Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) There’s No Such Thing as a Great Power
Die Enthüllung der russischen Schwäche wirft nicht nur Moskaus Status als Großmacht in Frage, sondern auch das Konzept einer Großmacht selbst. Die Verwendung des Begriffs "Großmacht" ist oft vage und unscharf definiert. Analysten sollten stattdessen untersuchen, was eine "vollumfängliche" Macht ausmacht, die nicht nur militärische Stärke, sondern auch wirtschaftliche und technologische Fähigkeiten umfasst. In den letzten 150 Jahren gab es nur wenige solcher Mächte, darunter die USA, das Vereinigte Königreich, Deutschland, die Sowjetunion und China. Die Fähigkeit, hochwertige Militärausrüstung herzustellen und einzusetzen, ist ein wichtiger Aspekt militärischer Macht. Politische und soziale Faktoren spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle. Westliche Entscheidungsträger haben die russische Macht in der Vergangenheit oft überschätzt, was zu schwerwiegenden Konsequenzen geführt hat. Es ist wichtig, ein genaueres Verständnis von Macht und deren Ausübung zu entwickeln, um zukünftige Fehleinschätzungen zu vermeiden. (Philips O'Brien, Foreign Policy)
Tatsächlich sind Konzepte wie "Großmacht" oder "Supermacht" normativ stark aufgeladen. Das "Konzert der Großmächte" um die Jahrhundertwende etwa hat durch die ständige Statusrangelei - wer ist eine Großmacht und warum? Es hat sich ja dann letztlich auch gezeigt, wer keine ist. Um bei dem Beispiel zu bleiben: vielleicht hätte ohne dieses Statusgetue Österreich-Ungarn nicht krampfhaft versucht, seine Stellung im Club der Fünf zu bewahren und wäre vorsichtiger beziehungsweise zurückhaltender gewesen?
2) Wie die Reichen unantastbar wurden
In den letzten Tagen sind mehrere Nachrichten aufgetaucht, die eine erhebliche sozioökonomische Schieflage in Deutschland zeigen. Während 2.900 Menschen im Land mehr als 100 Millionen US-Dollar besitzen und 21 Prozent des gesamten Vermögens kontrollieren, wird der Mindestlohn nur um 41 Cent erhöht. Eine Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) zeigt zudem, dass Unternehmensgewinne den größten Teil der Inflation in Europa ausmachen. Trotzdem scheint die politische Klasse kaum Interesse an diesen Ungleichheiten zu haben. Dies ist bemerkenswert, da soziale Ungleichheit früher als schädlich angesehen wurde. Sogar der IWF empfiehlt eine Vermögensteuer für reiche Länder, während deutsche Wirtschaftsexperten eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes vorschlagen. Die Politik reagiert jedoch nicht auf den öffentlichen Druck, und große Teile der Gesellschaft scheinen nicht mehr an die Veränderbarkeit der ökonomischen Verhältnisse zu glauben. Die Naturalisierung wirtschaftlicher Bedingungen und die Trennung von Wirtschaft und Politik haben dazu geführt, dass Ungleichheiten als unveränderliche Naturereignisse betrachtet werden. Eine Ideologie, die den Interessen der Vermögenden dient. (Lenz Jacobsen, ZEIT)
Ich finde das wenig verwunderlich. Wir haben auf breiter Front eine Entpolitisierung dieses Themas erlebt. Das war ja eine jahrzehntelange, konzertierte Bemühung: der Staat habe sich aus der Wirtschaft herauszuhalten. Das bedeutet übrigens nicht, dass es keine staatliche Wirtschaftstätigkeit gegeben hätte; bekanntlich sind die Staatsausgaben ja nicht eben gesunken. Es bedeutet aber, dass sich der Rahmen des Vorstellbaren verschoben hat. Paradoxerweise wurden dem Staat auf der einen Seite völlig neue Gestaltungsspielräume und -ansprüche eingeräumt (was etwa in der Ausweitung sozialer Leistungen seinen Niederschlag findet), aber auf der anderen Seite das, was früher unter "Wirtschaftspolitik" oder "Industriepolitik" lief in den Bereich des Anrüchigen verschoben. Eingriffe in die Struktur der Wirtschaft und der Besitzverhältnisse waren bis zu den 1980er Jahren wesentlich vorstellbarer; umgekehrt waren damals die Ansprüche an die Tätigkeit noch nicht so groß.
