Dienstag, 11. April 2023

Rezension: Jonas Schaible - Demokratie im Feuer: Warum wir die Freiheit nur bewahren, wenn wir das Klima retten - und umgekehrt

 

Jonas Schaible - Demokratie im Feuer: Warum wir die Freiheit nur bewahren, wenn wir das Klima retten - und umgekehrt (Hörbuch)

Disclaimer: Ich bin mit dem Autor persönlich bekannt.

Im Deutschland des Jahres 2050 sind Strom und Wasser immer wieder rationiert. Die Belastung durch Steuern ist hoch, während Leistungen des Staates immer weiter gekürzt werden. Ständig ist das Land von Dürren geplagt; Überschwemmungen und andere Katastrophen sind regelmäßig. Die Temperaturen sind unangenehm hoch; jedes Jahr sterben Tausende an hitzebedingten Ursachen. Die politischen Parteien sind letztlich nicht voneinander zu unterscheiden: die Klimakrise hat jeglichen Handlungsspielraum zerstört, so dass das Land im Endeffekt nur noch im Krisenbewältigungsmodus verwaltet wird. Es ist dieses nicht unrealistische Schreckensszenario, mit dem Jonas Schaible sein Buch beginnt, um aufzuzeigen, welche Befürchtung er für die Zukunft hat: nicht so sehr die totale Apokalypse als den Verlust der Freiheit, wie wir sie heute kennen. Ein übergriffiger Staat im permanenten Notfallmodus, das Beste aus einer schlechten Situation machen, nostalgisch an die gute alte Zeit zurückdenken. Dieses Szenario, das ist Schaibles zentrale These, lässt sich nur demokratisch verhindern - und die Demokratie nur retten, wenn es verhindert wird.

Doch bevor dieser explizit politische Teil beginnt, erklärt Schaible in aller gebotenen Kürze, was das Problem eigentlich ist. Nicht den Treibhauseffekt oder die schädliche Wirkung von CO2; das sollte mittlerweile wahrlich vorausgesetzt werden können. Er springt direkt zu der immer noch kaum verstandenen Problematik exponentiellen Wachstums, der Kipppunkte, der kleinen Zahlen und der Zeit.

Das exponentielle Wachstum betrifft die Aufwärmung des Planeten. Diese verläuft nicht linear, sondern exponentiell, da das Abschmelzen des Eises, die Flächenversieglung, das Tauen der Permafrostböden und andere Faktoren sich gegenseitig verstärken. Das fehlende Eis etwa, das 90% des Sonnenlichts reflektierte, macht Platz für Wasser, das nur 5% des Sonnenlichts reflektiert - ein entscheidender Unterschied. Je mehr Eis schmilzt, desto wärmer wird es darunter - 0,6 Grad für je 100m Dicke. Und so weiter.

Die Kipppunkte sind ein weiterer Ausfluss dieser Nicht-Linearität: sind die Permafrostböden erst einmal aufgetaut, rettet sie nichts mehr. Sind die Polkappen verschwunden, kriegen wir sie nicht wieder gefroren. Und so weiter. Diese Kipppunkte sind eben so real wie unwirklich: niemand kann mit Bestimmtheit sagen, wann sie kommen - nur, dass.

Und dann die Zahlen. 0,26 Grad Erwärmung - die Folge eines vollständigen Tauens des Permafrosts - klingt nicht nach viel, genauso wie 1,5 Grad Erwärmung bis 2100. Doch Schaible zeigt mit erbarmungsloser Schärfe auf, welche Folgen das für den Alltag hat - und das in den gemäßigten Breiten, die wir hier genießen.

Zuletzt spielt der Zeithorizont eine wichtige Rolle. Jeder Tag, der ungenutzt verstreicht, macht die Aufgabe schwieriger und teurer. Anders als die meisten anderen politischen Maßnahmen, bei denen Verzögerungen irrelevant sind oder "nur" Geld kosten, sind Verzögerungen bei der Lösung der Klimakrise katastrophal, weil sich unsere Handlungsspielräume immer weiter einschränken. Die vorhergehenden Punkte haben gezeigt, wie die Mechanismen ablaufen und dass der Prozess sich selbst beschleunigend und nicht umkehrbar, sondern allenfalls bremsbar ist: wir werden nicht zu einem kühleren Zustand zurückkehren, sondern bestenfalls den aktuellen stabilisieren können. Jeder Tag, an dem weiter CO2 emittiert wird, macht die Lage schlimmer.

