Montag, 6. November 2023

Was ist mit der Schule los?, Teil 1: Problemanalyse

 

Bei einem Gespräch mit Bekannten stellte jemand (nicht Lehrkraft) die böse Frage: warum sind die Schulen so schlecht? Die Frage nahm natürlich Bezug auf die zahlreichen Hiobsbotschaften bezüglich des durchschnittlichen Niveaus der Deutschkenntnisse der Schüler*innen in Deutschland, die, höflich ausgedrückt, verbesserungsfähig sind. Besonders die Rechtschreibfähigkeiten stehen seit mittlerweile deutlich über einem Jahrzehnt im Fokus, aber auch bei anderen Kernkompetenzen sind die Werte nicht gut. Beklagt wird auch gerne die Studierfähigkeit, besonders bei Mathematik, wo die Kenntnisse für das erste Semester selbst bei guten Abiturient*innen unzureichend sind. Die Antworten, die man auf diese Frage bekommt, laufen üblicherweise in zwei Richtungen: einerseits werden die Grundschulen verantwortlich gemacht, in denen eine fehlgeleitete Didaktik (Stichwort "schreib wie du es hörst") zu einem Flächenschaden bei der Rechtschreibung geführt habe, und andererseits Menschen mit Migrationshintergrund, die es wahlweise an der richtigen Einstellung vermissen ließen oder aus anderen Gründen zurückfielen. Ich will versuchen, eine eigene Antwort auf die Frage zu geben, inklusive einer Klärung dessen, was die Frage eigentlich ist. Denn das ist gar nicht so einfach, wie man denkt. Aber ich greife vor.

Seit dem ersten PISA-Test 2000 gehören Klagen zum relativen Stand des deutschen Bildungssystems fest zur Diskussion. Passiert ist seither viel und gleichzeitig wenig. Obwohl bereits zwei komplette Generationen Bildungsplanüberarbeitungen durch das System liefen (am baden-württembergischen Gymnasium 2004 und 2016), beständig Forderungen nach neuer Didaktik erhoben werden und offensichtlich reformiert wird, trudelt Hiobsbotschaft um Hiobsbotschaft ins Haus. Die PISA-Studien hoben dabei stets auf die in Deutschland besonders ausgeprägte soziale Schichtung ab: in wenig anderen Ländern hängt der Bildungserfolg so sehr vom Elternhaus ab. Das hat Gründe, auf die wir noch eingehen werden. Die IGLU-Studien zeigten starke Defizite im Grundschulbereich, die vor allem in den Grundfertigkeiten des Lesens und Schreibens sowie der Mathematik (übrigens auch ein Problem bei Erwachsenen) bestanden. Die in jüngerer Zeit hinzugekommenen IQB-Studien zeigen zudem, dass diese Defizite in der Mittelstufe weiter existieren - Ergebnisse, die auch PISA bereits herausgearbeitet haben, die im IQB-Rahmen aber deutschlandspezifischer untersucht werden.

Die Ergebnisse der jüngsten IQB-Studie sind in diesem Interview mit der IQB-Direktorin Stranat gut dargestellt, das ich hier kurz zusammenfassen will:

Der "IQB-Bildungstrend 2022" zeigt einen drastischen Rückgang der Deutschkompetenz von Neuntklässlern in Deutschland. In den Bereichen Lesen, Orthografie und Zuhören gibt es einen signifikanten Rückgang, vergleichbar mit einem Lernrückstand von einem bis zwei Schuljahren im Vergleich zu 2015. Überraschenderweise haben die Schülerinnen und Schüler jedoch in Englisch deutlich zugelegt. Der Leseverstehen stieg um 22 Punkte, das Hörverstehen um 23 Punkte. Die Untersuchung basiert auf mehr als 35.000 Schülern in allen 16 Bundesländern. Besonders negativ sind die Ergebnisse in Deutsch, während in Englisch eine positive Entwicklung festgestellt wurde. Es wird vermutet, dass die verstärkte Nutzung von Englisch außerhalb des Unterrichts während der Pandemie dazu beigetragen haben könnte. Es gibt auch soziale Disparitäten, wobei Kinder aus benachteiligten Verhältnissen größere Rückgänge in Deutsch, aber stärkere Fortschritte in Englisch aufweisen. Der Lehrermangel und die Einwanderung spielen ebenfalls eine Rolle. Die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland entfernt sich weiter vom Ziel, trotz Bemühungen der Bildungspolitik. Es wird betont, dass grundlegende Kompetenzen im Lesen und Schreiben entscheidend sind, und es wird aufgefordert, die Mindeststandards zu sichern und sicherzustellen, dass alle Schülerinnen und Schüler diese erreichen. Das "Startchancen"-Programm wird als Chance betrachtet, wenn es sich auf die evidenzbasierte Förderung grundlegender Kompetenzen konzentriert und wissenschaftlich begleitet wird. Es wird darauf hingewiesen, dass Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Bildungsgerechtigkeit zu verbessern und den Abwärtstrend umzukehren.