Diese Unterschiede haben ihren Weg vom rechten Teil des Spektrums auch in den Linken gefunden; als Stichworte seien hier Clinton, Blair und Schröder genannt. Die Linke ist, was das alles angeht, inzwischen auch weitgehend ideenlos. Es wird zwar, wie Jacobsen das hier macht, immer wieder beklagt, dass auf dem Feld nichts geht, aber für mich fehlt es auch an ernstzunehmenden Gegenvisionen. Diese Unernsthaftigkeit ist in meinen Augen mit ein großer (und praktisch nie anerkannter Grund), dass die Debatte einfach nicht stattfindet, jedenfalls kommt sie nicht über ritualisierte Kritik hinaus. Alle paar Wochen oder Monate wird mal wieder erkannt, wie ungleich die Gesellschaft doch ist, man tauscht die altbekannten von Floskeln von Solidarität und Gerechtigkeit versus Leistung und Verdienst aus, und dann ist wieder Ruhe. Mich erinnert das an die Klimadebatte, wo im Endeffekt auch nur eine Richtung ernsthafte Ideen hat und alle anderen sich in ritualisierter Kritik ergehen, was zu der Dominanz dieser Richtung in der öffentlichen Wahrnehmung führt. Genauso wenig wie Klimapolitik ein grünes Thema sein sollte, sollte Wirtschaftspolitik ein bürgerliches sein. Aber so ist es in beiden Fällen leider.
3) Don’t Reform the Courts. Disempower Them.
Der sozialistische Jurist Louis Boudin argumentierte bereits 1932 in seinem Buch "Government by Judiciary" überzeugend, dass die Gerichte stets den Interessen der Reichen dienen. Dieser Standpunkt wurde von liberalen und linken Kreisen während der New-Deal-Ära geteilt, da sie der Meinung waren, dass die Gerichte eingeschränkt werden müssten, um eine Demokratie zu verwirklichen. Die aktuelle reaktionäre Ausrichtung der Gerichte könnte dazu führen, dass Liberale und Linke sich mit der Frage der Macht der Gerichte auseinandersetzen müssen. Zwei Harvard-Rechtswissenschaftler schlugen vor, den Obersten Gerichtshof durch Gesetze zu beeinflussen und seine Befugnisse einzuschränken, um ein Verständnis von demokratischer Gerechtigkeit zu fördern. Dieses Vorhaben erfordert jedoch ein langfristiges Engagement und könnte dazu führen, dass Liberale ihre Verbindungen zu großen Anwaltskanzleien und Elite-Rechtsschulen aufgeben müssen. Die Frage der Entmachtung der Gerichte betrifft die Möglichkeit, in den USA eine vollständige Demokratie zu erreichen, da die Gerichte historisch gesehen oft Feinde der Volkssouveränität und der Ausweitung der Rechte waren. (Jeet Heer, The Nation)
Ich bin imemr hin- und hergerissen, was die Frage der Reform des Justizsystems in den USA angeht. Da laufen schließlich zwei Probleme durcheinander: einerseits die parteiunabhängig zu große Macht der dritten Gewalt und andererseits meine Ablehnung der Politik, die diese ausübt. Deswegen finde ich Heers Ansatz hier auch grundsätzlich besser. Wenn man die Macht der Gerichte generell beschneidet, ist das langfristig parteiunabhängig (aktuell würde es wegen der rechtsradikalen Mehrheiten natürlich den Republicans schaden, aber keine Mehrheit hält ewig, und irgendwann wird, wie in den 6oer und 70er Jahren, auch wieder eine liberale Mehrheit existieren).
Die Begründung dafür habe ich schon öfter dargelegt, jüngst im Podcast zum Grundgesetz mit Ariane in Bezug auf das BVerfG. Ich bin kein Fan davon, auch wenn es mir politisch in den Kram läuft, dass Politik "über Bande" von den Gerichten gemacht wird. Solche Entschlüsse gehören in einer Demokratie in die Hände der Volksvertretung. Die wurde gewählt, und politische Fragen haben politisch entschieden zu werden, nicht von der Juristerei.