Nach diesem kurzen physikalischen Crashkurs schwenkt Schaible dann in das eigentliche Thema seines Buches: die politische Bekämpfung der Klimakrise. Denn seine zentrale These ist ja, dass es hier um Freiheit geht. Die Aufmerksamkeit eines staatlichen Systems aber wird genauso wie die anderer Teile der Gesellschaft von akuten Ereignissen in Anspruch genommen. Ein Staat, der ständig Katastrophenschäden beseitigen muss, ist ineffektiv darin, sich zu reformieren oder die Ursache anzugehen. Provokant fragt Schaible, wie viel Freiheit im politischen Handeln einem Bürgermeister im Ahrtal 2021 noch bleibt. Dieses Problem sieht er global: die Bekämpfung der Klimakrise betrifft nie nur einen Nationalstaat, und spätestens wenn die unabschätzbaren Geoengineering-Maßnahmen angewandt werden, sind alle betroffen - auch, wenn sie nie demokratisch darüber abgestimmt haben.

Gleichzeitig sind Demokratien sensible Systeme, stets prekär und bedroht. Von den Republicans in den USA über Orban in Ungarn zu Putin in Russland ziehen sich die Beispiele von Demokratien oder doch wenigstens demokratischen Prozessen, die dem autoritären backlash zum Opfer gefallen sind. Nichts macht Rechtsradikale so attraktiv wie plötzliche Veränderung, weswegen die Rechtsradikalen ja auch antimodernistisch auftreten. Aber was, fragt Schaible, ist die Klimakrise, wenn nicht eine immer schnellere Abfolge immer radikalerer Veränderungen? Die Wahrscheinlichkeit, dass mit ihr ein autoritärer backlash einhergeht, ist jedenfalls hoch.

Die zentrale These Schaibles, dass Klimaschutz nur mit Freiheit einhergeht (und genau diese sichern soll), wird von verschiedenen Seiten auf die Probe gestellt. Er nennt es den "Sirenengesang der Autokraten": die Idee, einer irgendwie gearteten Autorität die Macht zu übertragen, damit diese sich über den Hickhack und die Blockaden stelle, ist links wie rechts immer wieder gegeben. Ihr erteilt er eine klare Absage: Diktaturen sind immer auch Kleptokratien. Macht, einmal übertragen, ist nicht mehr zu kontrollieren, und führt zur Bereicherung der Herrschaftsclique. Weltweit gibt es kein Beispiel für eine Diktatur, die besseren Umweltschutz als die Demokratien betreibt. Eher ist das Gegenteil der Fall. Auch ist kein Zufall, dass Umweltaktivist*in zu sein noch gefährlicher ist als Journalist*in; rund sieben mal so viele Umweltschützer*innen werden jedes Jahr ermordet wie Journalist*innen. Kein Wunder, denn sie gefährden etablierte Interessen. Genau diese Gefährdung etablierter Interessen ist aber das Leitmotiv allen Klimaschutzes. Denn theoretisch sind immer alle dafür; nur wenn es konkret an die eigenen Besitzstände geht, gibt es immer Gründe, warum gerade diese Maßnahme nicht sein darf.

Natürlich geht der Autor auch auf den Sonderfall China ein: für eine eingeschränkte Periode spricht er dem chinesischen System einen "kalten Hyperrationalismus" zu, der die selbstgesteckten Ziele von Wirtschaftswachstum und Machtzuwachs tatsächlich mit langfristig zielgerichteten Plänen zu verfolgen wusste. Doch der Machtgewinn Xi Jinpings ist für Schaible der Schwanengesang dieser Epoche: er wäre der erste Diktator, der sich der Falle entziehen kann, nur noch von Jasagern umgeben zu sein und erratische Entscheidungen zu treffen. Es gibt eine Menge autoritärer Kipppunkte, und China bewegt sich rasend auf sie zu. In dieser Analyse stimme ich ihm gerne zu.

Doch auch in Demokratien ist nicht alles eitel Sonnenschein. So schlecht Autokratien auch in der Bekämpfung der Klimakrise abschneiden; Demokratien sind nur marginal besser. Schaible stellt ihnen ein vernichtendes Zeugnis aus: angesichts der vielenen Ebenen und Unsicherheiten sind die ergriffenen Maßnahmen auch in den Demokratien völlig unzureichend. Das liege daran, dass unsere Entscheidungsprozesse schlicht nicht für das Ausmaß der Krise geschaffen sind; wir hätten sie letztlich für eine stabile Periode (als die sich die so tumutlhaft wahrgenommenen 2010er Jahre letztlich herausgestellt haben) entworfen. Die Demokratie müsse sich neu erfinden.

