Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß, wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen den Tonfall „Opa erzählt vom Krieg“ annehmen, aber ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet, werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge soll es um den Zugriff auf mediale Erzeugnisse gehen, von Musik über Filme zu TV-Serien zu Videospielen.
In den 1990er und 2000er Jahren war die größte Distributionsmethode von digitalen Medien die Raubkopie. Darunter versteht man nicht lizensierte Kopien, für die man nicht bezahlt hat (zumindest nicht den Lizenzträger). Raubkopiert wurden vor allem zwei Dinge: Programme und Musik. In den 2000er Jahren kamen zudem Filme hinzu. Raubkopien waren ein enormes wirtschaftliches Problem für die Lizenzträger, weil sie praktisch nicht kontrollierbar waren. Die Gegenmaßnahmen befanden sich in einem ständigen Rüstungswettlauf mit den Raubkopienden, ein Hase-und-Igel-Spiel, das sich fast 20 Jahre lang hinzog. In den späten 2000er Jahren endete die Ära der Raubkopie weitgehend, aus Gründen, die wir noch näher untersuchen wollen. Aber zuerst werfen wir einen Blick weit zurück ans Ende der 1980er Jahre.
Privatcomputer waren damals langsam dabei, ein Breitenpublikum zu erreichen. Mein Vater war ein early adopter, wir hatten 1989 unseren ersten 286er (einige Hardware-Highlights: 44 MhZ Prozessor, 40MB Festplatte, 5,25-Zoll- UND 3,5-Zoll-Diskettenlaufwerk), auf dem solche Perlen wie das erste Sim City, Monkey Island oder die Commander-Keen-Reihe zum Einsatz kamen. Programme wurden damals auf Disketten ausgeliefert (Musik gab es noch gar nicht digital). Disketten waren in zwei hauptsächlichen Formaten zu haben: 5,25", mit rund 800 Kbit Speicherplatz (das ist weniger als 1MB) und 3,5", mit 1,44MB Speicherplatz. Größere Programme waren auch damals schon häufig und wurden entsprechend auf mehreren Disketten ausgeliefert.
Den Inhalt einer Diskette zu kopieren war einfach: Man gab den entsprechenden Befehl (copydisk) in die Eingabemaske ein, der Rechner speicherte den Inhalt der Diskette auf dem Rechner zwischen, dann schob man eine leere Diskette ein und der Inhalt wurde auf diese rückkopiert. Das wiederholte man mit allen Disketten, fertig. War eine Datei größer als 1,44MB (und die Hersteller machten das routinemäßig, schon allein um Kopien zu erschweren) musste man das Ganze packen und das Archiv spalten. Die beiden Hauptprogramme dafür, ZIP und RAR, sind bis heute im Einsatz.
Um Raubkopien zu erschweren, griffen die Hersteller auf einen Kopierschutz zurück. Besonders Anfang der 1990er Jahre bestand dieser noch aus physischen Kontrollen: der Originalversion des Spiels lag eine Art Code-Handbuch bei, das teilweise sehr elaborierte Formen annehmen konnte. Diese Codes mussten bei jedem Programmstart eingegeben werden, was dazu zwang, jedes Mal das entsprechende Werk zur Hand zu nehmen. Wer das Programm raubkopieren wollte, musste zudem eine physische Version des physischen Codes anfertigen; ein grundsätzlich überwindbares Hindernis. Nur ein Beispiel: "Monkey Island" war mit einer Drehscheibe gesichert, mit der eine Reihe von möglichen Kombinationen eingestellt werden konnte. Wir kopierten jede mögliche Einstellung dieser Drehscheibe (ein "Codebuch" von rund 30 Seiten) in einem Copyshop, um dieses Problem zu umgehen.
