Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Wann ist das Wahlrecht klar genug?
Mehrfach fragte der Zweite Senat nach einem möglichen „Kipppunkt“ zwischen der notwendigen Komplexität wahlrechtlicher Normen und deren Verständlichkeit, der zu einer Verfassungswidrigkeit führen könnte. Der Sachverständige Martin Morlok beschrieb das Spannungsverhältnis anschaulich: „Komplexität kostet Klarheit“. Keiner der Verfahrensbeteiligten sah sich in der Lage, den dogmatisch (noch) nicht austarierten „Kipppunkt“ zu bestimmen. Wenn sich die Tendenz bestätigt, dass das BVerfG von besonderen Anforderungen des Gebots der Normenklarheit im Wahlrecht ausgeht, dürfte sich der Zweite Senat in seinem Urteil umfassend damit beschäftigen, wie das Gebot dogmatisch verortet wird und wann ein Kipppunkt erreicht ist. Denn bei den Grenzen stellt sich tatsächlich die Frage: Muss der einzelne Wähler wirklich das Sitzzuteilungsverfahren in allen Details verstehen oder reicht die Kenntnis über dessen Grundaussagen aus? (Yannik Breuer/Jannik Klein, Verfassungsblog)
"Der Wähler" ist natürlich schon eine spannende Kunstfigur. Welche wählende Person nämlich muss das Wahlrecht denn eigentlich verstehen? Ich, der Politikwissenschaften studiert hat und Politik unterrichtet? Ein an Politik nicht interessierter Handwerker mit Migrationshintergrund in der 1. Generation? Irgendwas dazwischen? "Den Wähler" gibt es so ja gar nicht. Diesen "austarierten Kipppunkt" zu bestimmen ist daher wirklich alles andere als einfach, und dass studierte Jurist*innen mit ihrer für Allgemeinverständlichkeit nicht eben berühmten Sprache die besten Richter*innen dafür sein sollen, setzt der Ironie der Geschichte auch noch einmal die Krone auf. Das jedenfalls sind die Probleme an der Geschichte, die ich als Laie so ausmachen würde.
Und wo ich gerade hemmungslos dem Dunning-Kruger-Effekt fröhne: Ich halte das Verständnis der Grundaussagen für ausreichend. Wenn ich aus meiner eigenen Erfahrung mit dem Verständnisgrad des bisherigen Wahlrechts (wir haben zwei Stimmen, eine für Person, eine für Liste, eine nach Mehrheits-, eine nach Verhältniswahlrecht) beurteile, dann haben gut die Hälfte der Deutschen schon dessen Grundaussagen nicht verstanden, von den Feinheiten der Überhangmandate einmal komplett abgesehen. Mir erscheint das eine komplett insuläre Debatte. Wenn die Grundaussagen verstanden werden WÜRDEN (was in diesem absurden Diskurs irgendwie als Prämisse durchgeht), wäre das ein kleines Wunder. "In allen Details das Sitzzuteilungsverfahren verstehen" tun ja die meisten Expert*innen nicht. Da scheint mit das BVerfG in Gefahr, ein völlig wirklichkeitsfremdes Urteil zu fällen.
Damit die Ukraine überhaupt als kreditwürdig eingestuft werden konnte, mussten diese Regeln geändert werden. Die neuen Vorschriften besagen: Der IWF darf die Regierung in Kiew unterstützen, aber nur wenn sich weitere Geldgeber finden, die das auch tun – und damit die Zahlungsfähigkeit der Ukraine garantieren. Konkret bedeutet das: Der IWF übernimmt 15,6 Milliarden des ermittelten Gesamtbedarfs von 123,5 Milliarden Dollar, die restlichen 107,9 Milliarden müssen einzelne Staaten aufbringen. Das sind bislang im Wesentlichen: die USA und die EU-Länder. [...] Der Währungsfonds selbst steuert also trotz der Lockerung der Kreditvergaberegeln nur einen kleinen Teil der benötigten Summe bei, doch vor allem die Amerikaner wollten ihn unbedingt an Bord haben. Weil er Erfahrung im Umgang mit Krisenstaaten hat. Aber auch, weil sie damit signalisieren wollen, dass die Finanzierung der Ukraine eine Aufgabe der gesamten Staatengemeinschaft ist. [...] Die EU agiert zwar bislang nur als eine Art finanzielle Durchgangsstation. Sie leiht sich Geld am Kapitalmarkt und gibt es zu günstigen Konditionen als Kredit an die Ukraine weiter. Dieser Kredit muss aber über Garantien im europäischen Haushalt abgesichert sein. Und der Spielraum ist dem Vernehmen nach bald ausgeschöpft. Das bedeutet: Damit zusätzliches Geld in die Ukraine fließen kann, müsste der gemeinsame Haushalt möglicherweise aufgestockt werden. Und zwar von den Mitgliedsstaaten der EU. (Mark Schieritz, ZEIT)
Auch das ist ein bisschen ein selbstrefenzieller Treppenwitz: der IWF errechnet eine Summe, die die Ukraine unter reichlich willkürlichen Prämissen bis 2027 braucht, und die wird dann als empirisches Fakt behandelt und ist die Grundannahme für eine komplexe Außenpolitik. Es ist ein wahnsinniger Zahlenhokuspokus. Mir ist natürlich klar, dass man irgendwo einmal anfangen muss, wenn man Bedarfe feststellen und Lasten verteilen will, aber ich sehe es jetzt schon kommen, dass diese Zahl politisch als belastbare Größe behandelt werden wird - und das unvermeidliche Abweichen davon nach oben dann halbe Krisen auslöst.