Soweit, so schlecht. Wo also liegen genau die Probleme? In Nordrhein-Westfalen, einem der großen Verlierer der Studie, hat ihr Erscheinen zu gegenseitigem Fingerzeigen geführt, das nichts desto trotz einige relevante Punkte enthält. Das Problem ist, dass dieses Fingerzeigen im Politikbetrieb stattfindet und dadurch stark parteipolitisch geprägt ist; die Bildungsmisere wirkt so wie ein Spiegel, in dem die jeweils eigenen Prämissen bestätigt gefunden werden. Dazu kommt, dass die Natur der Bildungspolitik ist, dass sie jede Person irgendwie berührt: entweder war man selbst für dreizehn Jahre Teil des Systems, oder man hat zusätzlich noch eigene Kinder darin (oder kennt wenigstens jemand, der Kinder im System hat). Diese persönliche Erfahrung färbt viele Voreinstellungen zum Thema, da die eigene Identität betroffen ist, und wo Identität betroffen ist, sind Debatten besonders harsch. Dazu kommt noch, dass sich viele Personen für Expert*innen auf dem Feld halten, die qua ihrer persönlichen Erfahrung qualifiziert sind, weitreichende Urteile vorzunehmen. All das kompliziert die Debatte im Vergleich und lädt sie ungemein auf.

Ich habe daher versucht, die wichtigsten Gründe, die in der Debatte immer wieder genannt werden, zu destillieren und so neutral wie möglich darzustellen. Diese Liste ist natürlich nicht erschöpfend, stellt aber erst einmal eine Diskussionsgrundlage dar, damit wir uns überhaupt darin einig sind, was eigentlich das Thema ist. Auf diese Art und Weise kann ich im Folgenden immer wieder auf die Punkte rekurrieren. Ich will daher versuchen, im Folgenden häufig genannte Ursachen zu bündeln, ehe ich Stellung dazu zu beziehen.

1) Die Grundschulen

Ich habe es bereits angeteasert: Die Grundschuldidaktik steht bereits seit vielen Jahren in der Kritik. Ein Schwerpunkt davon ist die Vorstellung, dass das Beibringen von Rechtschreibung zugunsten von freieren bzw. selbstbestimmteren Formen des Lernens funktionieren sollte. Zentral ist hier die Idee, dass die Kinder Schreibhemmungen überwinden sollten, indem sie sich zuerst an das Schreiben gewöhnten und dann seine Regeln verinnerlichten. Bezüglich Mathe gibt es keine solche Theorie; die Defizite hier werden eher im großen zweiten Kritikpunkt subsumiert, nach dem zu wenig Leistungsdruck, zu wenig Verbindlichkeit im System bestünde.

2) Die Migration

Die in den letzten zehn Jahren stark gestiegene Migration nach Deutschland steht hier besonders im Fokus, aber eigentlich liegt das Thema seit den frühen 1990er Jahren auf dem Tablett. Hier gibt es im Endeffekt auch drei Grundströmungen: einerseits, dass viele (aber nicht alle!) migrantischen Communities tendenziell eher bildungsfern sind, was vor allem für die arabischstämmigen Gruppen gilt, andererseits aber das schlichte statistische Phänomen, dass Menschen ohne Deutschkenntnisse wohl die durchschnittlichen Deutschkenntnisse nach unten ziehen werden. Zuletzt sind diese Menschen meist eher in schlechteren soziökonomischen Verhältnissen beheimatet und daher doppelt benachteiligt.

3) Die Ausstattung

Ein Dauerpunkt der Kritik ist die Ausstattung des Bildungssystems. Verrotende Infrastruktur von Toiletten über Klassenzimmerdecken und -wände, fehlende digitale Mittel und so weiter sind kein Faktor, der sonderlich hilfreich ist. Vor allem beim Digitalen fehlt es an allem: funktionierendes WLAN in der erforderlichen Stärke und Geschwindigkeit; nutzbare Endgeräte für alle Schüler*innen; die entsprechende Software; das Personal, das diese Geräte wartet (die Vorstellung, eine Lehrkraft könne dies mit ein bis zwei Deputatsstunden nebenbei bewältigen, ist völlig absurd, siehe auch 5)); und so weiter. All das ist nicht vorhanden.