Zu einem gewissen Teil entstanden solche Raubkopien aus Verfügbarkeitsproblemen. Ohne Onlinehandel war man auf physische Läden angewiesen, und spezialisierte Computergeschäfte, in denen die entsprechenden Programme legal hätten gekauft werden können, waren selten und auf die Großstädte beschränkt. Der Versandhandel erforderte dicke Kataloge, von denen man erst einmal wissen und die man dann in die Hand bekommen musste. Zudem waren die Programme unglaublich teuer: "Prince of Persia" etwa, ein Jump'n'Run von nicht eben überdurchschnittlicher Komplexität, kostete im Laden 99DM - ein Preis, hinter den man heute inflationsbereinigt gerne ein Euro-Zeichen hängen kann, für ein Spiel, das es heute als Handyspiel in jedem Appstore kostenlos gäbe.
Daher war die Hauptverbreitung von Programmen über Leute, die man kannte, sprich: Personen, die ebenfalls einen Computer besaßen, seinerzeit noch eher selten. Mit denen tauschte man dann Programme. Wer etwas hatte, gab es weiter. Die Schwierigkeit der Kopie einer Diskette war eher niedrigschwellig, und glücklicherweise griffen nur die wenigsten Hersteller auf Kopierschutzmaßnahmen wie die erwähnte Drehscheibe zurück. Ich erinnere mich noch, in der dritten Klasse auf dem Schulhof mit einem bekannten Siebtklässler Spiele ausgetauscht zu haben - und Tipps und Tricks zu den entsprechenden Spielen gleich mit.
Gegen Mitte der 1990er Jahre verkomplizierte sich die Situation. Programme und Computer wurden leistungsfähiger, und Disketten waren nicht mehr in der Lage, die neuen Datenmengen aufzunehmen. Der Siegeszug der CD-ROM begann. Auf sie passten 700MB, das 486-fache der bisherigen Spitzentechnologie Diskette. Die sündteuren CD-Laufwerke waren aber reine Lesegeräte: anders als bei der Diskette konnten CDs nicht einfach beschrieben werden; einmal davon abgesehen, dass leere CDs ("Rohlinge") damals kaum zu haben waren. Erst Ende der 1990er Jahre holten die Raubkopierer wieder auf: CD-Brenner verbreiteten sich und Rohlinge wurden weithin käuflich (und erschwinglich), so dass CDs "gebrannt" werden konnten.
Damit eröffnete sich ein komplett neues Betätigungsfeld: Musik, seit den 1980er Jahren auf CD mit etwa zwölf bis fünfzehn Musiktiteln (von denen man drei oder vier wirklich wollte) verkauft; das Stück kostete um 2004 herum 18 Euro; das wären heute rund 26 Euro. Mit den CD-Brennern war es erstmals möglich, CDs direkt zu kopieren, anstatt sie mühselig auf Kasette zu überspielen, auf denen eine präzise Ansteuerung der Titel nicht möglich war (die aber dafür in Autoradios nutzbar waren, die weit in die 2000er-Jahre hinein nur Kasettenfächer besaßen). Das Kopieren von Musik machte zudem mit der Einführung von MP3 einen weiteren Sprung: nun konnte man die Musiktitel direkt in MP3 umwandeln, die eine Größe von nur 3-5MB hatten. Statt wie bisher nur rund 15 Titel auf eine CD brennen zu können, konnte man nun 100 bis 200 Titel auf einmal verbreiten, ein ungeuerer Fortschritt. Die Einnahmen der Musikindustrie rauschten in den Keller, ein Schock, der Jahrzehnte nachhallen sollte.
Doch die Talsohle war für die Lizenzgeber noch nicht erreicht, denn neben CDs, CD-Brennern und MP3 verbreitete sich Ende der 1990er Jahre auch das Internet erstmals in die Breite, und mit ihm begann das goldene Zeitalter der Raubkopie. Selbst mit einem 56k-Modem, das immerhin Downloads von 0,056MB pro Sekunde erlaubte, war es grundsätzlich möglich, MP3 auszutauschen, und die schnell aufkommenden ISDN-Anschlüsse erlaubten Downloads von immerhin rund 0,18MB pro Sekunde. Alles, was jetzt noch fehlte, waren Tauschbörsen.
