur“ die Bilder wären. Wenn es doch „nur“ die Spiele wären. [...] Ich spreche aus der Perspektive eines Lehrers, der in einem allgemeinbildenden Gymnasium lehrt, und zwar meist Kinder, die von ihren Eltern unterstützt werden. Die auf ihre Eltern zugehen oder fragen, was sie tun sollen. Meistens. Was ist mit denen, in denen das soziale Umfeld nichts auffängt, in dem die Kinder noch länger in den auf sie zugeschnittenen sozialen Medien hängen, einfach deshalb, weil es die beste Möglichkeit ist, sich zu beschäftigen, die es noch gibt. Die keine anderen kulturellen Zugänge haben? [...] Wir müssen handeln! Es führt kein Weg daran vorbei! Medienbildung erschöpft sich nicht in kreativen Videos, unterhaltsamen Podcasts oder kollaborativen Blogbeiträgen. Zu verstehen, was uns nach unten zieht, muss Aufgabe derjenigen Institutionen sein, deren Auftrag es sein soll, jeden einzelnen fit für eine Gesellschaft zu machen. Eine Gesellschaft, die längst eine digitale Gesellschaft ist. (Bob Blume, Deutsches Schulportal)
Ich bleibe nicht überzeugt von einem Fach "Medienbildung", weil der Anspruch weiterhin sein muss, dass Medienbildung in allen Fächern stattfindet. Dass das bisher überhaupt nicht passiert ist vollkommen richtig, ist aber ein Versagen des Schulsystems allgemein und der Lehrkräfte im Speziellen. Die allermeisten Lehrkräfte haben keine Ahnung von Medien und einen beschämend geringen Kenntnisstand für das Digitale generell; das fängt schon bei Office-Anwendungen an, die sie eigentlich täglich brauchen sollten. Die Kaprizierung auf das Fach "Medienbildung" trägt nur dazu bei, diese Verantwortung weiter abzuschieben. Aber es wäre halt Arbeit für das Kultusministerium und die Schulbürokratie, die Lehrkräfte umfassend fortzubilden und die Medienbildung nachzuhalten; diese Auslagerung macht daher allen Beteiligten weniger Arbeit.
5) Trasse durch den Landkreis: "Wir wissen, wie Protest geht!"
Nie zuvor hat Kai Schierhorn so schnell eine so wichtige Entscheidung getroffen. Er glaubte, den Ort für sein Leben und seine Familie gefunden zu haben: 684 Quadratmeter Grundstück in Seevetal, abseits von Autobahnen und Zugverkehr, vom Donnern des Güterbahnhofs. Zwei Jahre dauerte es, bis das gemütliche Friesenhaus einzugsbereit war. Es sollte ein besonderes Haus werden, eins, das mit seinem Charme zum alten Dorfkern passt. [...] Wie berichtet, plant die Bahn im Zuge des Deutschlandtakts den Ausbau der Strecke zwischen Hamburg und Hannover. Neben dem Ausbau der Bestandsstrecke über Lüneburg, Uelzen und Celle gibt es Pläne zum Bau einer neuen Trasse entlang der A 7 durch den Landkreis Harburg, die dort auf massiven Widerstand der Anwohnerinnen und Anwohner stößt. Auch Kai Schierhorn gehört zu diesen Gegnern. „Wenn die Bahn die neue Trasse baut, werden wir massiv betroffen sein“, sagt er. „Dann wird es auch hier richtig laut.“ [...] Kai Schierhorn und die vielen engagierten Ramelsloher haben noch etliche Pfeile im Köcher. „Wir hier in Ramelsloh wissen, wie Protest geht“, sagt der Geschäftsführer. [...] „Mit Bauernschläue kann man Großprojekte verhindern.“ [...] Die Bahn hat im Zuge des Trassenausbaus Hamburg – Hannover drei Grundvarianten – bestandsnaher Ausbau, bestandsnaher Ausbau mit Ortsumfahrungen und bestandsferner Neubau– untersucht. Jede Variante hätte Auswirkungen – für die Menschen an der Trasse, aber auch für jene, die von einer guten Bahnverbindung profitieren würden. (Hanna Kastendieck, Hamburger Abendblatt)
Ich habe keinen Zweifel, dass diese Leute wissen, wie Protest geht. Das ist ein super Beispiel dafür, warum in Deutschland nichts vorangeht. Schierhorn hat sein Grundstück zu einem Zeitpunkt gekauft, als der Trassenausbau bereits in Planung war. Das hätte er bei seinem Kauf bedenken müssen. Dass Grundstücke im aktuellen Umfeld kaum zu haben sind und er daher zugreifen musste, als sich die Chance auftat, sehe ich sofort, aber warum die Gemeinschaft ihn dann vor den Folgen zu schützen hat, erschließt sich kaum. Solche Partikularinteressen werden gegenüber dem Kollektivinteresse viel zu hoch gewichtet. Deswegen haben wir zu wenig Windräder, zu wenig ÖPVN, zu wenig Internet, zu wenig von allem. Verhinderungsinteressen sind immer stärker als Durchsetzungsinteressen.