Die gute Nachricht ist aus Schaibles Sicht, dass die Demokratie sich schon oft neu erfunden hat. Gerade das ist ihr großer Vorteil, besonders gegenüber Autokratien. Sie waren auch stets im Wandel, von Athen bis heute. Er entwickelt den Gedanken, dass Beschränkungen innerhalb der Demokratie nichts Neues sind. Einerseits haben wir aus Weimar die Lehre gezogen, dass sich die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen muss - keine Toleranz den Intoleranten, um es mit Popper zu sagen. Da die Demokratie durch die Klimakrise inhärent bedroht ist, muss sie sich gegen diese verteidigen. Schaible spricht in dem Zusammenhang von "wehrhafter Klimademokratie".

An dieser Stelle zeigt er auf, welche Beschränkungen wir bereits heute hinnehmen: die Schuldenbremse hat es Regierungen praktisch unmöglich gemacht, signifikante Schuldenmengen aufzunehmen, und dadurch rechtlich bindende Handlungskraft erzwungen. Die Währungspolitik ist der demokratischen Politik durch die unabhängigen Notenbanken ebenfalls vollständig entzogen. Beides ist aus demokratischer Sicht legitim, weil grundsätzlich durch Gesetze reversibel, verrechtlicht aber Bereiche. Für Schaible ist das BVerfG-Urteil von 2021 zum Klimaschutz die Grundlage für analoge Maßnahmen im Klimaschutzbereich. Er sieht die Judikative der Legislative und Exekutive immer stärkere Fesseln anlegend, um Klimaschutz rechtlich zu erzwingen - und so letztlich die Selbstblockade des demokratischen Prozesses zu lösen, wie das in den Finanzfragen auch gemacht wurde.

Ich muss zugeben, dass dieser Gedanke Schaibles mir riesige Bauchschmerzen bereitet. Ich habe hier im Blog schon oft darüber geschrieben, für wie problematisch ich die Selbstentmachung der Politik halte, das Verändern der Verfassung, das Abgeben von Entscheidungskompetenz an ungewählte Institutionen und das Entscheidungen Übertragen ans BVerfG. Aber die Logik, die er vorbringt, ist unbestechlich, und das Argument, dass gerade die Loslösung einer Frage aus dem permanenten Meinungsstreit hilfreich sein könnte, ist nicht von der Hand  zu weisen. Denn wir werden nicht auf einen Konsens kommen, welche Methode die beste ist und was wir nun tun müssen, weder national noch international. Die identitätspolische Irrlichterei, die wir aktuell um Themen von Atomkraft über Fleischkonsum zu Fahrrädern und Solaranlagen sehen können, ist Beleg genug dafür.

Schaible erklärt hierzu, dass die Zeit, einen spezifisch grünen, sozialdemokratischen, liberalen oder konservativen Weg zur Lösung der Klimakrise zu finden vorbei sei. Diese Zeit hatten wir vor 30 Jahren; jetzt gibt es nur noch einen Weg. Idealerweise ist der grün umwälzend, sozialdemokratisch gerecht, marktwirtschaftlich effektiv und konservativ undisruptiv zugleich. Diese eierlegende Wollmilchsau wird es natürlich nicht geben, aber sie präsentiert ein nützliches Bild zur Orientierung.

Im letzten Teil seines Buches skizziert er dann "Labore der wehrhaften Klimademokratie". Der Autor erklärte im Gespräch mit mir, er empfinde es als "anmaßend", konkrete Aktionspläne entwerfen zu wollen. Deswegen stellt er eher Ideen auf, "Labore", in denen zukünftige Lösungsideen getestet werden können. Er erklärt, einen "reformistischen" Ansatz zu verfolgen. Radikale Lösungen hält er nicht für realistisch, egal, wie charmant sie auf dem Papier aussehen mögen. Seine "wehrhafte Klimademokratie" orientiert sich an einem dualen Ansatz: einerseits durch Initiativen und Druck "von unten", möglichst dezentral und bürger*innennah. Auf der anderen Seite muss es aber auch steuernde Instanzen geben. Also keine Planwirtschaft - das verbietet sich quasi von selbst -, aber auch kein Nachtwächterstaat. In dem Zusammenhang erteilt er auch der Idee der marktwirtschaftlichen Effizienz eine Absage: für Effizienz fehle uns mittlerweile die Zeit; alles, was zähle, sei Effektivität.

Und das führt zu gewaltigen Problemen, die er kurz am Beispiel Mobilität durchdekliniert: wenn wir bis 2045 klimaneutral sein wollen, müssen wir angesichts der Plan- und Bauzeiten heute damit anfangen, massiv (und letztlich "ineffizienz") den öffentlichen Nahverkehr auszubauen. Das aber mindert die Qualität des aktuellen Nahverkehrs (noch weiter), wegen der Umbaumaßnahmen, und muss im Hinblick auf Resilienz des Systems gegen Extremwetter erfolgen (was aktuell nicht gegeben ist). Gleichzeitig ist der ÖPVN strukturell zentralisiert, wo wir aber eigentlich dezentrale Systeme haben wollen, weil die resilienter sind. Das alles unter einen Hut zu bringen ist eine Mammutaufgabe.