4) Lehrkräftemangel

Eher in jüngerer Zeit kam der Lehrkräftemangel hinzu. Besonders in den Grundschulen, aber zunehmend auch in allen anderen Schulformen fehlt es an Lehrkräften, vorrangig in den MINT-Bereichen. Dadurch entfallen viele Stunden, während die Qualität des Unterrichts insgesamt leidet. Die Gründe für den Lehrkräftemangel sind Legion: unattraktive Gehälter vor allem für MINT-Absolvent*innen, das geringe Ansehen des Berufs, unattraktive Strukturen, hohe Arbeitszeiten, Stressbelastung, mangelnde persönliche Eignung, fehlende Berufung, mangelnder Idealismus und viele mehr.

5) Verkrustete Strukturen

Die Beamten- und Behördenstruktur der Schulen steht neuen Ansätzen und Lösungsideen im Weg. Der Top-Down-Ansatz einerseits blockiert mögliche gute Ideen, während der Beamtenstatus es schwermacht, Minderleister loszuwerden. Gleichzeitig sind die flachen Aufstiegshierarchien kein Anreiz für MINT-Absolvent*innen, in den Lehrberuf zu gehen.

6) Covid

Die Corona-Pandemie hat mit Schulschließungen, Fernunterricht und sozialer Isolation zu riesigen Lücken bei einer ganzen Generation geführt, die nun Stück für Stück durch das Bildungssystem nach oben wandern. Die Qualität des Fernunterrichts war hundsmiserabel, oft gab es keine Infrastruktur dafür (siehe 3)) und die Kinder und Jugendlichen haben soziale Entwicklungsschritte verpasst.

7) Verweichlichung

Eher von konservativer Seite hört man ein Bündel an Kritikpunkten, das ich etwas plakativ als "Verweichlichung" fassen würde. Es wird den Kindern und Jugendlichen zu wenig zugetraut und abverlangt, der Leistungsgedanke steht zu wenig im Vordergrund, Helikoptereltern mischen sich zu sehr ein und schirmen ihre Kinder von der Realität ab, es gibt eine Epidemie von Diagnosen angeblicher psychischer Probleme und so weiter.

8) Diversifizierung

Quasi das Gegenteil zur Verweichlichungsthese ist die Vorstellung, dass die Kinder und Jugendlichen heute eine wesentlich heterogenere Gruppe darstellen als früher. Der Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani hat das als "Superdiversität" beschrieben. Die in 2) genannte Migration ist dafür ein Grund, durch die die deutsche Gesellschaft diverser wurde, aber auch die Liberalisierung und Individualisierung der letzten Jahrzehnte trugen ihren Teil dazu bei.

9) Soziale Stratifizierung

Der Dauerbrenner bei allen Analysen bleibt natürlich auch noch die Feststellung, dass Bildungserfolg in Deutschland ausschlaggebend vom Elternhaus abhängt. Die Gründe, die dafür angebracht werden, sind Legion, aber es steht fest, dass das Phänomen der Brennpunktschulen, komplett unbeschulbarer Kinder und Ähnliches ein Phänomen ist, das zumindest stark mit sozioökonomischer Benachteiligung korreliert.

10) Veraltete Methoden

Ein seit ebenfalls vielen Jahren moniertes Problem ist die veraltete Methodik. Trotz aller Überarbeitungen (siehe die Grundsatzerklärung hier) ist das lehrkraftzentrierte Modell immer noch der Standard, genauso die Vorstellung, dass homogene Gruppen von Kindern und Jugendlichen homogenen Stoff in homogenen Tests für homogene Ergebnisse abgefragt bekommen. Auch die Prüfungskultur selbst ist veraltet und stellt trotz aller Lippenbekenntnisse das Reproduzieren auswendig gelernten Wissens in den Vordergrund.

Soweit die Faktoren, die von den verschiedensten Seiten als Gründe für die Schulmisere genannt werden. Einige dieser Gründe schließen sich gegenseitig ein wenig aus, andere sind problemlos komplementär; manche sind eher sekundär, andere ursächlich. Ich will versuchen, meine eigene Einschätzung zu geben, inwieweit das alles zutreffend ist oder auch nicht.

Weiter geht es in Teil 2.

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