Resterampe
a) Die Behauptung von Olaf Scholz, der Lehrkräftemangel sei überraschend gekommen, ist noch eine größere Frechheit als bezüglich der russischen Aggression. Falk Steiner hat ihm eine schöne Rechnung gemacht. Wenn jemand jetzt Lehramt zu studieren anfängt, würde das vielleicht gerade so für Kinder reichen, die jetzt geboren werden. An der weiterführenden Schule, wohl gemerkt; der Mangel an den Grundschulen bleibt davon unberührt.
b) Schöner Artikel zum neuesten Kulturkriegaufreger in Berlin.
c) Es ist Fefe, aber dieser Gedanke zum Fachkräftemangel scheint nicht aus der Luft gegriffen.
d) Unser Lehrer Doktor Specht würde AfD wählen. Zeigt auch super schön, wie alt dieser beknackte Diskurs schon ist.
e) Keine Ahnung wie zutreffend dieser Vergleich zwischen den Lebenshaltungskosten in Deutschland und UK ist, aber wenn es stimmt wäre es schon krass.
f) Wissler fordert die Abschaffung von Hausaufgaben. Das Argument, dass das eigentlich eine Aufgabe der Schule sei, teile ich zu 100%.
g) Immer weniger Kinder können Rad fahren. Sehe ich bei unseren Kids und deren Peers auch; die Straßen sind einfach zu gefährlich geworden.
h) Noch ein Take zum neuen Wahlrecht. Und noch einer.
i) Wie früher Kinder im Namen der Erziehung misshandelt wurden ist echt krass.
j) Ein Beitrag in der beliebten Reihe "warum schwächelt die FDP"?
k) Das Ausmaß, in dem Trump die Reaktion auf Covid verkackt hat, ist echt Wahnsinn.
l) Verpflichtende Mehrarbeit für Lehrkräfte ist sicherlich das beste Mittel gegen den Mangel.
m) Entgleisung des Bundesrechnungshofs.
n) Woke Is Just Another Word for Liberal. Jepp.
o) Ein bisschen geschichtlicher Hintergrund zum Thema "russische Krim".
p) Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich mal die JuLis lobe, aber so was von. Ich hab das bereits vor ein paar Monaten prophezeit: die Route dieser ständigen Provokationen führt unweigerlich ins Überziehen. Endstation Tichys Einblick.
q) Lesenswerter Thread über Schule im sozialen Brennpunkt. Ich hab echt Respekt für solche Leute, ich kann so was überhaupt nicht. Ich bin einfach kein Social Worker. Ich wäre völlig verloren in so einer Situation, eine schlechte Lehrkraft im mittleren Burnoutstadium vor dem 40. Geburtstag.
r) Ganz gute Zusammenfassung der Koeppen-Debatte.
s) Noch mehr zum Berliner Volksentscheid mit sehr guten Grundsatzargumenten zu Volksentscheiden, die ich nur unterschreiben kann.
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