Deren Beginn lag in Internetforen, in denen User Adressen austauschten und einige besonders freundliche Zeitgenoss*innen mit eigenem Serverplatz großzügig ihre Archive teilten. Die Bedeutung dieser Leute, die das völlig kostenlos für die Allgemeinheit zur Verfügung stellten, sollte nicht unterschätzt werden; sie trugen maßgeblich zum anarchisch-kooperativen Gefühl des frühen Internets bei, das wenig mit dem heutigen zu tun hat. Doch der Höhepunkt des freien Tauschens wurde mit den großen Tauschportalen erreicht: Napster, eMule und Kazaa erlaubten über ein brillantes System den direkten Tausch: jeder, der etwas herunterlädt, lädt es gleichzeitig auch hoch. Das machte nicht nur alle Beteiligten rechtlich haftbar (und wenn Millionen rechtlich haftbar sind, ist das individuelle Risiko erwischt zu werden gleich Null), sondern garantierte auch die breite Verfügbarkeit der Daten.
Die Hersteller indes hatten aufgerüstet: inzwischen kamen Programme standardmäßig mit Software-Kopierschutz. Wie genau das funktionierte übersteigt mein technisches Verständnis, aber wer wie anno dazumal einfach ein Programm kopierte (üblicherweise immer noch durch das Brennen einer CD), bekam es nicht zum Laufen. Um dieses Problem zu umgehen, brauchte es "Cracks", kleine Programme, die den Kopierschutz manuell wieder entfernten. Überrascht es jemanden, dass es riesige Archive im Internet gab, auf denen man Cracks herunterladen konnte? Great times.
Die letzte Stufe der Raubkopiererei waren dann Filme. Die massenhafte Verbreitung der DVD, die die VHS-Kasette ablösten, und die etwas später einsetzende Verbreitung von DVD-Laufwerken ermöglichte eine ganz neue Form der Raubkopie. Filme waren lange Zeit zu groß gewesen, um sinnvoll kopiert werden zu können (eine DVD enthält rund 3,56GB Speicher, also das fünffache einer CD), und DVD-Brenner und -Rohlinge blieben überraschend lange teure Exoten. Allerdings war es für Besitzer*innen von DVD-Laufwerken (lange noch nicht verbreitet) möglich, Filme auf DVDs zu "rippen", also Filmdateien in minderer Qualität aus ihnen zu erstellen. Die wurden dann in handliche 700MB-Brocken geteilt und auf CD gebrannt; ein Film passte üblicherweise in zwei Teilen auf eine CD. Wir hatten riesige Archive gerippter Filme und tauschten diese fröhlich untereinander aus. Meine Kenntnis von Filmen beruht maßgeblich auf dieser Emanzipation vom miesen Programm des Fernsehens und dem elterlichen Diktat über den im Wohnzimmer befindlichen Fernseher - vom plötzlichen Zugriff auf Pornos einmal ganz zu schweigen, der auf mein jugendliches Selbst natürlich ebenfalls nicht zu unterschätzen war.
Mit dem Ende der 2000er Jahre ging dann die große Zeit der Raubkopie zu Ende. Die Hersteller waren indes schier verzweifelt. Massive Werbekampagnen gegen Raubkopien mit aufwändigen Kinowerbespots, in denen (völlig realitätsfern) harsche Haftstrafen für Raubkopierer*innen angedroht wurden, endlose politische Lobbyarbeit und eine Überlastung der Staatsanwaltschaften hatten alle nichts bewirkt (sieht man einmal vom Ende von Napster ab, das immerhin dafür sorgte, dass eMule und Kazaa neue Platzhirsche wurden). In dieser Zeit kamen nun zwei Faktoren zusammen. Einerseits begannen sich die Staatsanwaltschaften zu weigern, ihre wertvollen Kapazitäten in die Verfolgung von Bagatellkriminalität zu stecken, was das Risiko - durch die Lobbyarbeit der Lizenzgeber zeitweise deutlich angestiegen - wieder Richtung Null drückte. Doch wesentlich bedeutsamer waren die Marktwirtschaft und der technische Fortschritt.