4) Ziviler Ungehorsam als Demokratie
Ziviler Ungehorsam ist seit dem Frühjahr 2022 in Deutschland wieder ein viel diskutiertes Thema. Die Protestaktionen der "Letzten Generation" haben Justiz, Wissenschaft und die politische Öffentlichkeit mit dynamischen Entwicklungen konfrontiert. Die Kernfrage, die dabei immer im Raum steht, ist, wann es gerechtfertigt ist, Gesetze zu brechen, um für ein höheres Ideal einzustehen. Historisch betrachtet ist ziviler Ungehorsam gerechtfertigt, wenn es um existenzielle Krisen geht. Verschiedene Philosophen wie John Rawls, Ronald Dworkin, Jürgen Habermas, Hannah Arendt und Robin Celikates haben unterschiedliche Ansätze, um zivilen Ungehorsam zu rechtfertigen. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Auffassung, dass ziviler Ungehorsam eine tiefere Gesetzestreue ausdrückt und ein Mittel ist, um auf fundamentale Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Die Klimabewegung nutzt zivilen Ungehorsam als politisches Instrument, um auf die existenzielle Krise des Klimawandels aufmerksam zu machen und Demokratiedefizite anzuprangern. Blockaden sind ein häufig genutztes Mittel des zivilen Ungehorsams, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen. Ziviler Ungehorsam ist ein Teil der politischen Praxis der Bürger:innen und kann demokratische Veränderungen herbeiführen. In Anbetracht existenzieller Krisen wie der Klimakrise ist ziviler Ungehorsam als Protestmittel besonders gut legitimierbar. Er zeigt auf, dass Entscheidungsträger:innen nicht angemessen auf lebensbedrohliche Krisen reagieren und deckt demokratische Missstände auf. Ziviler Ungehorsam ist somit ein wichtiger Teil einer intakten und lebendigen Demokratie. (Lena Herbers, Verfassungsblog)
Ähnlich wie bei Fundstück 3 laufen bei diesem Thema zwei Themenkomplexe durcheinander: die rechtliche Bewertung von zivilem Ungehorsam einerseits und seine gesellschaftliche Legitimierung andererseits. Rechtlich gesehen ist die Sache nicht ganz so klar, wie dass die bürgerlichen Kritiker*innen immer gerne hätten; ich hatte in den letzten Vermischten immer wieder mal Expertisen dazu verlinkt. Grundsätzlich aber kann wenig Zweifel daran bestehen, dass hier Rechtsverstöße stattfinden (wie auch immer die dann gerichtlich zu bewerten sind, das übersteigt meine Expertise). Das wird ja auch nicht grundsätzlich angezweifelt.
Der viel stressigere Teil ist die Deutung: was folgt daraus? Denn wie Herbers beschreibt ist ziviler Ungehorsam in modernen Demokratien Teil des politischen Prozesses. Ich finde es auffällig, wie er in der Rückschau immer völlig verklärt wird, zu seiner jeweiligen Zeit aber massive Abwehrreaktionen hervorrief. Denken wir an die Suffragetten: gegen deren Proteste ist die Letzte Generation ein laues Lüftchen, das waren effektiv Terroristinnen. Heute gelten sie als bewundernswerte Vorkämpferinnen der Emanzipation. Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung wurden zur damaligen Zeit massivst angefeindet und waren keinesfalls mehrheitsfähig; die Sit-Ins, Busboykotte etc. galten als schwerwiegende Gefährdungen des öffentlichen Friedens. Heute werden sie parteiübergreifend in Gedenktagen begangen und stellen sich selbst die härtesten GOP-Rassisten in eine Tradition mit MLK. Und selbst die Friedensbewegung der 1980er Jahre oder die Anti-Atom-Bewegung haben ihre damaligen Kanten geglättet bekommen und sind eher Folklore, von den 68ern gar nicht erst angefangen. Ich gehe davon aus, dass dasselbe auch mit der Letzten Generation passieren wird.
