Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Bad Memory. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung am Scheideweg
In den Nuller Jahren begann in Neukölln eine Gruppe vor allem türkischer Frauen, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen. Sie waren entsetzt von dem, was sie dabei erfuhren und fragten sich, ob ihnen dasselbe Schicksal wie den Juden widerfahren könnte. Doch als sie ihre Ängste äußerten, wurden sie von ihren deutschen Gastgebern zornig abgewiesen. Das Buch "Subcontractors of Guilt" von Esra Özyürek untersucht deutsche Bildungsinitiativen zum Holocaust für arabische und muslimische Gemeinschaften. Es zeigt, dass die Teilnehmer oft unerwünschte Verbindungen zu nationalistischer Gewalt in Deutschland oder zu Konflikten in ihrer Heimat herstellen. Für viele Deutsche sind die Ängste der Migranten "falsche Gefühle". Deutsche erwarten von Migranten, die Rolle reuiger Täter einzunehmen und sich nicht als potenzielle Opfer zu fühlen. Deutschland hat eine beeindruckende Erinnerungskultur entwickelt, aber einige sehen darin ein narzisstisches Projekt mit verstörenden Auswirkungen. Die Erinnerung an den Holocaust wird oft genutzt, um deutsche Überlegenheit zu betonen und Antisemitismus auf Araber und Muslime abzuladen. Der deutsche Fokus auf die Vergangenheit schränkt den Raum für jüdisches Leben außerhalb deutscher Wahrnehmung und Diskurse ein. Palästinensische Identität ist in Deutschland zu einem Marker von Antisemitismus geworden und wird kaum laut manifestiert. Antisemitismus in Deutschland nimmt zu, vor allem von rechts, aber Palästinenser und Muslime werden zum Hauptobjekt der Antisemitismusdebatte gemacht. Deutschlands Verpflichtung zum Holocaust-Gedenken schließt das Erinnern an koloniale Gewalt oft aus. Deutschland betont seine Loyalität zum Staat Israel und nutzt Kulturförderung, um BDS-Bewegung zu diffamieren. Jüdische Identität wird geleugnet, palästinensische Identität diffamiert. Um eine wirkliche Umkehr zu vollziehen, muss Deutschland die deutsche Erinnerungskultur hinterfragen und sich gegenüber Palästinensern öffnen. Erinnerung und ihre Lehren müssen konstruktiv genutzt werden, um Ungerechtigkeiten in der Gegenwart anzugehen. Die Deutschen müssen sich bewusst sein, dass Erinnerungsarbeit nie vollendet ist und sich gegen supremacy in all ihren Formen stellen müssen. Erinnerung kann auch eine Grundlage für den Aufbau neuer Welten sein. (Jewish Currents, Geschichte der Gegenwart)
Ich teile die Kritik des Artikels an der deutschen Erinnerungskultur in Bezug auf die Verstrickung des Judentums und die problematische Solidarisierung mit den Juden durchaus. Ich empfinde es jedoch als äußerst schwierig, anstrengend und problematisch, die Thematik in Bezug auf die Palästinenser*innen in einer halbwegs objektiven Art und Weise zu debattieren. Deshalb behandele ich dieses Thema in meinem Blog auch so selten. Legitime Kritik an den Methoden des Staates Israel im Umgang mit der arabischen Bevölkerung vermengt sich nur allzu leicht mit antizionistischen, antiamerikanischen und ja, auch antisemitischen Motiven. Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass die demonstrative Unterstützung des Staates Israel durch bestimmte Kreise (Springer...) gerne als Waffe im Kampf gegen politische Gegner missbraucht wird. Es mag feige sein, aber deshalb halte ich mich weitgehend aus diesen Konflikten heraus.
