Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) „Fatales Signal“: Initiative, Anne-Frank-Kita umzubenennen, sorgt für Empörung
Ich finde diese ganze Thematikein Musterbeispiel für beknackte Shitstorm-Diskurse. Der einzige Grund, warum diese Umbenennung so ein Skandal wurde ist die Aktualität des Gazakrieges und weil das Ding in Ostdeutschland liegt und damit Vorurteile erfüllt. Beschäftigt man sich mit der Thematik, macht der Umbenennungswunsch nämlich total Sinn. Es ist allein das Timing, in dem Leute irgendwas reininterpretierten, was da nicht reingehört. Und die Reaktion war der übliche Bullshit. Nicht nur ein Shitstorm in den Sozialen Medien, den kann man als Kita glaube ich ignorieren. Aber Journalist*innen bombardieren die so mit Anfragen, dass sie ihr Telefon ausstecken müssen, und irgendwelche Arschlöcher schreiben Drohbriefe, Beleidigungen und so weiter. Und das ist ja kein Einzelfall, diese Dynamik bricht sich permanent Bahn, völlig ungeachtet jeder politischen Gesäßgeografie. Ich werde auch von Erklärungen, warum sich Anne Frank angeblich nicht eignet, echt nicht überzeugt, das nur nebenbei gesagt. Die Kita hatte einen völlig guten Grund für die Umbenennung, da muss man gar nicht das Riesenfass aufmachen. Das klare Ergebnis ist, dass die Umbenennung jetzt vom Tisch ist. Wenig überraschend.
Der Artikel ist generell empfehlenswert, weil er detailliert die Funktionsweise der höheren Ministerialbürokratie erläutert. Mir scheint, dass die Geschichte vor allem das Funktionieren des Systems belegt. Es gibt keine nennenswerte Korruption innerhalb der Bürokratie. Dass die Parteien ihr Personal zu versorgen suchen, ist zwar unter Gesichtspunkten der Meritokratie und Effizienz der Bürokratie ein Malus; gleichzeitig aber verhindert es in einem gewissen Ausmaß auch Schlimmeres. Denn wenn wir Spitzenpersonal dem Auf und Ab der Wahlentscheidungen unterwerfen, brauchen die auch eine gewisse Aussicht und Sicherheit. Andernfalls erlaubten wir nur reichen und finanziell unabhängigen Menschen, Ämter auszufüllen, und das ist keine gute Idee. Bismarck wusste schon, warum er sich bewusst gegen Diäten entschied; es war ein Weg, die Sozialdemokratie klein zu halten und das Parlament voller Konservativer und Liberaler zu halten. An der Grundregel hat sich nichts geändert.
Zudem muss auch betont werden, dass das keine riesigen Ausmaße annimmt, auch in Thüringen nicht. Die Bürokratie ist überwältigend eine Laufbahnbürokratie, mit relativ wenig politisch besetzten Posten. Die meisten Beamt*innen in den Ministerien arbeiten unabhängig von der regierenden Koalition und setzen deren Direktiven getreulich um. Das ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Das Chaos der transition period in den USA, deren Erfahrungen mit dem so genannten spoils system, bei dem die Wahlgewinner tausende und zehntausende von Posten neu vergeben, waren und sind alle einer gesunden Demokratie nicht zuträglich. Unser System ist alles andere als perfekt, aber ich nehme es sofort vor deren.
Ich halte Kevin Drums Betonung, dass der technologische Fortschritt unzweifelhaft einen Nettogewinn für uns darstellt, für wichtig. Gerade im Umfeld der Degrowth-Bewegung kommen immer wieder gegenteilige Ideen auf, die in meinen Augen eine komplette Sackgasse darstellen. Ich bin was das angeht völlig auf der Linie der FDP: der einzige Weg aus der Misere besteht in mehr Innovation und Technologie, nicht im Versuch, das Rad anzuhalten oder gar zurückzudrehen. Die Aufgabe des Staates kann nur darin bestehen (und hier verlasse ich den Pfad der FDP), die Auswirkungen dieses Wandels abzufedern und seine Richtung mit zu beeinflussen. Aber dass wir den Fortschritt brauchen steht für mich außer Frage, und ich bin auch immer wieder froh, dass die Degrowth-Leute in den Grünen keinen nennenswerten Einfluss haben. Die Globuli-Fraktion ist schlimm genug.