Schaible ist skeptisch, ob "mehr" Demokratie die Lösung sein kann. Für ihn scheitert es nicht an der Demokratie per se, und er warnt auch vor Moralisieren gegenüber etwa der Lobbyarbeit der deutschen Autobauer. Diese ist zwar schädlich für alle, aber ein Fakt, den man mit noch so viel Ärger nicht wegbekommen wird. Stattdessen plädiert er, mit den Gegebenheiten zu arbeiten, die wir haben, und stattdessen zu reformieren, wo es möglich ist. Bürger*innenräte findet er als Ergänzung ganz nett, aber eine Garantie für mehr Klimaschutz sind sie nicht; Wahlrechtsreformen änderten ebenfalls recht wenig, und die Strukturen des Bundestags böten auch wenig Raum für überzeugende Reformen.

Wesentlich größere Chancen sieht er in der Judikative. Unter dem Schlagwort der "Grünen Null" macht er große Potenziale für eine Festschreibung des Klimaschutzes ins Grundgesetz aus, weil dies die bisher unsystematische Rechtsprechung, bei der Richter*innen "zwischen den Zeilen" Spielräume erkennen, systematisieren und konkrete Ansprüch ermöglichen würde. Auf anderen Gebieten sie das ja auch der Fall. Auch die in manchen Entwicklungsländern bereits eingeführte Praxis, die Natur selbst zu einem Rechtssubjekt zu machen, diskutiert er; sie sei zwar ein "scharfes, aber zweischneidiges Schwert", da das Willkürpotenzial recht hoch sei.

Gutes Potenzial räumt er einem Klima-Vetorecht ein, wie es etwa die Grünen im Wahlkampf 2021 gefordert hätten. De facto existiert ein solches Vetorecht ja in anderen Ministerien auch (Christian Lindner setzt seines ja sehr gerne und wirksam ein). Schaible räumt ein, dass natürliche die präzise Umsetzung und die Verhinderung einer reinen Blockadefunktion ungelöste Probleme seien. Erfolgversprechend ist auch der Ansatz, die Behörden effektiver zu machen. Schaible kontrastiert hier die amerikanische EPA (vor Trumps Sabotagefeldzug) positiv mit dem Umweltbundesamt, sowohl was Ausstattung als auch Kompetenzen angeht, und spricht sich für die Schaffung einer "Klimabürokratie" aus. Neben der Vetomacht könnte eine solche auch Bedarfe erkennen und entsprechende Förderungen anstoßen - etwa in der Produktion von Solarpanelen.

Zuletzt bietet Schaible mit verbilligten Krediten für klimaförderliche Programme und einem verpflichtenden "Klimadienst" als Analog zum Wehrdienst noch zwei weitere Ideen an. Wie bei allem erkennt er an, dass diese sicherlich nicht ohne Reibungsverluste umzusetzen noch ein Panacea darstellen können. Generell ist er offen gegenüber all den Schwächen, Unausgegorenheiten und Widersprüchlichkeiten, die jedem Klimaschutzprogramm inhärent sind. Allein, es ist schlicht nötig zu handeln. Die Zeit geht uns aus, und die Freiheit steht auf dem Spiel.

Ich glaube, die Rezension hat bereits offenkundig gemacht, dass ich Schaibles Buch sehr schätze. Es hat mich an vielerlei Stellen zum Nachdenken gebracht, neue Denkansätze und Denkrichtungen eröffnet und mir die Klimakrise in einem neuen Licht gezeigt. Selbst wenn man manche Gedanken ablehnt, Lösungsansätze verwirft oder Prämissen für falsch hält, ist die Beschäftigung mit seinen Thesen in jedem Falle fruchtbar. Denn die Grundannahme von der Vereinbarkeit von Freiheit und Demokratie mit den Bedingungen der Klimakrise gehen alle an, und man muss seine Schlussfolgerungen ja nicht teilen. Der Denkansatz als solcher aber ist unbedingt wichtig - und allein dessen sollte das Buch weithin gelesen werden. 

Anmerkung: Ich habe mit Jonas Schaible auch in einer Podcast-Folge der Bohrleute zu dem Buch gesprochen; die Konversation sei allen ergänzend zu der Rezension und der eigenen Lektüre wärmstens ans Herz gelegt.

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