2) Bolsonaro Faces the Rule of Law
Am 30. Juni 2023 wurde der ehemalige brasilianische Präsident Jair Bolsonaro vom Obersten Wahlgerichtshof für die nächsten acht Jahre von allen Wahlpositionen ausgeschlossen. Er wurde des Missbrauchs politischer Macht beschuldigt, weil er in einem Treffen mit ausländischen Botschaftern im Jahr 2022 wiederholt gefälschte Informationen über das brasilianische Wahlsystem verbreitete. Obwohl es weitere Wahlverfahren gegen Bolsonaro gibt, war dies der erste Fall, der vor das höchste Wahlgericht Brasiliens kam. Das Gericht entschied, dass Bolsonaro gegen Wahlgesetze verstoßen und seine präsidentiellen Befugnisse missbraucht habe, was die Fairness des Wahlprozesses beeinträchtigte. Das Urteil basierte auf bestehenden Gesetzen und nicht auf einer rechtlichen Neuerung. Trotz Bolsonaros Versuch, sich als Opfer darzustellen, fand keine breite Unterstützung für ihn statt. Das Urteil spiegelt die institutionelle Stabilität Brasiliens wider und verdeutlicht die Bedeutung der Integrität des Wahlprozesses. (Emilio Peluso Neder Meyer, The Atlantic)
Ich habe an dieser Stelle schon oft die Problematik angesprochen, Staatsoberhäupter nach ihrer Amtszeit zu verfolgen. Allerdings bin ich zunehmend skeptisch, inwieweit dieses Argument tatsächlich standhält. Auch in anderen Ländern werden ehemalige Regierungschefs und Staatsoberhäupter vor Gericht gestellt, ohne dass deswegen die Demokratie zusammenbricht. Man denke in diesem Kontext nur an Frankreich und Sarkozy. Ich komme daher mehr und mehr zu dem Schluss, dass mein Zögern bezüglich der Unterstützung einer Strafverfolgung offensichtlich schuldiger Staats- und Regierungschefs in den USA oder Israel eher ein negatives Urteil über die demokratische Stabilität dieser Staaten darstellt, als ein grundsätzliches Problem. Schließlich wäre es keine Gefahr für die Demokratie in Deutschland, Gerhard Schröder strafrechtlich für Korruption zu verfolgen (unabhängig davon, ob er tatsächlich strafwürdige Dinge begangen hat, was ich für unwahrscheinlich halte). Bolsonaros Verurteilung jedenfalls zeigt deutlich, dass Demokratien sich sehr wohl gegen solche Personen zur Wehr setzen können und sollten.
Präsident Joe Biden wird bei seinem Besuch in South Carolina eine neue Solar-Energie-Fertigungsanlage loben und dabei betonen, dass einige der größten Gewinner seiner Wirtschaftsagenda republikanisch geprägte Orte sind, deren politische Führer seine Initiativen konsequent abgelehnt haben. Durch seine wirtschaftspolitischen Maßnahmen, insbesondere durch zwei Gesetze zur Förderung der heimischen Produktion von sauberer Energie und Halbleitern, hat Biden bereits private Investitionen in Höhe von etwa 500 Milliarden Dollar in neue Fabriken und Erweiterungen bestehender Anlagen ausgelöst. Gleichzeitig investiert die Bundesregierung durch ein parteiübergreifendes Infrastrukturgesetz Milliarden von Dollar in die Reparatur von Straßen, Brücken und anderen Einrichtungen. Obwohl diese Investitionen die Wirtschaft ankurbeln und neue Arbeitsplätze schaffen könnten, ist der politische Einfluss für Biden und die Demokraten unsicher. Viele dieser Investitionen fließen in republikanisch geprägte Gebiete, die bei den Wahlen nicht für Biden gestimmt haben. Die Verteilung der Investitionen könnte die politische Unterstützung und die Bemühungen der Demokraten, gute Arbeitsplätze zu schaffen, beeinträchtigen. Trotzdem sieht Biden diese Entwicklung als Beweis dafür, dass er im Interesse aller Amerikaner regiert, unabhängig von ihrer politischen Orientierung. (Ronald Brownstein, The Atlantic)
Wir hatten diese Diskussion sowohl im letzten Vermischten im Kontrast zu Kanzler Olaf Scholz als auch im Vorletzten Vermischten im Hinblick auf die Idee von "deliverism". Ich stimme Ronald Brownstein vollkommen darin zu, dass die großen Gesetzeswerke unter beiden zeigen, dass er im Interesse des gesamten Landes regiert, seinen Job ernst nimmt, kompetent ist und genau das tut, was ein Präsident tun sollte. Dasselbe gilt jedoch auch für Barack Obama, und auch er konnte sich davon und von $5 ein Sandwich bei Subway kaufen. Mittlerweile habe ich eine ambivalente, gelegentlich fast ins zynisch abgleitende Haltung zu dieser Art von Politik entwickelt. Ja, es ist genau das, wie Politik eigentlich funktionieren sollte, und ich habe das lange Jahre auch gefeiert und stets begrüßt. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass dies für die Wahlchancen der jeweiligen Politiker*innen bestenfalls neutral, häufig aber negativ ist. Es ist der unauflösbare Widerspruch im Herzen der Demokratie: Die Wählenden sagen das eine und wählen das andere.