4) Looking at Berlin, Ending up on Capitol Hill
Was wir haben ist wirklich das Aufeinanderprallen einer im Prinzip guten Idee - einer Strukturreform, die zu stabileren Regierungen führt, die ja in der italienischen Politik wirklich ein Desiderat sind - und der Umsetzung als purer power grab, der analog zum Modell der Rechtsautoritären in Ungarn und Polen zu einer semi-dauerhaften Machtsicherung führen soll. Meloni geht es vor allem darum, ihre Position durch eine Verfassungsänderung zu festigen - ein mehr als problematisches Unterfangen in den besten Zeiten, und die haben wir hier wahrlich nicht. Für mich als Nicht-Kenner des italienischen Systems ist aber die von de Petris hier aufgemachte Vergleichsstudie zum deutschen System besonders interessant, weil es die Rolle von Parteien betont. Genauso wie die in Fundstück 2 diskutierte Bürokratie haben die in Deutschland gerne einen schlechten Ruf ("machtversessen und machtvergessen", remember?), aber sie sind für das Funktionieren einer parlamentarischen Demokratie unablässlich - und wir sind da hierzulande wirklich noch gesegnet, was die Funktionsfähigkeit und Verantwortung der demokratischen Parteien angeht, allen Problemen zum Trotz.
5) Did Humans Ever Live in Peace?
Ich erinnere mich noch an die Lektüre von Steven Pinkers "The Better Angels of our Nature" (hier kurz kommentiert), der argumentierte, dass mitnichten eine ständige Verschlimmerung der Gewalt stattfindet, sondern wir stattdessen kontinuierlich auf einem Weg nach vorne in bessere Zustände sind. Rutger Bregman schlug mit "Mankind" (hier etwas ausführlicher kommentiert) in eine ähnliche Kerbe. Generell bin ich immer skeptisch bei der Glorifizierung der Vergangenheit; für gewöhnlich fährt man mit der Daumenregel, dass das Leben früher schlechter war, ziemlich gut. Ich bin allerdings etwas skeptisch, ob uns die anthropologische Forschung hier wirklich viel weiterhelfen kann. Ob Krieg erst später kam oder von Beginn an in unserer Spezies angelegt war, scheint mir eine eher akademische Frage zu sein, die zudem kaum abschließende Klärung finden wird. Wir müssen die Antworten auf dieses Problem im Hier und Jetzt finden, und wenn man Bregman und Pinker Glauben schenken darf, sind wir da ja auf gar keinem so schlechten Weg, allen Hiobsbotschaften aus Ukraine, Gaza und Co zum Trotz.
Resterampe
a) Good news! Kriminologe: Deutlich weniger Jugendgewalt als vor zwei Jahrzehnten (trotz Anstiegs 2022)
b) Die BBC hat einen erschütternden Bericht über die Realität der israelischen Warnungen an die Zivilbevölkerung. Auf der einen Seite einzigartig und bewundernswert, auf der anderen Seite irgendwie völlig pervers und zerstörerisch.
c) Selbstversuch Lehrkräftearbeitszeit.
d) Die FDP isoliert sich im Europaparlament.
e) Die Verbotspartei ist in Hessen dran. Aber keine Bange, die Mutterpartei hat auch gleich noch Arbeitszwang im Gepäck.
f) Spannender Thread zum Thema KI-Rüstungsbeschränkung.
g) Artikel, der den Zusammenhang von Schuldenbremse und Migrationskrise/Aufstieg der AfD beleuchtet. Ich habe so ja in meiner eigenen Artikelreihe auch argumentiert, warne aber davor, das monokausal zu sehen.
h) Hollywood’s Dual Strike Is Over, and the Studios Lost. And a good thing, too.
i) It’s not social media that has polarized us. So true!
j) Ich finde das bedenklich, auch wenn es von Leutheusser-Schnarrenberger kommt...
k) Und diese Umfrage auch bedenklich.
l) Lesenswerter Thread zur Moralität von Außenpolitik. Cuts both ways.
n) How Germans Learned to Stop Worrying and Love the Bomb, Then Probably Start Worrying Again.
o) Nochmal aus dem Kapitel "Wenn man streicht, ist nachher weniger da", Beispiel 2523523
p) Autofahrende werden immer aggressiver.
q) Spannendes Interview zum Thema Kolonialismus und Israel.
r) Interessante Betrachtung der potenziellen Wählendenschaft einer potenziellen Wagenknecht-Partei.
s) Es wäre poetisch passend, wenn die Ampel an Schuldenbremsenunfug scheiterte.
t) Als Nachtrag zu meiner Serie zum Bildungssystem dieser Podcast, den ich nirgendwo sinnvoll passend verlinken konnte.
u) Meinungsfreiheit auf Twitter in a nutshell.
v) Schöner Artikel zum Gatekeeping in der Kunst.
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