Denn letzten Endes war die Allgegenwärtigkeit von Raubkopien nicht auf die kriminelle Natur von Millionen Menschen zurückzuführen gewesen, sondern auf ein Verfügbarkeitsproblem (ich habe darüber geschrieben): es gab schlicht keine legalen Möglichkeiten, MP3 und Programme in vernünftiger Form und bequem zu erwerben. Wer etwa eine Original-DVD besaß (und ich hatte hunderte!), durfte vor jedem Film zig nicht abbrechbare Werbespots und Intros ansehen. Wer dieselbe DVD rippte, konnte direkt losschauen. Auch die einzig legale Möglichkeit, Musik zu erwerben - physische CDs mit festgelegtem Inhalt - stand meilenweit hinter dem illegalen Pendant der kuratierten MP3-Sammlung zurück. Die legalen Produkte waren schlicht wesentlich schlechter als die kopierten illegalen. Es war absurd.
Wenig überraschend löste sich das Problem mit der Verfügbarkeit und dem Preisverfall von Musik, Programmen und Filmen. Den Anfang machte die Musik: iTunes, Apples genialste Schöpfung nach dem iPhone, ermögliche den einfachen Kauf von Musik zu halbwegs vernünftigen Preisen (verglichen mit CDs) und das Kuratieren einer eigenen Sammlung. Heute firmiert das Ganze unter Apple Music für einen monatlichen Abopreis, nach dem sich damals alle die Finger geleckt hätten - selbst ohne Inflationsbereinigung.
Bei Spielen waren es drei Faktoren, die das Problem für die Hersteller erledigten. Einmal der Aufstieg der Konsolen. Diese lösten in den 2000er Jahren den PC als Hauptspieleplattform ab, und Konsolenspiele waren schon immer praktisch nicht zu kopieren gewesen. Zum zweiten der Aufstieg des Online-Multiplayer: wenn man zum Spielen zwangsweise online sein musste, war die Kontrolle wesentlich leichter. Und zum dritten die Verfügbarkeit digitaler Distributionsmodelle für Spiele, vor allem die Plattform Steam. Wie auch bei Musik konnte man nun Videospiele zu mehr als fairen Preisen (Spielepreise sind absurd deflationär und mittlerweile kaum mehr gewinnbringend, weswegen so viel Gewicht auf DLC liegt) auf Onlineplattformen bequem kaufen und ständig aktuell halten.
Und bei Filmen (und Serien) war es der Aufstieg von Netflix, der den Raubkopien ein Ende machte. Seit es Streaming-Services gibt, sind einerseits die Videotheken (aus denen man früher die Filme auslieh, um sie dann zu rippen) tot und andererseits die Preise so niedrig, dass das Raubkopieren sich nicht mehr lohnt. Der Aufwand, Filme herunterzuladen und dann auf den Fernseher zu streamen ist verglichen mit Streaming so hoch, dass die meisten Leute ihn scheuen und lieber ein oder mehrere Streaming-Abos kaufen.
Das Ironische ist, dass die Raukopien-Szene genau das immer gesagt hatte. Während die Industrie einen aussichtslosen Abwehrkampf führte, anstatt sich an die Wünsche ihrer Konsument*innen anzupassen, verlor sie ihre Marktanteile an neue Player wie Apple, Valve und Netflix. Die verzweifelten Versuche dieser Player, die Marktanteile zurückzugewinnen (man denke an EAs "Origins"-Plattform) scheiterten weitgehend. Die Lektion hier ist ziemlich eindeutig und ließe sich mit einem bekannten Gorbatschow-Zitat zusammenfassen.
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