4) Das Trauma der Sozialdemokratie ist zurück
Die SPD befindet sich in einer Krise, und während die Grünen quengeln und die Union hektisch wird, schweigt die SPD. In den letzten Wochen gab es jedoch verschiedene Meldungen, die den Anspruch der SPD auf Respekt und Eigenverantwortung infrage stellen. Der Mindestlohn wird nur minimal erhöht, die Reallöhne sind gesunken, die Kaufkraft der unteren und mittleren Schichten ist gesunken, die Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung steigen, die Kindergrundsicherung wird gekürzt, und die Bafög-Sätze werden nicht angehoben. Zusätzlich sind die Mieten stark gestiegen, während das Versprechen von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr nicht erfüllt werden kann. Die SPD akzeptiert die Prämissen der FDP, keine Steuererhöhungen und keine Neuverschuldung, und scheint sich nicht für Verteilungsfragen zu interessieren. Die Parteiführung ist vor allem damit beschäftigt, die Politik des Kanzlers zu loben. Die SPD hat kein Personal, das in der Lage ist, Konflikte anzugehen oder eine Debatte anzustoßen. Die Partei fürchtet, als zu links wahrgenommen zu werden, und vernachlässigt wichtige Themen wie eine gerechtere Besteuerung der Wohlhabenden. Obwohl Olaf Scholz sich einst von der Agenda-Politik distanzierte, wirkt er nun wieder wie der alte Scholz. (Robert Pausch, ZEIT)
Dieser Artikel scheint mir einer aus der beliebten Reihe "Wenn ich König der SPD wäre" zu sein. Selbstverständlich sind alle genannten Themen wichtige Anliegen, die zumindest in der Theorie in das Repertoire der Partei fallen würden. Gleichzeitig sind sie jedoch letztlich nur eine Sammlung von Politikansätzen, aus denen keine Wahlentscheidung hervorgeht. Wir haben dies bereits in Fundstücke 3 thematisiert. Olaf Scholz wurde 2021 aus demselben Grund gewählt wie Angela Merkel all die Jahre zuvor: wegen seines Versprechens, dass alles beim Alten bleiben und niemand besonders belastet werden würde. Dieses Versprechen ist mit den hier von Pausch angebrachten Forderungen völlig unvereinbar. Die sozialdemokratische Seele ist daher zwar ständig verletzt, wird jedoch mit dem Trostpflaster des Kanzleramts zuverlässig versorgt. Zwar steht die Partei in Umfragen derzeit nicht besonders gut da, aber es ist keineswegs sicher, dass sie bei einer etwas linkeren, aktiveren Politik in irgendeiner Weise davon profitieren würde. Die Gefahr, als "zu links wahrgenommen" zu werden, ist sehr real, und eine linke Mehrheit gibt es in diesem Land nach wie vor nicht.
5) Wie uns Olaf Scholz ins nächste Russland-Desaster führt
Der Autor beschreibt die Abhängigkeit Deutschlands von den USA in Bezug auf die Sicherheit und stellt die Frage, was passieren würde, wenn die USA ihre Verpflichtungen gegenüber der NATO vernachlässigen. Er erinnert an die "SPIEGEL-Affäre" der 1960er Jahre, als die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr infrage gestellt wurde. Trotz der Bedrohung durch ein aggressives Russland scheint die deutsche Regierung die Sicherheit Deutschlands den USA zu überlassen. Der Autor kritisiert die passive Haltung von Bundeskanzler Olaf Scholz und Angela Merkel in Bezug auf Russland und die mangelnde Vorbereitung auf eine mögliche Zukunft ohne die Unterstützung der USA. Er betont, dass es an der Zeit ist, über eine unabhängige Sicherheitspolitik und mögliche Alternativen zur NATO nachzudenken. Der Artikel endet mit der Frage, wie Deutschland und Europa sich verteidigen können, falls die Amerikaner ihre Unterstützung aufgeben. (René Pfister, SPIEGEL)
k
Resterampe
a) Democrats and the non-South. Wichtiger Punkt.
b) Ich stimme diesem Beitrag zu, dass die Ampel-Blockade eines von der CDU geforderten Untersuchungsausschusses nicht so pralle ist.
d) Der Kulturkampf um die Bundesjugendspiele ist auch wieder so typisch für diesen ermüdenden Unfug.
e) Und die LINKE so: Wir wollen bitte nicht regieren.
f) Die neue Social-Media-Ära: Wie Threads die Spielregeln ändert.
g) Raw data: Biden vs. Trump vs. Obama
i) Journalism is doomed! Journalism is better than ever!
j) The Status Quo Coalition. Mit speziellem Gruß an Thorsten.
l) Der Verfassungsblog hat zwei Artikel zur Legalität der Berliner Enteignungsinitiative.
m) Sorry, aber das ist einfach nur bösartig, pervers, schlichtweg verkommen.
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