Dass der Westen der Ukraine noch viel Geld wird geben müssen, steht in meinen Augen außer Frage. Wir können es uns schlicht nicht leisten, sie als failed state an unserer Ostflanke herumhängen zu lassen. Wenn wir das täten, dann wäre in der Tat die ganze Waffenhilfe umsonst gewesen und man hätte sich das alles sparen können, denn im Resultat haben wir dann nur größere Unsicherheit als zuvor an der Grenze. Der Westen sollte hier nicht die Fehler anderer Interventionen wiederholen und zwar großzügig in den eigentlichen Krieg investieren, nur um dann bei der Sicherung des Friedens knickrig zu werden. Diese Investition in unsere Sicherheit lohnt sich - angesichts einer potenziellen Bündnismitgliedschaft der Ukraine sowieso.
Männer wie Peter Thiel oder Elon Musk, die streng genommen als geschickte Investoren Erfolg hatten, konnten sich über den Mythos des modernen Genies als Helden der Gegenwart inszenieren, die sich in einer direkten Traditionslinie mit Leonardo da Vinci, Benjamin Franklin oder Albert Einstein befinden. [...] Diese scheinbare Demokratisierung des Geniebegriffs brachte allerdings auch eine Entdemokratisierung in den Bereichen hervor, in denen die Genies in Erscheinung treten. Das Rollenmuster hat vor allem die Funktion, Autorität zu erzeugen und zu legitimieren. Es handelt sich letzten Endes um ein Herrschaftsmodell, das unbedingte Gefolgschaft einfordert, allerdings selbst wenig zu bieten hat, außer ein vages Charisma. Geschichten über Rücksichtslosigkeit und Brutalität, Willkür, Selbstüberschätzung und sexuelle Ausbeutung begleiten das Genie überall, wo es auftaucht, allerdings eben auch die Versuche, dieses Verhalten zu legitimieren und zu glorifizieren. Der Leiter einer Currywurstbude, der seine Mitarbeiter tyrannisiert, ist ein Arschloch, der Chef eines Dreisternerestaurants, der sich wie ein Berserker aufführt, wird als ein komplexes Genie gehandelt. Der Geniemythos besitzt ein zutiefst reaktionäres Potenzial, das die Figuren des Tyrannen und des Scharlatans zu einer Karikatur meritokratischer Legitimation verbindet. (Joannes Franzen, ZEIT)
Franzens Essay ist sehr viel länger als der hier zitierte Ausschnitt und in seiner Gänze lesenswert. Ich will vor allem diese Aspekte hier hervorheben: die Funktion des Geniemythos als Herrschaftsmodell. Es ist tatsächlich die Überhöhung soziopathischen Verhaltens, das man andernfalls niemals durchgehen lassen würde. Der gleiche Dreck wurde ja auch bei diversen Künstlern oft gesehen, von Roman Polanski bis Eddie Murphy. Es sind Genies, die sind halt ein bisschen anders. Und wie Franzen schreibt ist es auch reaktionär, weil es einer Person eine so herausgehobene Stellung gibt, die diese Person nicht haben sollte.