5) Harvard fraud claims fuel doubts over science of behaviour
Behauptungen, dass gefälschte Daten in von einer renommierten Ethikexpertin der Harvard Business School mitverfassten Artikeln verwendet wurden, haben eine wachsende Kontroverse über die Validität der Verhaltenswissenschaft ausgelöst. Die Ergebnisse dieser Wissenschaft werden in Business Schools gelehrt und in Unternehmen angewendet. Unternehmen wie Coca-Cola und JPMorgan Chase haben Führungskräfte, die sich auf Verhaltenswissenschaft spezialisiert haben, und Regierungen weltweit haben ebenfalls deren Erkenntnisse übernommen. Doch nun werden bekannte Prinzipien wie die "Nudge-Theorie" in Frage gestellt. Die Veröffentlichung gefälschter Daten in zahlreichen Forschungsprojekten des niederländischen Forschers Diederik Stapel vor einem Jahrzehnt führte zu Zweifeln an der Bedeutung des "sozialen Primings", der Idee, dass bestimmte Reize das Verhalten von Menschen verändern können. Dieser Vorfall und andere haben das Vertrauen in die Verhaltenswissenschaft erschüttert. Obwohl die aktuellen Vorwürfe eine weitere Belastung für die Verhaltenswissenschaft darstellen, sind Forschungsergebnisse in diesem Bereich bereits zuvor infrage gestellt worden. Dennoch betonen Befürworter der Verhaltenswissenschaft, dass sie einen wertvollen Beitrag zur Korrektur unbegründeter Verhaltensprognosen leisten kann. Experten schlagen vor, dass die Verhaltenswissenschaft durch eine verstärkte Weitergabe von Daten, eine Vereinfachung von Forschungsteams und eine vorsichtigere Herangehensweise an Laborstudien rigoroser gestaltet werden sollte. Es wird auch empfohlen, Forschungshypothesen vorab zu registrieren, um das Cherry-Picking von Daten zu verhindern. Trotz der aktuellen Kontroversen sehen Befürworter der Verhaltenswissenschaft diese als Ausnahmen und betonen ihren Wert bei der Korrektur unbegründeter Verhaltensprognosen. (Andrew Jack/Andrew Hill, Financial Times)
Ich habe eine besondere Beziehung zu dem Thema "Nudging". Als wir Deliberation Daily 2013 gestartet haben, war die Lektüre von Sunsteins "Simpler - The Future of Government" eine der ersten Artikelreihen. Die Idee schien die klassischen ideologischen Bruchlinien zu durchschneiden und bot einen neuen und spannenden Ansatz. Ich war ein ziemlicher Fan. Doch in der letzten Zeit haben sich immer mehr Zweifel daran gemeldet, dass das überhaupt funktioniert. Die im obigen Financial-Times-Artikel angesprochene Replikationskrise der Psychologie ist ein großer Aspekt davon, aber unabhängig von der empirischen Basis ist leider auch der Pop-Science-Aspekt Sunsteins genausowenig zu vernachlässigen wie seine Wirkung als Chef von OIRA. Ich habe schlicht zu viel vom KoolAid getrunken und seine Selbstdarstellung für bare Münze genommen, was nie eine besonders gute Idee ist. So attraktiv Sunsteins Konzepte in der Theorie waren, so problematisch waren sie in der Realität. Der "If Books Could Kill"-Podcast hat zwei Folgen dazu, die das im Detail auseinandernehmen (Teil 1, Teil 2).
Resterampe
a) Interessante Einordnung der debt-forgiveness-Entscheidung des SCOTUS. Siehe dazu auch den Vergleich mit der für Affirmative Action, die er für vernachlässigbar hält. Zu Affirmative Action hat Marcel Fratzscher interessante Schlussfolgerungen für Deutschland.
b) Shot and Chaser.
c) America finally loves Obamacare. Die Vorhersage kam von nüchternen Beobachtungen jahrelang, und ich bin froh, dass sie Recht behalten haben.
d) Electoral College Ratings: Expect Another Highly Competitive Election.
e) Guter Punkt zu diesem amerikanischen Kulturkampfphänomen des Bäckers, der sich weigert, eine Hochzeitstorte für gleichgeschlechtliche Ehen zu backen.
f) Sehr guter Hinweis auf das Phänomen des Concept Creep.
g) Die Umfragefrage, wie es aktuell um die Wirtschaft stehe, hat praktisch keine Relation dazu, wie es um die Wirtschaft steht.
h) YouGov hat eine Umfrage zum Erkennen von Fake-Headlines gestartet. Ich finde die Ergebnisse eigentlich gar nicht so schlecht. Ich habe darüber ja schon einmal geschrieben, aber ich glaube, dieses Phänomen wird wesentlich überbewertet.
i) Beim Wiederaufbau im Ahrtal wird nicht auf Flutsicherung geachtet. Es ist zum Haareraufen.
j) Spannende Einordnung zum Wagner-"Putsch".
k) Interessanter Thread zu den Unruhen in Frankreich.
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