4) Privilegienkritik aushalten
Kämpfen Linke gegen Armut, kommen andere um die Ecke und behaupten, sie hätten alles ihrem Fleiß zu verdanken. Wird über Rassismus geredet, behaupten weiße Menschen beispielsweise, dass sie doch nicht rassistisch privilegiert sind. Sie scheinen geschockt zu erfahren, dass sie weiß sind. Bisher hielten sie sich nämlich nicht für weiß, sondern einfach nur für Menschen. Auch das ist ein Privileg. [...] „Zwar sind Personen nicht individuell für historisch gewachsene Privilegien verantwortlich, doch sie tragen Verantwortung, gewissenhaft mit eigenen Privilegien umzugehen, sie zu reflektieren und umzuverteilen“, schreibt Simon Sales Prado für die taz. Also tragen wir eine Verantwortung dafür, wie wir mit unseren Privilegien umgehen. Wollen wir sie unsichtbar halten und schützen, indem wir sie verleugnen? Oder wollen wir sie teilen? Beim politischen Handeln sollten wir nicht unsere eigenen (verletzten) Gefühle zentrieren, sondern die Sache, um die es geht. Natürlich, wenn wir es ernst meinen mit der Gleichberechtigung. (Sibel Schick, Campact)
Der Spruch "check your privilege" ist mittlerweile zu einem Klischee geronnen, aber das macht ihn nicht eben falsch. Dass gewisse progressive Aktivist*innen das Ganze deutlich zu weit treiben ist ebenfalls korrekt, sollte aber nicht als Grund gesehen werden, die Kritik völlig zu delegitimieren. Denn strukturelle Privilegien sind die Kehrseite der Medaille struktureller Diskriminierung. Grundsätzlich können daraus zwei Schlussfolgerungen kommen: entweder verschwinden Privilegien dadurch, dass andere gleiche Rechte bekommen (so etwa bei Beschäftigung: wenn alle gleiche Einstellungschancen bekommen, verschwinden bisherige Privilegien weißer Männer) oder aber andere kommen in denselben Genuss (etwa wenn Frauen nicht mehr ständig damit rechnen müssen, sexuelle Übergriffe erdulden zu müssen).
Dies ist ein Plädoyer für Fehlerkultur in der Politik. Das erste, und wie ich finde, schlagende Argument ist ganz einfach: Politik wird dadurch besser. Wer nicht bereit ist, einen Fehler einzugestehen, wird nicht bereit sein, ihn zu beseitigen. Häufig sind politische Vorschläge unausgegoren, manchmal sogar die fertigen Gesetze. Das hat längst nicht immer mit Schlampigkeit zu tun. Viele Prozesse sind wahnsinnig kompliziert, die Bedingungen ändern sich ständig, gerade in Krisenzeiten. Das Gebot der Stunde ist dann, Fehler zu erkennen und zu korrigieren. Das ist die Stärke der Demokratie, denn da kann öffentliche Kritik Anstoß zu Veränderung geben. In autoritären Regimen unterlaufen dem Machthaber offiziell keine Fehler, deshalb können sie nur verschleiert und, wenn überhaupt, stillschweigend beseitigt werden. [...] Fehlerkultur wird noch immer in eine esoterische Ecke gestellt. Als sei sie eine Art Selbstbespiegelung zum Selbstzweck, höchstens ein Nice-to-have, wenn man sonst keine Probleme hat. Das ist eine überkommene Vorstellung. Nicht nur in der Unternehmenswelt lässt sich ein Mentalitätswandel beobachten. Sogar der Bundesnachrichtendienst hat aus den Skandalen der Vergangenheit die Konsequenz gezogen, dass Vertuschungsversuche alles nur noch schlimmer machen. (Helena Bubrowski, FAZ)
Das mit dem Entschuldigen und dem Annehmen von Entschuldigungen ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und nicht auf die Politik beschränkt; siehe dazu auch meinen Artikel "Vom Wert der Entschuldigung". Aber gerade in der Politik ist es ein doppeltes Problem, weil wir einerseits Entschuldigungen fordern und sie andererseits sofort sanktionieren. Und das ist das Bescheuerte an dem ganzen System. Diese Heuchelei haben wir in vielen Bereichen: wir sagen das eine und wollen in Wahrheit das andere. Aber selten wird es so deutlich wie bei Entschuldigungen, die stets als Schwäche gesehen werden und nicht als Stärke - und dazu wegen des Herdentriebs der Medien zwangsläufig irgendwann als alter Hut gesehen würden, den man dann kritisiert, selbst wenn sie eingangs sogar belohnt werden würden.
Resterampe
a) Maßlose Rhetorik, mal wieder. Aber die Debatte über die Letzte Generation ist eh nur noch bescheuert, siehe auch hier.
b) Die COSCO-Geschichte in Hamburg ist wahrlich kein Ruhmesblatt der Ampel.
c) Told y'all.
d) Der Steuer- und Verwaltungsrechtler Wiegand hält die Schuldenbremse durch die Klimakrise effektiv für ausgehebelt.
e) Bob Blume hat einen Artikel zur Abschaffung des Abiturs, den er hier weiter ausführt.
f) Das Wetter wird rasend schnell extremer.
g) Die CDU vollzieht den lange überfälligen Schwenk in der Steuerpolitik und setzt sich jetzt für höhere Spitzensteuern ein. Viele der Vorschläge klingen für mich grundsätzlich sinnvoll, auch wenn die Behauptung, die Abschaffung des Solis helfe "der Mitte" totaler Quatsch ist.
h) Auch ein Offenbarungseid.
i) Als Nachtrag zur Döpfner-Debatte.
j) Gegenüber der Hysterie über die Letzte Generation (siehe a) fällt auf, wie krass verharmlosend über den Reichsbürger-Putsch gesprochen wird.
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